Der letzte Citoyen

Mit seiner fünfseitigen Tirade zur Lage der Nation sorgte Lukas Bärfuss (43) für ein gewaltiges Geraschel im Schweizer Blätterwald und löste eine öffentliche Debatte zum Thema Identität aus. 

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Sie nannten ihn «Extremist», «Wutschreiber», «brachialer Katalysator politischer Meinungsbildung», «Genughaber». Er wurde mit Max Frisch verglichen, mit Friedrich Dürrenmatt. Und er sorgte für den wohl kontroversesten Artikel des Wahlherbstes: Lukas Bärfuss.

Am 15. Oktober veröffentlichte der Thuner Autor in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» unter dem Titel «Die Schweiz ist des Wahnsinns» einen Gastbeitrag, der Wellen schlug. Auf fünf Seiten grub Bärfuss eine tiefe Furche in die Schweizer Gesellschaft, Politik, Kulturszene, Finanzwelt, Medienlandschaft und Wirtschaft. Was dabei hervorkam, stank dem 43-Jährigen gewaltig. Ein «Land von Zwergen» sei die Schweiz. Die Medienlandschaft ohne Rückgrat und durchwandert von rechten Parteien. Die Politik mutlos angesichts der Herausforderungen des Wahlkampfs. Die Wirtschaf durch den Einkaufstourismus angeschlagen und die Zivilbevölkerung vor lauter populistischer Parolen verängstigt.

Konkrete Verbesserungsvorschläge lieferte Bärfuss keine; Verallgemeinerungen einige. Bereits am Folgetag der Abrechnung bezogen Tages-Anzeiger und NZZ Stellung. «Bärfuss gebärdet sich, als hätte er den missionarischen Auftrag, die Schweiz vor dem sicheren Untergang zu retten», hiess es da. Über diese mit blinder Wut vorgetragenen Verwünschungen und Vorwürfe liesse sich schwerlich debattieren.

Doch genau das geschah. Von «Weltwoche»-Chef Roger Köppel bis hin zum Oltner Autoren Pedro Lenz war Bärfuss’ Text das Thema der Stunde. Man kann von Lukas Bärfuss halten, was man will. Doch er hat ein Land bewegt, das eine Debatte über die eigene Identität bitter nötig hatte.

(Aus der Serie «Menschen, die uns beeindruckt haben»; erschienen im Migros-Magazin, Dezember 2015. Bild: Frederic Meyer für lukasbaerfuss.ch)

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Ich bin Stefanie

Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Mannes geboren und wusste schon als Vierjährige, dass sie eine Frau ist. Erst nach einem jahrzehntelangen Versteckspiel fand sie den Mut, sie selbst zu sein.

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Dass es nicht so weitergehen konnte, wurde Stefanie Hetjens bewusst, als sie im Zug sass. «Es war ein Donnerstagabend nach einer langen Woche. Ich war sehr, sehr müde. Zu müde, um mich weiterhin zu verstellen.» Das war am 13. September 2012. Sie schrieb ihrer Psychologin, dass sie über etwas reden müsse, das wohl mehr Zeit in Anspruch nehmen werde als üblich, in den 60-minütigen Sitzungen.

Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Jungen geboren – und wusste seit ihrer Kindheit: Ich bin ein Mädchen. Die 32-jährige Werberin wuchs in der Nähe von Düsseldorf auf; seit sechs Jahren lebt und arbeitet sie in Zürich. Ihre Geschichte ist geprägt von Verdrängen: «Schon mit vier Jahren spielte ich die Rolle eines Mädchens. Meine Oma mütterlicherseits sagte: Das darfst du nicht. Du musst aufhören, sofort.» Zehn Jahre lang sprach Stefanie nie wieder über das Thema. Erst mit 14 vertraute sie sich ihrer Mutter an. «Sie sagte, das sei nur eine Phase. Das war schlimm für mich. Heute weiss ich, dass es keine böse Absicht war. Sie hatte wohl einfach nur Angst vor dem Unbekannten.»

Ablenkung und Verdrängung

Innerlich zerrissen, stürzte sich Stefanie Hetjens in die Arbeit. Sie trainierte sich «männliche» Verhaltensmuster an, zeigte sich stark und durchsetzungsfähig. Bis sie sich selbst nicht mehr erkannte. Mit 29 entschied sie sich für die Transition, den äusserlichen Wechsel ihres Geschlechts. Ihr erster Schritt: Kerzen kaufen. «Das war für mich ein enormes Bekenntnis. Ich war so sehr auf die männliche Rolle fixiert gewesen, dass ich solche kleinen, für mich weiblichen Dinge nie getan hätte – aus Angst, aufzufliegen.»

Nach und nach folgten weitere Schritte. Das Coming-out vor den Eltern sei am schwierigsten gewesen, sagt sie, denn als sie ihr gespieltes Ich hinter sich liess, verlor die Familie einen Sohn. «Eltern müssen sich Zeit zum Trauern nehmen. Erst dann können sie ihre neue Tochter willkommen heissen. Ich glaube, mein Verhältnis zu meiner Mutter ist jetzt besser. Wohl auch, weil es gut ausgegangen ist, weil ich jetzt ich selbst bin.» Ihr Vater habe sie sofort akzeptiert. «Vielleicht hat ihn meine Grossmutter beeinflusst. Sie rief mich trotz Demenz kein einziges Mal beim alten Namen – ich war einfach ihre Enkelin.»

Kein Einzelfall

Hetjens Geschichte ist nicht so einzigartig, wie man vermuten könnte. Holländische Forscher haben herausgefunden, dass einer von 200 Menschen sich nicht heimisch fühlt im Körper, in dem er geboren wurde. In der Schweiz dürften es demnach etwa 40 000 Betroffene sein. «Wer in der Schweiz sein neues Geschlecht im Pass vermerkt haben will, braucht die Bestätigung der Diagnose Transsexualität», sagt Udo Rauchfleisch. Der klinische Psychologe und Psychotherapeut hat sich auf das Gebiet Transsexualität spezialisiert und zahlreiche Publikationen zum Thema geschrieben. «Viele Zivilgerichte verlangen bei Transmenschen immer noch Gebär- und Zeugungsunfähigkeit, ehe sie die Änderung des Personenstandes erlauben.» Sofern ein medizinisches Gutachten vorliegt, übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Operation; zum Teil wird das Mindestalter 25 verlangt. «In meinem Pass steht noch mein alter Name. In Deutschland brauchst du für die Änderung des Vornamens zwei Atteste von Psychologen. Diese offizielle Bestätigung ist totaler Schwachsinn», sagt Stefanie Hetjens.

Auch sonst müssten Transmenschen einiges preisgeben. Eine ständige Gratwanderung, auch für Stefanie: «Wie viele Infos muss ich teilen, damit ich verstanden werde? Wer ist bloss neugierig, wer interessiert sich wirklich für mich? Diese Fragen stelle ich mir ständig.» Schwierig werde es, wenn Leute beispielsweise ungeniert fragten, mit wem sie schlafe. «Das geht keinen etwas an.»

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Laut einer Studie der University of California haben 41 Prozent der Transmenschen in den USA einen Suizidversuch hinter sich. Hoffnungslosigkeit kennt auch Stefanie Hetjens. Verschwunden sei diese erst, nachdem sie sich für die Geschlechtsangleichung entschieden hatte. «Man muss sich im Klaren darüber sein, dass einiges auf einen zukommt. Ich habe mir damals überlegt, ob meine Selbstverwirklichung es wert ist, den Job zu verlieren oder auf der Strasse ständig angestarrt zu werden. Ich habe mich entschieden, dieses Risiko einzugehen.»

Seither steht Hetjens eine spezialisierte Psychologin zur Seite. Auch die Hormontherapie läuft. «In der Regel wird Testosteron geblockt und Östrogen hinzugefügt», sagt Udo Rauchfleisch. Östrogen fördert das Brustwachstum und strukturiert den Fettanteil im Körper um: Die Hüfte wird breiter, die Gesichtszüge verlieren das Kantige. Auch Stefanie Hetjens bemerkt gewisse Veränderungen: «Seither rieche ich beispielsweise anders, und ich habe eine zartere Haut.» Zudem verändern sich die Geschlechtsorgane. Viele sind bereits nach der Hormoneinnahme zufrieden und lassen keine geschlechtsangleichende Operation vornehmen. Andere wünschen dennoch einen Eingriff. «Dabei wird aus dem Penisgewebe eine künstliche Vagina erstellt. Diese muss dann ständig gedehnt werden, damit die Öffnung nicht zuwächst. Für die Empfindungsfähigkeit versetzt man Nerven der Eichel in die neue Klitoris», erklärt Udo Rauchfleisch.

No big deal

Angst ist Hetjens‘ ständige Begleiterin. Heute ist es die Angst, dass die Haare nicht dicht genug wachsen. Früher war es die Angst vor dem Karriere-Ende. Eine unbegründete Sorge, wie sich herausgestellt hat: «Mein damaliger Chef unterstützte meinen Weg zum Glück. Und im neuen Team bin ich einfach Steffi.» Ihr lockerer Umgang mit dem Thema macht vieles einfacher: «Ein Schulfreund schrieb mir einmal, er habe jetzt eine neue Adresse. Ich antwortete und sagte, ich hätte jetzt ein neues Geschlecht.»

