Chansonnière Zaz über Paris, Terror und das Glücklichsein

Zaz singt über Liebe, Freiheit und Lebenslust. Am 10. August steht die derzeit erfolgreichste Vertreterin des Nouvelle Chanson auf der Bühne des «Stars in Town» in Schaffhausen. Im Interview spricht sie über ihre exzessive Seite, die Liebe zu Paris, den Terror, ihr soziales Engagement und das Glücklichsein.

Zaz, seit Sie berühmt sind, werden Sie als neue Édith Piaf bezeichnet. Nervt Sie dieser Vergleich?
Nein, gar nicht. Er ist sehr schmeichelhaft. Piaf war eine grosse Sängerin, die auf der ganzen Welt bekannt war. Sie ist eine Ikone. Inspiriert haben mich jedoch nicht primär die französischen Musiker, sondern Weltmusik, lateinamerikanische Musik, wie die von Chucho Valdés oder Künstler wie Jimi Hendrix, Ella Fitzgerald und die Rapperin Lauryn Hill.

Sie haben als Sängerin einer Latin-Rockband und beim Pariser Cabaret «Aux Trois Mailletz» angefangen. Nun singen Sie jazzige Chansons. Sind Sie ein musikalisches Potpourri?
Alles, was ich probiert oder erlebt habe, beeinflusst mich. Jedes Lied, das ich gehört, und jeder Mensch, den ich getroffen habe, haben mich in irgendeiner Weise geprägt. Ich habe viele verschiedene Dinge ausprobiert und auch lange Strassenmusik gemacht. Sie ist immer noch ein grosser Teil von mir. Ich mag viele verschiedene Musikarten und könnte mich gar nicht ­festlegen. Wenn ich ein Lied schreibe, fokussiere ich mich auf den Rhythmus und den Text. Der Rest kommt von allein. Und der Stil bildet sich dann daraus. Da gibt es kein Konzept.

Für den Kinofilm «Hugo Cabret» von Martin Scorsese und den französischen Kinofilm «Belle et Sébastien» haben Sie je ein Lied beigesteuert. Was fasziniert Sie am Kino?
Die Geschichten, die Musik, die Bilder, die Emotionen, alles. Ich liebe das Kino, weil es einem ermöglicht, vollständig in eine Geschichte einzutauchen. Nirgends gibt es so viele Emotionen. Ich habe im Kino immer das Gefühl, selber im Film zu sein und diese Geschichte zu leben. Man ist dann völlig weg. Das regt einen zum Nachdenken an.

Wäre das Schauspiel ein möglicher Plan B?
Ich habe schon Angebote für Filme oder auch Theaterrollen bekommen. Namen nenne ich keine, aber es gab vieles, das mir gefallen hat. Leider hat bis jetzt nichts geklappt.

Woran liegt das?
Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch. Wenn ich an etwas den leisesten Zweifel habe, dann mache ich es nicht. Ausserdem fehlt schlicht die Zeit für ein weiteres Projekt. Ich möchte mich in erster Linie auf die Musik konzentrieren.

Sie engagieren sich karitativ. Was treibt Sie an?
Der Wunsch, dass wir die Erde und unsere Mitmenschen mehr respektieren. Wenn meine Band und ich irgendwo ein Konzert haben, kontaktieren wir lokale Projekte und Organisationen, die sich karitativ engagieren. Sie erhalten dann einen Teil unserer Einnahmen. 2017 werden wir ein Netzwerk aus 100 solchen Kooperationen haben. Diesen Sommer organisieren mein Team und ich im französischen Département Drôme ein Festival, wo wir noch unbekannten Künstlern eine Plattform bieten. Ich mache das nicht, weil ich berühmt bin, sondern weil es mich glücklich macht.

Ihr aktuelles Album mit dem Titel «Sur la route» erschien am 30. Oktober 2015. Wann können Ihre Fans mit neuer Musik rechnen?
Bis September bin ich noch auf Tour. Für 2017 habe ich mir vorgenommen, eine kleine Auszeit zu nehmen. Aber ob ich das durchziehen kann, weiss ich nicht. Vielleicht treffe ich in diesem Jahr jemanden, der mich total inspiriert, oder entdecke etwas Spannendes. Dann würde ich natürlich wieder Musik schreiben. Planen kann man so etwas nicht.