Ihr Dating-Alltag sei nicht weniger kompliziert und nicht weniger einfach als bei anderen. Manchmal müsse sie ihr Gegenüber halt ein wenig aufklären. Dass sie trotz ihrer breiten Schultern und der 193 Zentimeter Körpergrösse gut als Frau durchgeht, erleichtert ihr Leben sehr. «Gestern war ich beim Take-away. Die Kassiererin sagte bloss: ‹Sie sind aber eine grosse Frau!›»

Unterstützung und Infos liefert das Transgender Network Switzerland: www.tgns.ch

(Erschienen im Migros-Magazin, Dezember 2015. Bild: Mara Truog)

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Überleben im Haifischbecken

Im November wurde ich von den «Jungen Journalisten Schweiz» für ein Input-Referat zum Thema Journalismus und Karriere angefragt. Gehalten habe ich es am Medienforum «Journalismus Jetzt».

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«Der Journalismus ist die Hölle. Der Journalismus ist ein Abgrund, in dem alle Lügen und alle Ungerechtigkeiten lauern. Niemand bleibt rein, der ihn durchschreitet.»

Das sagt zumindest Honoré de Balzac. Ich arbeite seit fünf Jahren in Zürich als Journalistin und bin heute hier, um euch zu sagen, dass man auch journalistisch überleben kann, ohne ein zynisches Arschloch zu werden.

Mit 20 zog ich vom Berner Oberland in die Zürcher Grossstadt, um bei tilllate.com als Nightlife-Journalistin anzufangen. Die vier darauffolgenden Jahre waren eine einzige Eskapade aus Sex, Drinks und journalistischem Rock’n’Roll. Ich traf Popstars, wurde auf fancy Pressereisen geschickt, schrieb über Jugendkultur und One-Night-Stands, landete mit meinen Texten auf Titelseiten und stand auf jeglichen Gästelisten der Zürcher Cüpli-Events.

Ich verabschiedete mich von meiner Work-Life-Balance, arbeitete Nächte durch, feilte sorgfältig an meinem Image als Enfant Terrible, scharrte ein illustres Netzwerk um mich, baute mit einem Kollegen die tilllate.com-Redaktion auf, arbeitete bei Edipresse in Lausanne, bloggte von Paris aus, machte den Event-Teil des Friday Magazines und schrieb für 20 Minuten.

Irgendwo dazwischen versuchte ich, so etwas wie erwachsen zu werden. Es war die Zeit meines Lebens. Bis auf einen kleinen Haken.

Mit 24 merkte ich, dass ich eigentlich kein Leben, keine Hobbys und keine regelmässigen Kontakte ausserhalb der Branche mehr hatte. Und nachdem ich während vier Jahren über so ziemlich jedes Web-Phänomen und One-Hit-Wonder berichtet hatte, gingen mir langsam die Ideen aus. Ich wurde selbstreferenziell. Ich verlor jeglichen Kontakt zur Aussenwelt und schrieb nur noch für meine Peer-Group, meine Bubble, mein soziales Netzwerk.

Ich wusste: so kann das nicht weitergehen. Da machte ich den ersten grossen Fehler meiner Karriere. Ich informierte meine Vorgesetzten darüber, dass ich mich nach einem neuen Job umschaue. Loyalität und so. Drei Wochen später wurde ich entlassen. Die Einladung dazu kam am Vorabend um 21 Uhr per Mail. Das Lernen begann:

Lektion 1: Du bist nicht unersetzbar.

Lektion 2: Am Ende des Tages sagt dir niemand danke.

Lektion 3: Gute Arbeit und Ehrlichkeit zahlen sich nicht immer aus.

Meine Reaktion: Fuck this shit, I’ll be a princess. Also zog ich kurzerhand nach Frankreich in ein 600 Jahre altes Schloss, um bei einem leicht hippiemässigen Renovations-Projekt mitzuarbeiten. Inmitten der Burgunder Pampa taten sich neue Welten auf. Ich lernte Menschen kennen, deren Lebensentwürfe so gar nichts mit 9to5-Job, monogamen Beziehungsformen oder festem Wohnsitz zu tun hatten. Ich sass während vier Monaten mit meiner Grossfamilie abends um ein Lagerfeuer, trank Wein und sprach über Gott, die Welt ohne ihn und das Big Picture. Das echte Leben halt.

Etwa zu dieser Zeit wurde ich Feministin. Warum, kann ich bis heute nicht sagen. Es gab nie so etwas wie eine Initialzündung. Jedoch denke ich, dass Medienhäuser mit ihrem konstanten Sexismus ein ziemlich guter Nährboden für feministische Keime waren. Mein erster Beitrag, eine kleiner Retrospektive über meine «Journey To Feminism», wurde über tausend Mal gelesen und über 300 Mal auf Facebook geteilt.

Lektion 4: Wenn du dich wirklich für etwas begeisterst, wenn du dir wirklich Mühe gibst und wenn du den Mut hast, das Kind beim Namen zu nennen, dann hören dir in der Schweiz ziemlich viele Leute ziemlich schnell zu.

Kurz darauf holten mich die Jungs vom Openair Frauenfeld zurück in die Schweiz, um mich im Kommunikationsteam anzustellen. Irgendwann war auch dieser Spass vorbei. Und dann wurde es Herbst. Ich dachte eigentlich, gute Chancen auf eine rasche Anstellung zu haben. Die Realität war anders.

Lektion 5: Es gibt aus finanziellen Gründen wenige gute Jobs im Journalismus.

Lektion 6: Auch das beste Netzwerk wird dir nicht deine Karriere retten. Dafür musst du schon selber arbeiten.

Lektion 7: Manchmal muss man etwas Geduld haben.

Damals war ich ziemlich weg vom Fenster und die Einladungen zu all den tollen Events blieben aus. Ich hockte zuhause rum und schaute zu, wie mir langsam die Decke auf den Kopf fiel. Was geholfen hat? Schreiben, schreiben, schreiben. Auch wenn ich die meisten Texte aus dieser Zeit nie veröffentlicht habe.

Stephen King sagte mal: «Writing isn’t about making money, getting famous, getting dates, getting laid, or making friends. In the end, it’s about enriching the lives of those who will read your work, and enriching your own life, as well. It’s about getting up, getting well, and getting over. Getting happy, okay? Getting happy.»

Ich fand schliesslich einen Job als Lifestyle-Redaktorin bei einem kleinen Verlag und konnte meine Miete wieder bezahlen. Nachdem ich jedoch beim besten Willen nicht dazu fähig war, einen Lead über für mich triviale Dinge wie Etagèren zu schreiben, wusste ich, dass ich am falschen Ort bin.

Zwei Wochen vor den Aufnahmeprüfungen schrieb ich mich für die Journalistenschule MAZ ein und bewarb mich beim unspektakulären stillen Riesen namens Migros-Magazin. Ich brauchte Boden unter den Füssen und Fleisch am Knochen. Von Prestige hatte ich genug.

Ich büffelte Tag und Nacht, wälzte Geschichtsbücher, repetierte Recht, vergrub mich in Wirtschaftsnews, brachte mein Staatskunde-Wissen auf Vordermann und erstellte Listen zu Literaturklassikern und anderen möglichen Allgemeinwissens-Fragen. Nebenbei bloggte ich fleissig weiter. Ich hörte damit auf, Everybody’s Darling sein zu wollen, und entwickelte das, was man gemeinhin als Charakter bezeichnet.

Und dann kam alles gut. Ich bestand die Aufnahmeprüfung am MAZ und wurde beim Migros-Magazin angestellt. Meine Chefin überzeugten meine guten Noten und das selbstständige Auftreten; der Chefredaktor fand womöglich, dass seine Redaktion eine Unruhestifterin vertragen würde.

Für mich war das unglaublich wertvoll: Nicht jedes Medienhaus mag es, wenn junge Journalistinnen ihre Meinungen vertreten. Zudem sind Vorgesetzte, die einen unterstützen, und ein Team, das einem Erfolge gönnt, unglaublich rare Güter. Mein jetziger Job ist so ziemlich das Gegenteil von früher: Ich habe den Freiraum, an langen Reportagen und Porträts zu arbeiten. Auf der anderen Seite liegt der Glamour-Faktor etwa bei Null. Und das ist auch gut so.

Ich habe Zeit, mich um die wichtigen Dinge zu kümmern und eine gute Journalistin zu werden. Was das für mich heisst? Die Wahrheit schreiben. Auch wenn sie weh tut. Kritisch sein und Dinge hinterfragen. Absagen nicht kampflos hinnehmen. Akzeptieren, dass man ein fehlbarer Mensch ist. Und schliesslich: Etwas verändern. Als Journalistinnen und Journalisten erreichen wir mit unseren Stimmen ein enormes Publikum. Aber: With great power comes great responsibility.