Ihr drittes Studioalbum ist Paris gewidmet. Was ist typisch für diese Stadt? Können Sie dieses Lebensgefühl beschreiben?
Wir lieben es auszugehen und essen gerne gut. Wir sind leidenschaftlich, mögen schöne Dinge, Architektur und die Kunst und streiten uns auch. Wir schätzen die Meinungsfreiheit, das Zusammensein und die Poesie. Auf der anderen Seite gibt es in Paris die graue Realität von «Métro, boulot, dodo» – also «U-Bahn, Arbeit, Schlafen» – und das wiederholt sich jeden Tag. Es gibt in der Stadt viele Menschen, die nicht dazugehören. Für mich persönlich ist Paris ein Traum. Das Licht und die Häuser sind unvergleichlich. Eine Sekunde später nervt wieder der Verkehr. Wenn es regnet, ist Paris traurig, aber wenn die Sonne scheint, blüht die Stadt auf. Diese Gegensätze sind genial. Typisch Paris, ist genau dieses alles und nichts.

Nach den Pariser Terroranschlägen im letzten November, twitterten Sie: «Mir ist schlecht, aber niemals, niemals werden sie das Feuer meines Lichts auslöschen.» Wie geht es Ihnen, wenn Sie an diesen Tag zurückdenken?
Ich will nicht mehr an diesen Tag zurückdenken. Ich hatte keine Angst, aber an diesem Tag war ich unglaublich traurig. Es war ein Angriff auf die Menschen, auf die Freiheit, auf die Kunst. Umso mehr will ich intensiv leben, glücklich und frei sein.

Paris hat sehr viel mit Ihnen zu tun; Sie haben als Strassenmusikerin rund um den Montmartre angefangen. Heute stehen Sie auf den grossen Bühnen. Fehlt Ihnen die Intimität von damals?
Nein, die Bühnen, auf denen ich heute auftrete, sind einfach anders. Ich bin kein nostalgischer Mensch, sondern interessiere mich für neue Dinge und habe Lust, sie zu entdecken. Im Gegensatz zu früher habe ich meine Anonymität verloren, das stimmt. Auf der anderen Seite bekomme ich in so vielen Ländern grosse Zuneigung von meinen Fans. Das ist ein Geschenk.

Sie sind in der Schweiz und in Deutschland erfolgreich. Das schaffen nur wenige französischsprachige Künstler. Was machen Sie besser?
Ich weiss nicht, ob ich etwas besser mache, glaube aber, dass es in der Musik etwas gibt, das Sprachgrenzen aufhebt. Ich denke, ich vertrete etwas, das die Leute ­berührt – vielleicht dieses typisch Französische. Diese Anerkennung ehrt mich sehr. Ich kann durch die Welt reisen und in jedem Land ein neues, anderes Publikum kennenlernen. Das ist enorm bereichernd, und dafür bin ich sehr dankbar.

Über das Geheimnis Ihrer Stimme sagten Sie einmal «viel schlafen, viel rauchen, viel trinken». Leben Sie ein Rockstarleben?
(lacht) An diesen Satz kann ich mich nicht mehr erinnern. Nun, heute sieht mein ­ Leben etwas anders aus. Am 1. Mai, meinem ­Geburtstag, habe ich mit dem Trinken und Rauchen aufgehört. Ich bin ein exzessiver Mensch. Für mich gilt: Alles oder nichts. Dieser Entschluss war sozusagen mein Geburtstagsgeschenk an mich selbst, Sorge zu mir zu tragen.

Wie fühlt sich Erfolg an?
Erfolg ist etwas sehr Seltsames. Ich bin eigentlich nur Isabelle, die singt. Für die Fans bin ich Zaz, deren Identität von den Medien geformt wird. Für viele bist du wie ein lebendiges Bild, eine Projektionsfläche. Sie haben eine Meinung über dich. Das ist nicht immer einfach. Wenn man sich zu stark darauf konzentriert, was andere von einem halten, verliert man sich. Man muss für sich selbst leben.