Ich für meinen Teil hatte mein Kampffeld gefunden. In einer Nacht und Nebel Aktion verfasste ich vor rund einem halben Jahr einen offenen Brief an die Blick-Chefredaktion und prangerte den konstanten Sexismus des Blattes an. Das Ding zu veröffentlichen war das furchteinflössendste, was ich jemals gemacht habe. Ich wusste: Die Karriere-Türe zu Ringier hatte ich womöglich zugeschlagen.

Und dann geschah das unglaubliche: Mein Text wurde 45 000 Mal gelesen, mehrere tausend Male geteilt und schaffte es bis auf den deutschen Bildblog. Es hat sich herausgestellt: In Zeiten wie diesen, in denen fast alle Redaktionen (auch an Qualität) sparen, braucht es Journalistinnen und Journalisten mit Haltung.

Lektion 8: Seid kritisch. Seid mutig. Macht nicht alles, was von euch verlangt wird.

Lektion 9: Bringt euch in Sitzungen ein. Traut euch was. Feiglinge gibt es genug. Wir sind die Zukunft. Und das Modell der Redaktions-Dinosaurier scheint ja nicht wirklich funktioniert zu haben.

Einfach ist das nicht. Journalismus ist ein Haifischbecken geworden. Shitstorms und Neid gehören zum Alltag. Man gönnt einander wenig. Zu viele Journis wurden Maschinen, die mit Koffein und Nikotin betrieben werden. Und einige Redaktionen wurden unter all dem finanziellen Druck zu journalistischen Verrichtungsboxen.

Man könnte sich dem anpassen und ebenfalls zum fluchenden Hypochonder mit Röhrenblick mutieren. Oder man macht es besser und arbeitet an sich selber. Don’t let people rain on your parade. Es braucht dringend gute Leute. Und es braucht alle Charaktere – auch die sensiblen. Das merkt früher oder später auch die Leserschaft.

Zum Schluss Lektion 10: Sobald ihr einen guten Job macht, wird es ziemlich sicher Gegenwind geben. Die schlechte Nachricht: Das wird nicht besser werden. Die gute Nachricht: Ihr werdet besser werden.

Ich wünsche euch alles Gute für euren Weg im besten Job der Welt.

(Illustration: Tobias Maurer)

Der Text wurde in der Rubrik «Frisch ab Presse» der Medienwoche aufgeführt.

Zudem ist er im Dossier «Journalistische Praxis» des Medienmonitors hinterlegt.

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Carla Del Ponte: «Mein Golf-Handicap ist nicht unter 20 – daran ist Syrien schuld»

Als Uno-Chefanklägerin machte sie acht Jahre lang Jagd auf Kriegsverbrecher. Seit September 2012 untersucht sie Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Carla Del Ponte über den Kampf gegen einen hoffnungslosen Krieg und ihr Engagement für mehr Menschlichkeit.

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Carla Del Ponte, am 15. Oktober haben Sie den von der Tertianum-Stiftung verliehenen Preis für Menschenwürde erhalten. Was machen Sie mit den 10 000 Franken Preisgeld?
Das Geld verwende ich für ein Schulprojekt in der libanesischen Bekaa-Ebene, wo die ärmsten Flüchtlinge aus Syrien leben. Man darf nie vergessen: In Syrien wächst eine verlorene Generation heran. Der Preis ist eine besondere Ehre, weil es die erste Auszeichnung ist, die ich in der Schweiz erhalten habe. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Der Anlass bot mir zudem die Gelegenheit, über Syrien zu sprechen.

Die Uno hat zum vierten Mal Ihr Syrien-Mandat verlängert. Was nützt Ihre Arbeit der syrischen Bevölkerung?
Seit September 2012 untersuche ich als Mitglied der unabhängigen Syrien-Kommission der Uno Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im syrischen Bürgerkrieg. Die Kommission schreibt alle sechs Monate einen Bericht zuhanden des UN-Menschenrechtsrats und des UN-Sicherheitsrats. Normalerweise interveniert der Sicherheitsrat nach dem ersten Bericht. Doch hier ist er blockiert, denn Russland hat das Veto eingelegt und einen Resolutionsentwurf zur Zuweisung des Falls an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag verweigert. Wir waren sogar vor dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung in New York. Ich habe alle meine Beziehungen genutzt. Doch es geschieht nichts. 2012 sagte die Schweizer Regierung, mein Mandat würde sechs Monate dauern – nun sind wir im vierten Jahr.

Ist der Konflikt in Syrien überhaupt lösbar?
Jeder Konflikt ist lösbar. Die Frage ist bloss, wann. Der Flüchtlingsstrom nach Europa erhöht den Druck, einen schnelleren Weg in Richtung Frieden zu finden. Ich persönlich finde es gut, dass Russland interveniert und mit militärischen Aktionen gegen terroristische Gruppen wie den Islamischen Staat (IS) oder die Al-Nusra-Front vorgeht. Es ist jetzt besonders wichtig, dass Russland mit den USA ein Abkommen darüber schliesst, wie der Krieg gegen den IS durchgeführt werden soll. Wenn die terroristischen Gruppen vernichtet sind, wird es einfacher sein, eine politische Lösung zu finden. Um Frieden zu erzielen, muss man sich mit dem institutionellen Präsidenten zusammensetzen – in diesem Fall mit Assad. Doch die USA wollen nicht mit ihm verhandeln. Und mit terroristischen Gruppen kann man erst recht nicht verhandeln. Also geht der Krieg weiter und fordert Tausende von Menschenleben. Bis jetzt gibt es über 200 000 Tote und 11 Millionen Vertriebene.

Einige halten Assad für das kleinere Übel als die Söldner des IS.
Assad steht derzeit nicht mehr im Mittelpunkt. Was der IS macht, ist strafrechtlich gesehen schlimmer. Doch auch Präsident Assad muss «kriminelle Verantwortung» übernehmen.

Was kann die Schweiz in diesem Konflikt tun?
Direkten Einfluss kann sie natürlich nicht ausüben, dafür ist sie zu klein. Aber sie hat die nötigen Ressourcen und das nötige Wissen, um Hilfe im humanitären Bereich leisten zu können.

Eigentlich wären Sie pensioniert. Was treibt Sie an?
Wir machen etwas Wichtiges. Wir haben eine grosse Datenbank mit Beweisen und arbeiten weiter in der Hoffnung, dass diese Arbeit irgendwann zu mehr Gerechtigkeit führen wird. Ich muss das tun. Ich bin die Einzige in der Kommission, die Erfahrung im Ermitteln hat. Die anderen sind Professoren. Zudem stehen 14 Personen zur Verfügung, die wir für Ermittlungen in die Nachbarländer schicken können. Solange ich dabei bin, weiss ich, dass die Kommission gute Arbeit leistet.

Wie ermitteln Sie? Sie reisen ja nicht persönlich nach Syrien.
Wichtig sind Befragungen von Flüchtlingen. Wir reisen in die Nachbarländer und versuchen, so viele objektive Zeugeneinver-nahmen wie möglich durchzuführen, um Beweise zu sammeln. Via Skype und Telefon stehen wir in Kontakt mit Zeugen in Syrien. Ausserdem erhalten wir Dokumentationen von verschiedenen Staaten oder stützen uns auf Informationen von Nichtregierungsorganisationen.

1999 wurden Sie Uno-Chefanklägerin. Wie war das damals?
Für unsere Aussenpolitik war eine Schweizer Kandidatur gut. Ruth Dreifuss, die damalige Bundespräsidentin, und Uno-Generalsekretär Kofi Annan wollten unbedingt, dass ich den Posten annehme. Ich jedoch wollte zuerst einen wichtigen Prozess abschliessen. Natürlich musste ich schliesslich zusagen und den Fall abgeben.

Als Chefanklägerin waren Sie unter anderem für das ehemalige Jugoslawien zuständig. Radovan Karadžić und Ratko Mladić konnten Sie nicht festnehmen; Slobodan Milošević starb während des Prozesses. Schmerzen Sie diese Niederlagen heute noch?
Nein. Natürlich war ich anfangs wütend. Aber an solchen Dingen darf man sich nicht aufhängen – man muss sich an guten Dingen festhalten. Zudem stehen Karadžić und Mladić mittlerweile vor Gericht und werden ohne Zweifel zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.

Nach Ihrer Zeit in Den Haag waren Sie Botschafterin in Argentinien. Sie gelten jedoch als kompromisslos − keine optimale Voraussetzung für einen Posten in der Diplomatie.
Ich bin ehrlich und sage immer die Wahrheit. Das war schon immer so. Als Botschafterin habe ich gelernt, diplomatisch zu sein. Und ich hatte einen guten Stellvertreter, der sich um den Papierkram kümmerte. Bei der Kommunikation mit Bern war schon ein Komma zu viel oder zu wenig ein Thema – dafür hätte ich keine Energie gehabt. Seit sieben Jahren war man damit beschäftigt, über Rechtshilfe in Strafsachen zwischen der Schweiz und Argentinien zu verhandeln – ich habe den Vertrag innert weniger Monate durchgepeitscht. Das war mein Fachgebiet.

War Ihnen die Arbeit dort nicht zu langweilig?
Nein, ich konnte viele spannende Arbeiten erledigen. Zudem stand ich in engem Kontakt mit der Präsidentin von Argentinien, ich arbeitete mit den dortigen Staatsanwälten zusammen oder hielt Vorträge an Universitäten. Und an freien Wochenenden spielte ich fleissig Golf.

Ihr Handicap soll noch immer nicht unter 20 sein.
Nein, daran ist Syrien schuld! Ich wäre schon längst unter 20, wenn ich mehr Zeit hätte.

Nebst dem Golfsport mögen Sie auch Bridge, ausserdem schnelle Autos, Schmuck und teure Handtaschen: Haben Sie überhaupt genug Zeit, um all diese Dinge geniessen zu können?
Jetzt, da ich eigentlich pensioniert bin, schon eher. Aber ich halte nebenbei immer noch einige Vorträge. Meinem Agenten habe ich gesagt: Noch das nächste Jahr, dann basta. Ich möchte einen Roman schreiben, einen Krimi.

Haben Sie schon damit angefangen?
Das Golfen, meine Enkelkinder und Syrien halten mich auf Trab. Aber ich habe bereits einen Titel für das Buch und viele Ideen; ich habe ja Erfahrung mit Kriminalität. Die Geschichte wird in der Schweiz spielen und natürlich auch auf internationalem Parkett. Mal schauen, ob ich Zeit dafür finde.

Apropos Schauplatz Schweiz: Solange bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative keine Lösung in Sicht ist, bleiben auch andere Dossiers liegen. Nun soll Jacques de Watteville als EU-Chefunterhändler der Schweiz in Brüssel die Verhandlungen koordinieren. Was halten Sie davon?
Als Chefanklägerin des Internationalen Gerichtshofs ging ich oft nach Brüssel. Dort gibt es eine grosse europäische Karte mit einem winzig kleinen, weissen Punkt … Die Schweiz muss sich entscheiden, ob sie draussen bleiben will oder nicht. Wir können nicht bloss die Vorteile geniessen. Früher oder später muss die Schweiz der EU beitreten. Wir müssen mitreden. Aber ja, ich bin eine Schweizerin im Ausland, und die Situation ist sehr verzwickt.

Stichwort verzwickt: Hatten Sie nie Interesse, der Fifa auf die Finger zu schauen?
Wissen Sie, vor zwei oder drei Jahren fragten mich die Amerikaner, ob ich der Fifa-Kommission beitreten wolle. Sie sagten, sie bräuchten mich. Ich sagte Ja, aber es kam dann doch nicht so weit. Mittlerweile verstehe ich, warum … Umso wichtiger ist es, dass die Bundesanwaltschaft in dem Fall nun ermittelt.

Als Sie gegen die Mafia ermittelten, standen Sie unter ständiger Lebensgefahr. Wie gingen Sie damit um?
Nun, das ist kein Zustand, der von heute auf morgen eintritt. Man kann sich anpassen. Natürlich brauchen wir Sicherheitsleute. Doch ich habe immerhin das 68. Lebensjahr erreicht – bis jetzt habe ich alles überlebt. Also machen wir weiter! Ich bin Fatalistin: Wenn ich eines Tages durch ein Attentat sterbe, dann soll es um Gottes Willen so ein. Wenn es nicht passiert, umso besser.

1989 entgingen Sie im Ferienhaus auf Sizilien nur knapp einem Sprengstoffanschlag.
Ja, ich erinnere mich noch genau. Zuerst denkt man natürlich ans Aufhören. Drei Jahre später wurde mein Freund, der italienische Richter Giovanni Falcone, getötet. Wenn so etwas geschieht, hat man Angst und denkt: basta! Aber mit der Zeit wägt man Pro und Kontra ab und entscheidet sich anders. Jemand musste die Arbeit ja fortsetzen.

Ihrem Vater wäre es lieber gewesen, Sie hätten geheiratet und ihn keine Studiengelder gekostet. War das Jurastudium eine Trotzreaktion?
Er hatte schon drei Söhne, die an der Universität studierten. Er verstand nicht, warum ich auch noch studieren wollte, wenn ich später doch ohnehin heiraten und die Arbeit aufgeben würde. Zuerst wollte ich Medizin studieren, doch das hätte 8 Jahre gedauert. Also habe ich mich für Recht entschieden, da dieses Studium nur 4 Jahre dauert. Es war sozusagen ein Kompromiss. Mein Vater war später natürlich stolz auf mich. Gesagt hat er es allerdings nie.

In Ihrem Buch «Im Namen der Anklage» beschreiben Sie Ihre Mutter als selbstbewusste Frau mit einem freien Geist. Sie betreute Ihren Sohn wochentags. Inwiefern hat Sie das beeinflusst?
Meine Mutter hat mich enorm geprägt. Sie sagte, dass man, wenn man im Recht sei, dieses verteidigen müsse. Und dass man Kraft habe, solange man der Wahrheit treu bleibe. Sie hatte einen starken Charakter – wie alle in unserer Familie.

Sie sagen, Ruanda hätte Ihr Vertrauen in die Menschheit erschüttert.
Ich besuchte dort die Ntarama-Kirche, wo am 15. April 1994 rund 5000 Zivilisten getötet worden waren. Heute ist es eine Grabstätte voller Knochen. Bei meinem Besuch war dort kein Leben mehr. Als ich die Massengräber sah, begann ich innerlich bereits mit der Arbeit. In Gesprächen mit Angehörigen der Opfer oder mit Überlebenden spürt man jedoch, welches Leid diesen Menschen widerfahren war. Das lässt keinen kalt. Auch die Frauen von Srebrenica werde ich nie vergessen. Eine Frau erzählte mir, dass sie vor ihren drei Kindern vergewaltigt worden war und anschliessend zusehen musste, als diese getötet wurden. Das immense Leid dieser Mutter und wie sie weiterleben kann, kann man sich nur schwer vorstellen. Darum müssen Kriegsverbrecher verurteilt werden – als Genugtuung für die Opfer.

Sie haben Grausames gesehen. Hat das Ihren Glauben verändert?
Meinen Glauben und meine Arbeit habe ich immer getrennt. Glauben ist kompliziert genug.

(Erschienen im Migros-Magazin, Oktober 2015. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Reto Wild. Bilder: Gian-Marco Castelberg)

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Vollblutromantiker

René Groebli ist einer der wichtigsten Schweizer Fotografen. Die Aufnahmen von seiner Frau Rita machten den «Vollblutromantiker», wie er sich selber bezeichnet, weltbekannt. Nun erschien ein Bildband mit frühen Werken des Visionärs.

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René Groebli (87) ist einer, der die Welt gesehen hat. Seine Reportagen führten den Zürcher Fotografen zum ersten Kaiser von Äthiopien, zu palästinensischen Flüchtlingsunterkünften in Jordanien und ins Bett von wohl so manch schöner Frau. Zurückgekehrt ist er aber immer – in die Schweiz, wo er am 9. Oktober 1927 als Sohn eines Prokuristen zur Welt kam, und in die Arme der Liebe seines Lebens, Rita. Seine Werke wurden von Toulouse bis Tarazona, von New York bis Berlin und von der Hippiestadt San Francisco bis in die Stadt der Liebe gezeigt. In der Darstellung von Bewegung durch Unschärfe, die unter anderem in den Bildbänden «Magie der Schiene» zu sehen ist, war er ein Pionier. Seine bahnbrechenden Techniken der Farbfotografie erlangten internationale Beachtung, er wurde «Master of Color» genannt.

René Groebli lebt in Zürich Wollishofen. Betritt man sein Reich, steigt man zuerst durch einen ebenerdigen Türrahmen, es folgt ein schmaler Gang zur Terrasse, links eine Treppe nach unten, sonst nichts. «Hier unten! Willkommen, willkommen!», ruft Groebli.

In seinem Reich

Die Decke des Tiefparterres ist mit dunklen Platten ausgekleidet, auf den Regalen stapelt sich Fach- über Weltliteratur, dunkle Ledersessel laden zum Verweilen ein, die selbst gebaute Küche ist detailverliebt eingerichtet. Hier stehen alte Lampen, dort Relikte aus anderen Kulturen, dazwischen goldene Figuren, frische Blumen, Teekannen aus Zinn, glitzernde Kristallkaraffen. Über dem Esstisch scheint helles Tageslicht herein, es beleuchtet die Hortensien, die vor dem Fenster blühen. Und mittendrin steht René Groebli: violettes Hemd, violette Brille, violette Uhr, farbige Turnschuhe und grasgrüne Hosen. Seine weissen Locken und die blauen Augen leuchten im Licht. «Ich war früher mal der Master of Color der Fotografie, heute mache ich das mit meiner Kleidung», sagt er.