Sind Sie glücklich?
An gewissen Tagen bin ich glücklich, an anderen Tagen nicht. Man kann Gefühle nicht in eine Schublade stecken. Wenn ich glücklich bin, dann manchmal ohne Grund. Wenn ich sehe, wie viel Elend es auf der Welt gibt, werde ich sehr traurig. Was ich aber sagen kann, ist: Erfolg zu haben bedeutet nicht unbedingt, auch glücklich zu sein. Was mich aber immer glücklich macht, ist ein Ausflug in die Berge.

(Publiziert im Migros-Magazin, Juni 2016)

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Adolf Ogi im Interview

Adolf Ogi gilt als «Vater der Neuen Eisenbahn-Aplentransversale». Zur Eröffnung des Gotthardbasistunnels erinnert sich der Kandersteger alt Bundesrat an den harten Kampf um das Tunnelnetz, aber auch an lustige Begebenheiten wie seine legendäre Tannenbäumli-Rede. 

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Adolf Ogi, wir sitzen im Büro Ogi. Was passiert hier?
Ich erhalte jeden Tag grosse Mengen an Korrespondenz: Anfragen, Wünsche, Ratschläge, Einladungen. Jemand muss das alles bewältigen, dafür habe ich eine Sekretärin eingestellt. Ich hatte völlig unterschätzt, was nach meiner Zeit als Bundesrat an Zuschriften eintreffen würde. Zum Beispiel von Schülern oder Studenten. Dann unterstütze ich diverse Stiftungen, vor allem im Interesse der Jugend.

Was wollen die Leute von Ihnen?
Oft arbeiten sie an einer Diplom- oder Abschlussarbeit. Meistens melden sie sich bei mir, wenn es mit der Neat oder mit Politik zu tun hat. Einige wollen wissen, wie ich als Kandersteger mit einem Primarschulabschluss Bundesrat werden konnte. Der Weg von Kandersteg nach Bern und New York zur Uno und wieder zurück nach Kandersteg – das interessiert offenbar. Auch Sport und die Uno sind sehr beliebte Themen.

Ein zentrales Thema in Ihrem Leben sind Tunnel. Der Gotthard-Basistunnel als Herzstück der Neat wird bald eröffnet.
Schon in den 1950er-Jahren hat Bundesrat Willy Spühler bereits erste Abklärungen für den Tunnel gemacht und die Kommission «Eisenbahntunnel durch die Alpen» eingesetzt. Sie sollte fünf Varianten von neuen Bahnlinien durch die Alpen prüfen. Als Bundesrat Roger Bonvin vor über 40 Jahren Verkehrsminister wurde, studierte er die Empfehlungen der Kommission und fand: Die Schweiz solle ein Transitland sein und dazu bräuchten wir eine integrierte Politik Schienen/Strasse. Dazu gehörte auch der Ausbau der Lötschberg-Bergstrecke auf Doppelspur und der Bau der Gotthardbasislinie. Er beauftragte die SBB mit der Planung. Bundesrat Willi Ritschard setzte eine Kontaktgruppe Gotthard/Splügen ein. Die Vernehmlassung führte zu einer Pattsituation. Es sollte noch ein langer Weg bis zum heutigen Tunnel werden. Vor 30 Jahren kam Bundesrat Leon Schlumpf und sagte, man müsse das Ganze in einen gesamteuropäischen Kontext setzen. Da gab es schon Transitprojekte wie «Lyon–Turin durch den Fréjus» oder «Salzburg–Innsbruck–Brenner–Italien». Schlumpf fand daher, es brauche bei uns nicht dringlich einen Ausbau. Da war vor allem Finanzminister Otto Stich glücklich, der auf seine Kasse achtete.

Dann kam der Ogi. Und erklärte die Verkehrspolitik zur Chefsache.
Genau. Ich spürte, dass ein Zeitfenster offen war. 1988 kam ich ins Amt. 1980 war der Gotthard-Strassentunnel eröffnet worden. Er war zu einem Magneten für den euro­päischen Lastwagenverkehr geworden, und die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) machte viel Druck. Sie wollte eine neue Autobahn bei uns oder einen Ausbau der bestehenden auf sechs bis acht Spuren. Zudem forderten ausländische Fuhrhalter und die EG, dass wir nebst dem Ausbau der Autobahn 40 Tonnen schwere Lastwagen zuliessen und nicht nur die 28-Tonner wie bisher. Wir mussten etwas tun.

Sie haben sich für die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) starkgemacht.
Von 1988 bis 1993 war ich 37 Mal im Ausland bei meinen Verkehrsministerkollegen, um zu sagen: Wir bauen keine Autobahn, wir bauen die Neat. Aber ich redete an eine Wand, berührte die Herzen nicht. Also: Wechsel zur Strategie «Chum und lueg». Ich lud die Verantwortlichen in die Schweiz ein, nach Birrfeld, wo wir den Verlad eines Lastwagens oder Containers auf die Schiene demonstrierten. Anschliessend flogen wir die Gäste mit dem Helikopter nach Wassen, direkt vor die kleine Kirche. Ich sagte: Hier ist die Autobahn, hier die Eisenbahn, hier die Kantonsstrasse, hier die Reuss. Und da ist der Lärm! Es hat keinen Platz für eine zweite Autobahn. Wenn es jemand nicht begriffen hat, hab ich ihn in der Kirche vor dem Kreuz nochmals bearbeitet.

Wer war am zähsten?
Der belgische Politiker Jean-Luc Dehaene sagte: «Tu pourrais mais tu ne veux pas.» Ich sagte: «Jean-Luc, on va prendre le Zvieri à Kandersteg.» Dann flog ich mit ihm im Helikopter nach Kandersteg und vorher zur dunklen, schwarzen Eigernordwand. Dem Piloten sagte ich vorher, er soll ganz nah an die Felswand ran und etwas wackeln. Dann lockerte ich Dehaenes Gurt heimlich. Er fragte, was los sei, er hatte Angst. Ich antwortete: Hier können wir wirklich keine Autobahn bauen. Das war nicht diplomatisch und auch nicht akademisch, aber wirkungsvoll. Von da an war er der beste Vertreter unserer Verkehrspolitik. Dieses Umdenken in Europa brauchte es.

Würden Sie sich das nochmals antun?
Wenn ich gewusst hätte, was da alles auf einen zukommt, und wenn ich alle Details schon damals gekannt hätte, weiss ich nicht, ob ich die Neat nochmals beantragen würde. Die verschiedenen Gesteinsschichten am Gotthard machten Probleme, das Tavetschermassiv, die weiche Piora-Mulde. Es gab Geologen, die sagten, dass der Durchschlag nicht möglich sei. Ich hatte viele schlaflose Nächte und vier Mal Nierensteine.

Aber Sie haben die Neat durchgesetzt.
Ich wollte noch mehr: Bahn und Bus 2000 beenden. Dann das Gleis für den Huckepackkorridor im Lötschberg absenken, damit vier Meter hohe LKWs hindurchkamen. Ich wollte die S-Bahnen fördern und das Nationalstrassennetz fertig bauen. Da bin ich gescheitert, unter anderem im Säuliamt. Es gab viele Einsprachen und ­Beschwerden, allein Tausende für die 48 Kilometer lange Strecke zwischen Mattstetten und Rothrist für die Bahn 2000. Aber ich sagte auch: Ich will den Gotthard und den Lötschberg, gleichzeitig. Klar hatte ich Zweifel, ich musste mich oft selber motivieren. Doch ich wollte dieses Ziel erreichen. Wir hatten lang genug nachgedacht, seit 1950, und der Verkehr nahm zu. Es musste mal jemand sagen: Ja, wir machens. Politisch könnte man es heute wohl nicht mehr durchsetzen, den Gotthard und den Lötschberg gleichzeitig zu bauen.

In wenigen Tagen wird der Gotthardbasistunnel eröffnet. Sind Sie stolz?
Ach, stolz! Das ist doch nicht das richtige Wort. Es ist eine ungeheure Leistung des Schweizervolks. Es musste dieses 23 Milliarden Franken schwere Projekt absegnen. Mit 63 Prozent hat es Ja gesagt. Das war ein grosser Erfolg, damals am 27. September 1992. Dafür musste man Einsatz zeigen, Überzeugungsarbeit leisten, von Basel bis Chiasso, jeden Abend.

Was ist Ihr Programm an den Eröffnungsfeierlichkeiten?
Ich habe eine Einladung und darf an der ­Eröffnung am 1. Juni 2016 teilnehmen.