René Groebli war 18 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Damals machte er mit einer zweiäugigen Rollei seine allerersten Aufnahmen, und zwar vom morgendlichen Nebel über der Limmat. An seiner Konfirmation verkündete er vor seiner Familie, dass er die Schule verlassen und zum Film gehen oder Fotograf werden möchte. «Der Vater war natürlich völlig dagegen. Der Grossvater beschloss dann, die Mamma solle mit dem Bub mal in die Berufsberatung.» Dort habe man gesagt, der Träumer solle keinen Tag länger in die Kantonsschule. Doch Hans Finslers Fachklasse für Fotografie an der Zürcher Kunstgewerbeschule (der heutigen Zürcher Hochschule der Künste) sei nicht sein Ding gewesen, sagt Groebli. «Die neue Sachlichkeit war nicht meine Art. Ich war ein Vollblutromantiker. Bewegung, Stimmung, Emotionen – das hat mich interessiert.»

Le Corbusier (1955)

Der erste Job und die erste Liebe

In den Sommerferien durfte er an einem Dreh der Central Film für einen SBB-Werbespot mitarbeiten. «Ich habe mich so sehr eingesetzt, als ob ich dort bereits arbeiten würde.» Nach Drehschluss habe der Direktor ihn gefragt, ob er Lust hätte, bei ihm zu bleiben. Aber der Vater habe eisern auf einem Lehrvertrag bestanden. «Also ging ich auf eigene Faust zum Lehrlingsamt. Die haben gelacht und gesagt, es gäbe gar keine Lehre als Filmkameramann. Ich sagte: ‹Doch, doch, die gibt es, ich habe jetzt eine Lehrstelle.› Also haben wir einen Vertrag gebastelt, mit dem ich dann zurück zur Central Film ging.» So wurde René Groebli 1948 der erste offiziell ausgebildete Kameramann der Schweiz.

Auch später noch musste der Visionär für sich und seine Arbeit zuweilen etwas Überzeugungsarbeit leisten. «Als ich in den 50er-Jahren mit meinen Eisenbahnaufnahmen kam, wurde ich schräg angeschaut. Selbst die Zeitschrift ‹Du› wollte das nicht publizieren. Es seien alles verwackelte Aufnahmen, sagten sie.» Sein unverwechselbarer Stil wurde dennoch weltbekannt. Unvergessen bleiben die Bilder «Das Auge der Liebe», die Serie, die während der Hochzeitsreise mit seiner Frau Rita in einem Pariser Hotel entstand. Seine grosse Liebe hat er an der Kunstgewerbeschule getroffen. «Ich war 16 Jahre alt und eher spätreif. Rita war damals bereits 20 und hat wunderbar gezeichnet. Ich habe sie endlos bewundert.» Sie sei die toleranteste Frau der Welt gewesen. «Sie fand, dass ein Mann, der kreativ arbeitet, nicht hundertprozentig monogam sein könne.» Nach ihrem Hirnschlag pflegte er seine Frau. Tagein, tagaus. 68 Jahre Liebe. Bis zum Ende.

600 Fotos bleiben

Das gemeinsame Haus wurde 1955 erbaut. Ab dieser Zeit war Groebli vor allem in der Werbung tätig. Nach einigen letzten Reportagen in London, im Nahen Osten und in Afrika nahm er 1953 für Hoffmann-LaRoche den ersten Industrieauftrag an. «Die hatten noch gar keine Werbeabteilung. Aber der Direktor fragte mich, ob ich für sie fotografieren möchte. Denn sie ­wollten etwas Modernes. Da bin ich natürlich nach Basel gesprungen!» Denn herumreisen wollte er nicht mehr. Bald darauf gründete er ein eigenes Fotostudio für Werbe- und Industriefotografie. Letztes Jahr hat er sein Archiv aufgeräumt. Dennoch stapeln sich immer noch deckenhoch die Kisten, überall stehen Becher gefüllt mit ungespitzten Bleistiften herum, es riecht nach Karton. Eine Entwicklerlösung reiht sich auf den Regalen an die nächste. Die Fotografien füllen den Raum mit endlosen Geschichten. Bloss 600 Negative hat Groebli der Genfer Auer Photo Foundation vermacht, der Rest wird vernichtet: «Was ich für gut halte, habe ich heraus­gegeben.» 2002 schoss er in seinem Haus in den Vogesen die letzte Fotoserie.

«René Groebli – Early Work», 1945–1955, wurde beim Verlag Sturm & Drang herausgegeben und ist für Fr. 39.90 bei Ex Libris erhältlich.

(Erschienen im Migros-Magazin, Oktober 2015. Bilder von Herrn Groebli zur Verfügung gestellt, Porträtbild: Roland Tännler) 

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Wahlhelfer: Frondienst aus Überzeugung

Kein Wahlkampf geht ohne sie über die Bühne: Tausende Helfer und Helferinnen stehen seit Wochen unermüdlich für ihre Parteien im Einsatz. Wer sind sie? Was treibt sie an?

Sie sprechen stundenlang fremde Menschen auf der Strasse an, telefonieren in ihrer Freizeit Wählerlisten ab oder unterstützen die Kandidierenden moralisch. Die Helferinnen und Helfer sind ein entscheidender Faktor des Wahlkampfs. Bis zum 18. Oktober wird noch viel ­ehrenamtliche Arbeit geleistet – aus politischer Überzeugung oder als Freundschaftsdienst.

Der persönliche Kontakt ist dabei entscheidend: «In der Romandie sind wir nahe an den Leuten und gehen beispiels­weise in Genf von Tür zu Tür», sagt CVP-Generalsekretärin Béatrice Wertli. Die SVP zählt auf alle 90 000 Mitglieder als Wahlkampfhelfer; sie sollen Verwandte und Bekannte im persönlichen Umfeld bearbeiten. Bei der FDP machen viele der Kandidierenden zu Fuss oder mit dem Fahrrad eine Tour durch ihren Kanton und kommen so ins Gespräch mit der Bevölkerung. Die Sozialdemokraten haben über den Sommer landesweit rund 400 sogenannte Küchentischgespräche organisiert und setzen erstmals im grossen Stil auf Telefonate.

Tiere und Kugelschreiber

Bereits im Sommer versperrten Wahlhelfer die Trottoirs und drückten Passanten Give-aways in die Hand. Tiere bleiben bei den 50. eidgenössischen Wahlen seit 1848 verschont: Die SVP hat Geissbock Zottel nach dessen spektakulärer Entführung vor vier Jahren durch Plüsch-Sennenhund Willy ersetzt. Und die SP hat ihre Klamaukvideos «Mach das Zebra nicht hässig» von 2011 nicht neu lanciert.

Laut Bundesamt für Statistik hoffen derzeit 3802 Personen auf einen Platz im Parlament – ein Rekord. Die Kan­didierenden akquirieren ihre Helferteams meist selber. «In der Regel können die Parteien die Kandidaten nicht genug unterstützen», sagt der Schweizer Politologe Andreas Ladner (57). «Im Idealfall hat man eine Lokalsektion hinter sich. Ansonsten ist es der Bekannten- oder Familienkreis, der mitmacht. Oder man schafft es, ein Komitee zu gründen.» Eine Herausforderung sind dabei die sinkenden Mitgliederzahlen der Parteien. «Früher hatte man durch die Parteizugehörigkeit noch einen gewissen Informationsvorsprung», sagt Ladner. «Heute erfährt man das meiste aus der Presse. Ausserdem haben die Leute noch viele andere Verpflichtungen.»

Hier rollt der Rubel

Trotz aller ehrenamtlichen Arbeit wird 2015 wohl der teuerste Wahlkampf aller Zeiten. Eine Studie der Forschungsstelle Sotomo besagt, dass allein für Inserate, Plakate und Kinospots 2011 bereits 42 Millionen Franken flossen. Heuer werden die Zahlen noch höher sein.

Die nationalen Budgets der Parteien belaufen sich nach ­eigenen Angaben auf zwischen 200 000 (Grüne) und 3,5 Millionen Franken (FDP). Die Unternehmen spielen bei der Finanzierung zunehmend eine wichtige Rolle – oft nicht nur aus Goodwill, sondern in der Hoffnung auf eine Gegenleistung. In vier Wochen wird sich zeigen, welche Investitionen sich auszahlen.

Reto Weibel (33, SP/ BS): Unter Freunden

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Dienstagabend am Claraplatz Basel. Herbstanfang, es regnet, vom Feierabendlärm ist wenig zu spüren. Beim Gebäude, in dem sich die SP Basel-Stadt befindet, merkt man schnell, welche Partei hier zu Hause ist: Ein Velo mit knallrotem SP-Anhänger steht neben dem Lift. Oben haben sich zwischen Kisten, gefüllt mit Flyern und Plakaten, drei Wahlhelfer um Beda Baumgartner (23) versammelt, den Präsidenten der Juso Basel-Stadt. Einer von ihnen ist Reto Weibel.

Er ist seit zwölf Jahren SP-Mitglied und hat sich heute für einen Telefonanlass angemeldet. «Wir rufen andere Mitglieder an und versuchen, sie für Parteianlässe zu mobilisieren oder von einer Spende zu überzeugen», sagt der Finanzfachmann. Er hat an diesem Tag zwei Stunden telefoniert, das Tagesfazit ist mit 21 abgeschlossenen Gesprächen und 7 Zusagen positiv. Das ist quasi sein Lohn. Die Stimmung ist kollegial und gemütlich. «Aktionen wie heute machen Spass, auch, weil man alte Freunde mal wiedersieht», sagt Weibel. Den Wahlen sieht er gelassen entgegen: «Wenn wir es schaffen, genügend Leute zu erreichen, bin ich zuversichtlich, dass wir ein paar Prozente zulegen und in Basel einen dritten Sitz holen können. Ich werde immer optimistischer.»

Fränzi Schmid (66, SVP/ZH): Wahlkampf bei Züpfe und Ländler

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Bisikon ist ein beschaulicher Flecken im Zürcher Oberland. Am 30. August jedoch fahren statt Trak­toren Minivans durch die 400-Seelen-Idylle. Eifrig schleppen Helfer Kisten mit SVP-Tischtüchern, SVP-Servietten und SVP-Visitenkarten in die ehemalige Tabakscheune. Die Volkspartei lädt zum Buurezmorge.

Fränzi Schmid hat – unterstützt von ihrem Team – die Zügel fest in der Hand. «Ich war 45 Jahre lang Reisefachfrau, das Organisieren liegt mir», sagt sie. 150 Leute werden erwartet; bereit stehen zwölf Kilo hausgemachte Züpfe. Das Budget ist geheim. Zur SVP kam Fränzi Schmid vor 20 Jahren. Ihr Mann sei damals schon in der Partei gewesen. Während sie am Buurezmorge herumwirbelt, sagt Nationalratskandidat Stefan Krebs auf dem Podium, er vermisse die Bodenhaftung der Politiker. Durch die Menge geht ein zustimmendes Raunen. Dazwischen spielt das Ländlertrio Alpenblick Wallisellen. An der SVP schätzt Schmid, dass sich die Partei für die Bauern einsetzt. Ihr Umfeld sei politisch durchmischt, doch in Asylfragen sei man sich einig: «Das Elend macht betroffen. Aber man muss die Probleme dort unten lösen.» Dann muss sie weiter: An der Kasse fehlt Münz, eine Besucherin sucht die Toilette, und Tochter Rita sagt, es brauche mehr Konfi.

Thierry Li-Marchetti (30, GLP/LU): Debattieren statt feiern

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Statt Ausgang war bei den zehn Nationalratskandidatinnen und -kandidaten der Jungen Grünliberalen (GLP) Luzern am Abend des 3. September Politik angesagt: In einer WG in der Nähe des Bahnhofs traf man sich zu Bier und Debatte. Mittendrin: Thierry Li-Marchetti. Bei der GLP ist er für die Kommunikationskanäle verantwortlich. Konkret heisst das: Social Media, Blogs, Website. Zudem kümmert er sich um die Marketingarbeit – nicht für Lohn, sondern aus politischer Überzeugung. «Wir betreiben Sachpolitik und beschäftigen uns nicht mit irgendwelchen Grabenkämpfen», sagt er über seine Partei.

«Viele junge Leute haben in der Schweiz eigentlich keine grossen Probleme. Dass wir Politik machen, ist eher Luxus als Notwendigkeit», sagt der Kommunikationsspezialist. Das Durchschnittsalter an diesem Abend liegt bei 24 Jahren. Alle studieren oder haben das Studium bereits abgeschlossen. «Das wird uns ja oft auch vorgeworfen», sagt Li-Marchetti, «dass wir zu akademisch sind.» Schlecht sei das aber nicht: «Innerhalb der Partei gibt es zum Teil recht unterschiedliche Meinungen. Am Ende findet man aber immer einen sinnvollen Konsens.»

(Erschienen im Migros-Magazin, September 2015. Bilder: Gabi Vogt)

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Der Kleine Unterschied: 40 Jahre später

Vor 40 Jahren veröffentlichte Alice Schwarzer ihr Buch «Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen». Es war der Beginn einer Befreiung. Doch wo steht der Feminismus heute? Eine Bestandesaufnahme mit zehn Schweizer Wegbereiterinnen. 

41MDMFE915L._SX274_BO1,204,203,200_1975 war ein entscheidendes Jahr der Schweizerischen Frauenbewegung. Im Januar wurde am Nationalen Frauenkongress in Bern beschlossen, die Initiative für die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch zu unterstützen und die Gleichberechtigungsinitiative zu lancieren. Im März und Oktober protestierten tausende Frauen in Bern und Zürich gegen die Untätigkeit des Nationalrates in Sachen Schwangerschaftsabbruch. Im August veröffentlichte die deutsche Autorin Alice Schwarzer ihr Buch «Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen» und löste eine landesweite Grundsatzdiskussion über die Unterdrückung der Frau aus. Seither ist einiges passiert: Elisabeth Kopp schaffte es 1984 als erste Schweizer Frau in den Bundesrat und im Juni 1991 streikte eine halbe Million Schweizerinnen für gleiche Rechte von Mann und Frau. Das Gleichstellungsgesetz trat 1996 trat in Kraft und 2002 nahm das Stimmvolk auch die Fristenregelung an. Zum 40-jährigen Jubiläum des «Kleinen Unterschieds» schauen zehn prominente Schweizer Frauen zurück – und nach vorne.

Elisabeth Kopp (78) wurde 1984 zur ersten Schweizer Bundesrätin gewählt

Elisabeth Kopp (78) Ich habe den «Kleinen Unterschied» vor vielen Jahren gelesen. Es hat mir einen sehr kämpferischen Eindruck hinterlassen. Das war zu dieser Zeit nötig. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel zum positiven Verändert in Bezug auf Gleichberechtigung. Das neue Eherecht ist ein wichtiger Punkt. Früher war der Mann das Oberhaupt der Familie und die Frau brauchte sein Einverständnis, wenn sie berufstätig werden wollte. Ich habe diese Vorlage zu dieser Zeit vertreten. Mein Mann hätte mir damals sagen können, er sei nicht einverstanden, dass ich meinen Beruf ausübe. Diese Ungeheuerlichkeit wurde zum Glück beseitigt. Ich werde im Herbst nach Qualifikationen wählen. Wenn ein Mann und eine Frau aber dieselben Qualifikationen haben, gebe ich ihr den Vorzug. Ob ich mich als Zugpferd der Frauenbewegung sehe? Das kann ich so nicht sagen. Aber ich wollte in meinem Amt ganz bestimmt auch zeigen, dass Frauen das Amt in der Landesregierung psychisch und physisch aushalten.

Larissa Bieler (38) ist Chefredaktorin des «Bündner Tagblatts» und ab 2016 Chefredaktorin der Newsplattform swissinfo.ch

Larissa Bieler (38) Als ich 14 Jahre alt war, habe ich die ‹Emma› abonniert. Ich ging damals an die Klosterschule in Disentis GR, und dies war meine erste Auseinandersetzung mit der Feminismusdebatte. Die ‹Emma› war eine Provokation, aber es herrschte ein anderer Diskurs im Vergleich zu heute. Über Alice Schwarzer und Co. wurde damals weniger verachtend, weniger zynisch debattiert. Auch wurden nicht gleich alle als Männerhasserinnen abgestempelt. Heute sagt man, Feminismus sei langweilig, er schaffe sich selber ab und wolle Frauen bevorteilen. Es geht jedoch um Gleichberechtigung. Männer, die sich dort angeschossen fühlen, nehmen sich zu wichtig. Ich bin eine klare Befürworterin der Quote. Ich habe auch in meiner Arbeit viele unqualifizierte Männer kennengelernt und bin überzeugt: Es gibt viele Frauen, die das besser gekonnt hätten. Es ist zudem enttäuschend, wie viele Medien sexistische Rollenbilder derart verantwortungslos zementieren. Es gibt immer noch Journalistinnen und Journalisten, die nicht verstehen, warum es wichtig ist, auch die weibliche Form zu benutzen. Bei Swissinfo.ch werde ich mit vielen Kulturen konfrontiert sein, wo Frauenbilder anders sind. Das wird eine Herausforderung. Auch in der Schweiz ist man immer wieder mit unterschwelliger, subtiler Diskriminierung konfrontiert. Aber: Veränderung braucht Zeit.

Vania Alleva (45) ist seit dem 20. Juni 2015 die alleinige Präsidentin der Unia

Vania Alleva (45) Obwohl sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert hat, sind auch die Schweizer Gesellschaftsstrukturen noch sehr patriarchalisch geprägt. Ich verstehe meine Arbeit in der Unia als Beitrag zu einem Wandel Richtung Gleichberechtigung. Dass ich als Frau zur Präsidentin einer ehemals männerdominierten Organisation gewählt worden bin, ist schon Ausdruck dieses Wandels.
Themen wie Lohngleichheit sind extrem wichtig. Es gibt immer noch eine Differenz von rund 20 Prozent – obschon die Lohngleichheit in der Verfassung verankert ist. Freiwilligkeit allein reicht hier nicht. Zudem braucht es auch Quoten. Leider reichen bei Frauen ausgezeichnete Qualitäten oft nicht aus, um weiterzukommen. Doch gemischte Teams sind erfolgreichere Teams.