Nun hat das Stimmvolk gerade dem Bau des zweiten Gotthard-Autotunnels zugestimmt. Was halten Sie davon?
Da bin ich selbstverständlich auf der Linie des Bundesrats: Es ist staatspolitisch richtig. Wir können nicht den Kanton Tessin während Jahren von der Deutschschweiz abschneiden, wir als Land der vier Kulturen und Sprachen, der 26 Kantone. Die Tessiner hätten während der Sanierung des alten Tunnels keine Strassenverbindung zur Deutschschweiz, wenn sich das Stimmvolk anders entschieden hätte.

Dennoch, das Ziel war und ist die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Nach der Eröffnung des Lötschbergs sagten Sie, das sei möglich, wenn man es richtig mache. Wie wär es denn richtig?
Ja, der Lötschberg ist ein grosser Erfolg. 100 Züge fahren jeden Tag durch diesen Tunnel. Und der Gotthard wird dank der Doppelspur ein noch grösserer Erfolg werden. Aber dafür müssen jetzt die nötigen Zufahrtsachsen in und nach Italien und Deutschland gebaut werden, damit die Schiene eines Tages attraktiver ist als die Strasse. Das kostet noch einmal viel Kraft und Innovationswille.

Die Verlagerung auf die Schiene ist kein typisches SVP-Anliegen. Aber Sie haben ja immer eher am linken Rand der SVP politisiert. Können Sie sich heute noch mit Ihrer Partei identifizieren?
Ach was, links! Ich werde die SVP hier nicht kritisieren. Ich bin nicht immer mit ihr einverstanden, das darf auch so sein. Das war mal die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, von dort komme ich her. Ich kenne auch Christoph Blocher sehr gut, wir wurden beide 1979 ins Parlament gewählt. Wir hatten eigentlich immer einen guten Draht zueinander. Wenns mal nicht gepasst hat, trafen wir uns in meiner Heimat Kandersteg, sind zum Blausee gewandert und haben dort Fisch gegessen. Dann hatten wir wieder ein paar Monate Ruhe.

Die SVP hat sich aber in der Zwischenzeit etwas verändert.
Ja, sie hat sich in einer Weise entwickelt, die mir nicht immer Freude bereitet. Aber sie hat nicht alles falsch gemacht. Die Wahlergebnisse vom letzten Herbst zeigen das.

Was bereitet Ihnen politisch Sorgen?
Das Verhältnis zu Europa. Die EU ist in erster Linie ein Friedensprojekt. Wir sind mittendrin und profitieren davon. Doch die EU hat unglaubliche Probleme mit ihren Ländern. Da kann sie sich nicht noch um diejenigen kümmern, die nicht regelmässig mit am Tisch sitzen, wie wir. Ich sage nicht, wir sollten der EU beitreten, aber früher war der Kontakt schon einfacher – zur EU und zu anderen Ländern –, und das Verständnis für uns war grösser.

Sie sind nun 73 Jahre alt. Anstatt sich Sorgen um die Schweiz zu machen, könnten Sie wandern, Ski fahren, das Berner Oberland geniessen. Was treibt Sie an?
Nun, ich habe jetzt grad zwei Monate in Kandersteg gewohnt und dort das Skifahren und Langlaufen genossen. Aber wie gesagt, an jedem Tag kommt Post von Menschen, die etwas von mir wollen. Wenn ich kann, helfe ich gern. Ganz besonders bei den Jungen. Die Jugendlichen von heute sind die Leader von morgen. Auch aus diesem Grund haben wir nach dem Krebstod meines Sohns Mathias die Jugendsport-Stiftung «Freude herrscht» gegründet.

Sport war für Sie immer ein grosses Thema. Was bedeutet er privat für Sie?
Sport ist die beste Lebensschule. Man lernt zu gewinnen, ohne überheblich zu werden, man lernt zu verlieren, ohne in Weltuntergangsstimmung zu kommen. Man lernt zum Beispiel, Schiedsrichterentscheide zu akzeptieren, und übt sich in Teamgeist, Durchhaltewille, Leistungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft. Jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, Fehler zu machen, ohne dass es Konsequenzen hat. Das geht in der Kultur und im Sport. Man erfährt: Wie reagiert mein Temperament, mein Charakter bei einer roten Karte? Oder wenn ich gewinne? Bleibe ich fair?

Sie reden von Fairness. Wie haben Sie den Fifa-Skandal erlebt?
Das ist schlimm. In meiner Zeit als Sportminister verhalf auch ich Josef Blatter zu seinem Posten als Präsidenten. Man hat viel für ihn gemacht, aber er hat es leider versäumt …

Sind Sie enttäuscht von Josef Blatter?
Es ist eine Tragödie. Sein tiefer Fall tut mir leid. Er war im Februar nicht einmal mehr zum Fifa-Kongress eingeladen. Das ist hart und demütigend. Fussball ist sein Leben. Und plötzlich wird er davon ausgeschlossen. Er muss wirklich büssen. Auf der anderen Seite hat er in entscheidenden Momenten offensichtlich den Durchblick verloren und den Rücktritt verpasst.

Seit 24 Jahren ist Ihr «Freude herrscht!» ein geflügeltes Wort. Nervt das langsam?
Nein. Ich wurde viel belächelt. Heute sollte ich Tantiemen für meinen Spruch verlangen. Ich wäre ein reicher Mann. So ein Spruch muss einem zuerst mal im richtigen Moment in den Sinn kommen.

Und die Neujahrsrede 2000 vor dem Tannenbäumli?
Auch dafür muss man zuerst eine Idee haben. Alle Bundespräsidenten vor mir haben aus dem Bundeshaus referiert. Meine Frau sagte: «Geh doch mal raus!» Also habe ich mich mit einem Tannli vor den Lötschbergtunnel gestellt. Zugegeben, die Aufnahme war nicht einwandfrei: Ich musste regelrecht schreien, und vor meinem Gesicht wirbelte der Schnee. Man hätte meinen können, ich hätte Schaum an den Lippen. Doch ich habe sehr viel Zuspruch für die Rede erhalten. Authentisch zu sein, war mir immer wichtig. Die Anerkennung dafür erfahre ich noch heute. Sogar wenn ich in Zürich herumlaufe, sagen die Leute auf der Strasse: «Grüessech, Herr Ogi.»

(Publiziert im Migros-Magazin, Mai 2016. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Yvette Hettinger. Bild: Michael Sieber)

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Toni Brunner und Hans Stöckli im DSI-Streitgespräch

SP-Ständerat Hans Stöckli und SVP-Präsident Toni Brunner streiten über die Durchsetzungsinitiative (DSI). Einig sind sich nur in einem Punkt: Opfern von Verbrechen soll Gerechtigkeit widerfahren.

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Toni Brunner, der Widerstand gegen die Durchsetzungsinitiative (DSI) ist enorm, selbst einige SVP-Exponenten haben sich distanziert. Geht die Initiative nicht doch zu weit?

Toni Brunner: Mich beeindruckt dieser Widerstand nicht. Hingegen beeindruckt mich die Liste von 57 000 ausländischen ­Verbrechern, die im vergangenen Jahr verurteilt wurden. Mich beeindrucken 155 000 Unterzeichner unserer Volksinitia­tive, die das ­Sicherheitsempfinden im Land verbessern möchten. Und mich beeindrucken die 1,4 Millionen, die zurAusschaffungsinitiative vor fünf Jahren Ja gesagt haben.

Hans Stöckli: Die breite Opposition ist da, um Ihnen, Herr Brunner, zu erklären, dass Sie nicht ehrlich sind. Sie reden zwar von einer Ausschaffungsinitiative, die umgesetzt werden soll, verlangen aber mit der DSI viel mehr. Die SVP sagte ursprünglich, dass sie mit jährlich 1500 Ausschaffungen rechne und nur schwere Verbrechen so sanktioniert würden. Bei der DSI reden Sie nun plötzlich von 18’000 Ausschaffungen pro Jahr – eine enorme Verschärfung.

Nochmals, Herr Brunner: Die breite Opposition gibt Ihnen nicht zu denken?

Brunner: Nein. Herr Stöckli, Philipp Müller von der FDP und andere wirken auf mich momentan eher wie Gratisanwälte krimineller Ausländer. Ich stehe aus Überzeugung auf der Seite der Opfer.