Michèle Binswanger (43) ist Mitgründerin des Mamablogs und Co-Autorin des Buches «Machomamas»

Michèle Binswanger (43) In den letzten 40 Jahren ist punkto Gleichstellung viel passiert. Viele Frauen machen gute Ausbildungen, wollen finanzielle Unabhängigkeit und tolle Jobs. Nur was die Familie und die Mutterrolle anbelangt, da bewegen sich die Dinge etwas langsamer. Als Nicole Althaus und ich mit dem Mamablog anfingen, haben sich unzählige Frauen jeden Alters mit ihren Geschichten gemeldet. Es gibt immer noch viel Unsicherheit, ob es wirklich okay ist, nicht alles für die Kinder zu geben und auch etwas in den Beruf zu investieren. Das Resultat sehe ich bei der Frauengruppe des «Tages-Anzeigers», die den Anteil der Frauen in Führungspositionen erhöhen möchte. Es ist gar nicht einfach, diese Frauen zu finden, weil viele für die Mutterschaft alles aufgeben und die Finanzen dem Partner überlassen. Hier ist noch viel Aufbauarbeit nötig.

Anita Fetz (58) ist SP-Ständerätin des Kantons Basel-Stadt und frühere Aktivistin

Anita Fetz (58) Ich war 14 Jahre alt, als in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Ab da habe ich erst begriffen, was Frauen alles nicht dürfen, und mich der Frauenbewegung angeschlossen. Abtreibung war verboten, also haben wir eine Beratungsstelle organisiert. Häusliche Gewalt war verbreitet, also haben wir ein Nottelefon gegründet. Und ein Haus für geschlagene Frauen. Wenn ich heute auf all das zurück schaue, bin ich stolz. Ich war Teil der ersten Generation, die von der Gleichberechtigung profitiert hat. Ich konnte studieren, mein Leben selber bestimmen, eine Firma gründen, Politik machen, Gesetze verbessern und vieles mehr. Wenn früher jemand in Basel sexistische Werbung raushing, haben wir nicht gejammert, sondern etwas unternommen. Da machten ein paar Frauen ein paar Telefone, und in der nächsten Nacht war dieses Plakat irgendwie bearbeitet. Wir waren Tausende, wenn es drauf ankam. Das machte Spass, und hat uns gestärkt. Wir haben uns auch nicht gross darum gekümmert, was die Medien schreiben. Die jüngere Generation macht vieles mit – zum Beispiel all diese Schönheitsideale. Wo bleibt der Ärger der jungen Frauen? Meine Generation hat eine gute Basis für die Gleichstellung gelegt. Den Rest muss die neue Generation schon selber machen. Meine Unterstützung hat sie.

Margrit Sprecher hat 1983 bei der Weltwoche ein Frauen-Ressort, das heutige Gesellschaftsressort, aufgebaut

Margrit Sprecher Ich habe längst die Übersicht über die vielen Feminismus-Varianten verloren. Die eine kämpft gegen Kleidervorschriften, die andere für Kitas, die dritte für die Karriere. Wichtig ist die längst fällige Durchsetzung der Lohngleichheit. Den Rest muss sich, so hat sich leider gezeigt, jede Frau selbst erkämpfen. Alice Schwarzer bewundere ich als brillante Kollegin. Ihr Charme und ihre Verletzlichkeit überraschen mich immer wieder.

Pia Horlacher (65) war SRF- und NZZ-Redaktorin und ist Mitglied des Presserats

Pia Horlacher (65) Ich wurde in der Frauenbewegung der 1970er politisiert und habe in der Beratungsstelle Infra mitgearbeitet. Wir haben damals Alice Schwarzer zu uns eingeladen – eine eindrückliche Begegnung. Mittlerweile haben Frauen in der westlichen Gesellschaft viel erreicht. Allerdings stelle ich einen gewissen Rückschritt fest, was die sexualisierten Frauenbilder in der Jugendkultur und den Boulevardmedien anbelangt. Solch reaktionäre Rollenbilder von Topmodel, Schlampe, Boxenluder etc. scheinen Mädchen und junge Frauen erstaunlich widerspruchslos hinzunehmen. Ohnehin lassen wir in den Medien noch viel Sexismus zu, während man in andern Bereichen wie Rassismus, Homophobie oder Religionsfreiheit weit vorsichtiger ist.
Alice Schwarzer ist ein journalistischer Glücksfall. Sie bringt sich unermüdlich in den öffentlichen Diskurs ein. So hat sie zum Beispiel schon vor Jahrzehnten vor einem Kulturrelativismus gewarnt, der blind ist für die Frauenunterdrückung gleich neben uns, in den tief patriarchalischen Parallelgesellschaften vieler westlicher Grossstädte. Dass wir hier und heute mit Themen wie Schleierzwang, Zwangsehen, Ehrenmorden oder Genitalverstümmelungen konfrontiert sind, hätten wir uns vor vierzig Jahren nicht vorstellen können.

Eveline Saupper (57) ist die wichtigste Schweizer Verwaltungsrätin (Georg Fischer, Syngenta, Baloise, Zürich Flughafen)

Eveline Saupper (57) Ich bin der Meinung, dass man heute in der Schweiz die gleichen Möglichkeiten erhält, solange man liefert. Ich gebe aber zu, dass das in der Vergangenheit anders war. Damals hatte man als Frau aus gesellschaftlichen Gründen oft keine Chance.
Von alleine geschieht auch heute nichts. Frauen müssen ihren Teil dazu beitragen. So ist der Aufbau eines Netzwerks enorm wichtig. Das haben viele Frauen noch nicht begriffen. Genialität reicht nicht. Die Leute müssen erfahren, dass man etwas kann

Esther Girsberger (54) ist Zentralpräsidentin vom «Forum elle», der Frauenorganisation der Migros

Esther Girsberger (54) Wäre die soziale, ökonomische und rechtliche Diskriminierung immer noch so gross wie Ende des 19. Jahrhunderts, wäre es um die Gleichstellung schlecht bestellt. Ich bin dankbar, dass sich heute Schweizer Frauen aller Couleurs und (fast) aller politischen Parteien laut und deutlich für die Sache der Frau stark machen. Am dankbarsten bin ich den Frauen, denen man es wegen ihrer Zugehörigkeit zum bürgerlichen Lager nicht zutraut. Sie werden nämlich am ehesten von denen gehört, die es auch hören müssen. Allen voran von bürgerlichen Männern, die zum Beispiel noch skeptisch sind gegenüber familienfreundlichen Arbeitszeitmodellen. Im Unterschied zu früher ist die Genderfrage heute kein reines Kampffeld mehr.

Sylvie Durrer (55) ist die Vorsteherin des Eidgenössischen Gleichstellungsbüros

Sylvie Durrer (55) Frauen wie Alice Schwarzer und Simone de Beauvoir sind wichtige Personen, die eine wichtige Diskussion ausgelöst haben. In den letzten Dekaden hat sich in der Schweiz vieles zum Positiven verändert. Das Gleichstellungsgesetz von 1996 war ein Meilenstein für die Schweiz. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Mentalitäten geändert hätten. Da gibt es noch viel Arbeit zu tun. Frauen sind im Gesundheits- oder Bildungswesen oder auch in der Sozialarbeit übervertreten. Dagegen sieht man wenige Frauen in technischen Branchen. Und für Männer ist es schwierig, in Pflegeberufe reinzukommen. Es ist wichtig, dass Frauen und Männer einen Beruf ausüben, der ihren Interessen und ihren Fähigkeiten entspricht – und nicht weil es für ihr Geschlecht normal ist. Ich habe grosses Vertrauen in die Zukunft. Und ich denke, dass eine gleichberechtige Gesellschaft eine bessere Gesellschaft ist.

Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen

Das Buch: «Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen» enthält 15 Protokolle mit sehr unterschiedlichen Frauen und einem Essay der Autorin über «Sex und Gender». Im Buch analysierte Alice Schwarzer die Sexualität als «Angelpunkt der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und der Unterdrückung der Frauen». Sie plädiert für eine freie Sexualität und die ökonomische Unabhängigkeit für Frauen. Das Buch erschien 1975 und machte Schwarzer über Westdeutschland hinaus bekannt. Der Spiegel nannte im Juni 1976 in einem Artikel über Schwarzer eine Auflage von bis dahin 138’000 Exemplaren. Es wurde in zwölf Sprachen übersetzt.

Zur Person: Alice Sophie Schwarzer wurde am 3. Dezember 1942 in Wuppertal geboren. Die Gründerin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma ist die bekannteste Vertreterin der deutschen Frauenbewegung.

(Erschienen im Migros-Magazin, August 2015)

Der Beitrag wurde von Alice Schwarzer zitiert.

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Wie man trotz Social Media ein glückliches Sozialleben führt

Sind wir Handy-Zombies geworden? Machen uns soziale Medien asozial? Gary Turk behauptet genau das in seinem viralen Hitvideo «Look Up». Ein Einspruch.

Ich verbringe gerade einen Frühling in einem französischen Schloss. Ohne Strom, ohne WhatsApp-Kumpel, ohne Facebook-Selbstdarstellung, ohne zuverlässige WiFi-Verbindung. Und als Prototyp der Generation-Y hatte ich natürlich schon nach kurzer Zeit eine dieser wahnsinnig tiefgründigen Erleuchtungen. Ich schrieb meinen Eltern und Freunden Zuhause Hipsterkacke wie «weisst du, die Gespräche sind eben alle so echt hier» und «auch die Natur ist so schön, sie erdet einen richtig».

Daheim in meinem Yuppie-Leben habe ich 1500 Facebook-Freunde. Wenn ich ins Tram steige, schaue ich nach, ob mir jemand auf WhatsApp geschrieben hat. Und wenn meine innere Attention Whore mal wieder Überhand nimmt, poste ich ein Selfie auf Instagram und möble mein Selbstwertgefühl mit jedem Herzchen auf.

Diverse Gruppen kriegen bei solchen Worten einen regelrechten Herzinfarkt. Das sei doch «wahnsinnig» wie diese Jungen nur noch an ihrem Handy kleben. Gerade die Social-Media-Verweigerer klugscheissen bei solchen Sätzen um die Wette. Es gibt den Satz «ever wondered if somebody is a vegetarian? Don’t worry, they’ll fucking tell you». Etwa gleich verhält es sich bei Facebook-Abstinenten, die das Ganze eben «nicht nötig haben».

Auch sogenannte Social-Media-Experten Mitte 40 (kleine Bemerkung am Rande: als die jung waren, gabs noch nicht mal Internet. Sie wurden nicht im digitalen Zeitalter sozialisiert. Zudem kann ich keinen, der nicht schon einmal die Folgen von drunk-posting zu spüren bekam, als Experten wirklich ernst nehmen) oder Timeline-Besserwisser finde ich mühsam. Letztere posten dann Dinge wie das sentimental-heuchlerische «Look Up»-Video – was meiner Meinung nach an Ironie kaum zu überbieten ist (obschon es dort fairerweise die Leute erreicht, dies betrifft). Du hast 422 Freunde und fühlst dich trotzdem allein? Daran ist nicht Facebook schuld, sondern womöglich deine fragwürdige Prioritäten-Setzung. Oder dein Charakter.

Dazu kommen Medien wie die Huffington Post, die meiner Generation ewiges Unglück prophezeien, wenn wir uns bloss mit uns selber beschäftigen. Ich beobachte und kriege in vielen Gesprächen mit, dass dieses ewige Verteufeln von Facebook manche «Betroffene» wahnsinnig nervös macht. Sie kriegen Panik, wenn sie herausfinden, wie viel Zeit sie online verbringen und machen hysterische Social-Media-Detox-Ausflüge irgendwo in die Berge, wo’s dann jaaaa keinen Empfang hat.

Meine Botschaft? Beruhigende Worte aus dem Exil. Ich lebe seit zwei Monaten mit haufenweise alternativen Menschen in einer Hippie-Gross-WG zusammen. Und ich rede hier nicht von Biojoghurt-alternativ. Ich rede von Selbstversorger-alternativ. Ich durfte vieles von diesen grossartigen Menschen lernen. Zum Beispiel, dass Malen manchmal zum Abreagieren hilft. Oder wie man ein Huhn schlachtet. Aber was ich eben auch gelernt habe ist, dass sogar Menschen, die mit sich selbst, der Natur und der Welt im Allgemeinen total im Reinen sind, ihren Scheiss manchmal genauso wenig auf die Reihe kriegen wie wir «Zivilisationsgeschädigten». Die, die selber als Paartherapeuten tätig sind, setzen auch jede zweite Ehe in den Sand. Die, die noch nie was von sich gepostet haben, sind bei Konversationen im echten Leben manchmal auch Nieten. Und Oversharing ist in echt noch viel schlimmer.

Darum: keep calm and stay online. Eure echten Freunde rennen euch nicht davon, sobald die digitalen Freundschaften die Tausendermarke knacken. Auch Yolo-Kinder können anständige Bewerbungen schreiben. Wenn jemand vier Stunden im Chat verbringt, muss dieser Abend nicht zwingend verschwendet sein. Ich hatte auf diese Weise etliche wahnsinnig bereichernde Konversationen. Im Schneidersitz auf meinem Bett, mit guter Musik in den Ohren und einer Tasse Tee in der Hand. Waren diese Stunden verschwendet? Keineswegs. Wars dann schräg, diese Menschen nach gegenseitigen Seelenstrips durch den digitalen Äther persönlich zu treffen? Manchmal – aber auch immer lustig und spannend.

Ich sage nicht, dass man das alles so hinnehmen soll. Es ist wichtig, dass eine Generation ihre Eigenschaften hinterfragt. Diskussionen über das Konversationsverhalten einer Kohorte können sehr aufschlussreich sein: Ich finds auch asozial, wenn jemand beim Essen telefoniert oder Nachrichten schreibt. Das hat aber weniger mit Internetsucht zu tun, sondern vielmehr mit Anstand und mit einer 24h-Gesellschaft. Ich finde es schlimm, wie manche Leute ihre Feinde «hate-followen». Klar hat erst Facebook das so einfach gemacht, doch Stalker gabs schon immer. Menschen, die herumhaten, haben zudem in erster Linie mit sich selbst ein Problem und nicht mit ihrer Webpräsenz. Mich beunruhigt, wie einfach Asi-Promis durch neue Medien berühmt werden. Doch Marilyn Monroe war damals auch nicht wirklich ein gutes Vorbild für junge Frauen. Mich machts traurig, wenn ich meine BFFs teilweise wochenlang nur höre, statt sehe. Aber das hat primär damit zu tun, dass wir alle viel zu viel arbeiten.

Ich finde es schön, geliebte Menschen immerhin online zu sehen. Ich hab meine Freundinnen immer bei mir in der Handtasche. Irgendjemand nimmt auch Mitten in der Nacht das iPhone ab, wenn ich über Gott und die Welt reden muss. Meine Mutter kann mich stalken, wenn ich mal zwei Wochen nicht anrufe und weiss, obs mir gut geht oder nicht. Willkürliche Facebook-Anfragen wurden bei mir zu Freundschaften fürs echte und digitale Leben. Eine eifrig postende Bekannte aus England nimmt mich sogar mit auf ihre Weltreise, sobald ich ihr Profil anklicke. Social Media hat zudem viele relevante Dinge erst möglich gemacht (Arabischer Frühling anyone?).

Solange man sich doch noch ab und zu unter Leute mischt, solange man sich nicht nur über Likes definiert und solange man Mama dann doch mal wieder anruft, ist alles okay.

In dem Sinne: möge euer aller Leben so toll sein, wie ihr es immer postet.

(Erstmals publiziert auf meinem alten Blog, Mai 2014)

Der Text wurde von Storyfilter zitiert. 

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Oh les beaux jours

In Frühling 2013 bereiste ich den wunderschönen Küstenort Deauville. Erschaffen wurde das «Königreich der Eleganz» im Sommer 1858 von Charles de Morny, einem Halbbruder von Napoléon III. Auf einer Sand- und Sumpfebene an der Atlantikküste entstand ein Juwel, das alsbald aristokratische Gäste aus der ganzen Welt anzog.

Noch heute gilt der Badeort als Refugium für gutbetuchte Pariser Familien: Neonormannische Villen reihen sich zwischen prunkvollen Mini-Palästen ein; das Casino sowie das jährlich stattfindende Filmfestival sorgen für Unterhaltung.

Schon die rund zweistündige Zugfahrt von Paris aus ist bezaubernd: die Normandie ist ein kleines Auenland aus dichtbewachsenen Feldern, kleinen Häusern, verwunschenen Flüssen, Schafsherden sowie Pferdehöfen.

Die grünen Felder der Normandie

In Deauville selber findet man alles, was man braucht. Gleich hinter dem Casino, im Dorfkern, haben sämtliche Luxusketten ihre Filialen, damit sich die Pariser Kundschaft auch im Norden mit teurem Leder und delikaten Foulards eindecken kann. Nebst den Luxusgeschäften findet man zahlreiche Läden, die den typischen Marine-Look anbieten. Vorhersehbar ist denn auch die Deauville-Uniform: die meist älteren Besucher des Küstenortes tragen fast ausschliesslich gestreifte Shirts, snobige Windjacken und dicke Leinenkleider.

Wer dem Wind trotzt und sich in die Fluten stürzt, wird belohnt. Fernab von Cannes-Glamour und Saint-Tropez-Buzz hat das Meer eine fast therapeutische Wirkung: Der Atlantik ist rauer, ehrlicher, faszinierender. Er lockt die Haare, bringt einen zum träumen und klebt den Sand so schön auf die Haut.

Am Abend gehts barfuss ins Restaurant La Galatée, welches direkt auf dem Strand ist. Das Menu: Lokaler Fisch und Wein. Nach einem wunderschönen Sonnenuntergang sieht man vom Hotelzimmer aus, wie die Fischerboote bei Einbruch der Dunkelheit gen Horizont steuern.

(Bilder: Anne-Sophie Keller)

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