Stöckli: Ach was! Wir wollen ebenfalls Sicherheit, und dass alle Ausländer bestraft werden, die sich in der Schweiz nicht korrekt verhalten. Aber wir wollen das in einem rechtsstaatlich korrekten Verfahren machen. Wir setzen uns nicht für kriminelle Ausländer ein, sondern für Rechtsstaatlichkeit. Die Schweizer Verfassung beinhaltet zum Beispiel die Gewaltentrennung. Richter wenden Gesetzesartikel an, sie sollten nicht zu automatischen Durchsetzungsmaschinen für Bestimmungen aus dem stillen SVP-Kämmerchen degradiert werden. Die DSI hebelt zudem das Parlament aus, weil diese Gesetzesbestimmungen ohne Mitwirkung der gesetzgebenden Behörde direkt angewendet werden müssten. So etwas gab es noch nie. Auch darum haben am vorletzten Tag der Wintersession innerhalb kürzester Zeit 40 Kollegen aus dem Ständerat mein Manifest unterschrieben und signalisiert, dass dieser Verfassungsbruch nicht geduldet werden darf.

Brunner: Aber die Schweizer Bevölkerung soll dulden, dass das Parlament sich um einen Verfassungsartikel foutiert? Die Härtefallklausel, wie sie bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative geplant ist, wurde vom Volk verworfen.

Stöckli: Um den Willen des Volkes umzusetzen, bin ich bis an die Grenzen dessen gegangen, was ich mit meinem Gewissen und unserer Verfassung noch vereinbaren konnte. Und diesen Willen haben wir hart umgesetzt.

Brunner: Hoffentlich auch! Der Verfassungsartikel und damit auch der Volkswille muss ja im Gesetz zum Ausdruck kommen.

Warum braucht es die DSI überhaupt?

Brunner: Im November 2010 hat das Volk die Ausschaffungsinitiative für kriminelle Ausländer angenommen. Gleichzeitig hat es einen Gegenvorschlag von Parlament und Bundesrat abgelehnt, der dem Richter bei den Ausschaffungen einen Ermessensspielraum geben wollte. Wir spürten von Anfang an den Widerwillen im Departement Sommaruga, sich der Umsetzung des neuen Verfassungsartikels anzunehmen. Mit der DSI wollten wir unserem Anliegen Nachdruck verleihen – im Wissen darum, dass wir die Initiative hätten zurückziehen können, wenn das Parlament den Artikel im Sinne des Volkes umgesetzt hätte. Lange sah es nach einem Kompromiss im Parlament aus, aber dann drehte sich der Wind im Ständerat. Herr Stöckli war dafür mitverantwortlich. Plötzlich stand wieder eine Einzelfallprüfung durch den Richter im Gesetz, das es letztlich seinem Urteil überlässt, ob ein Krimineller ausgeschafft werden soll oder nicht.

20622778Stöckli: Das Problem ist nur, dass Sie bei der DSI nun plötzlich strengere Massstäbe anlegen. Die beschlossene Umsetzung der Ausschaffungsinitiative bringt bereits eine gewaltige Verschärfung. Die kommt in jedem Fall, auch wenn die DSI abgelehnt würde. Unter diesen neuen Bestimmungen werden viel mehr Ausländer ausgeschafft, jährlich etwa 4000. Ausländer, die schwere Verbrechen begehen, haben hier nichts zu suchen, da gebe ich Ihnen recht. Aber man kann doch einen Secondo nicht einfach über den gleichen Leisten schlagen wie einen Kriminaltouristen.

Brunner: Unsere Initiative ist nicht strenger, nur präziser. Wir haben konkretisiert, dass schwerkriminelle Straftaten wie Mord und Vergewaltigung zu direkter Landesverweisung führen. Und dass eine Wiederholungstat vorliegen muss, wenn es um weniger schwere Straftaten geht. Obwohl ich immer wieder staune, was Frau Sommaruga als Bagatelldelikt abtut. Ein Faustschlag ins Gesicht ist für mich kein Bagatelldelikt. Und ein Einbruch erst recht nicht.

Die DSI will den Spielraum der Richter stark beschränken.

Brunner: Es gibt auch Beispiele, die zeigen, dass der Spielraum der Richter eingeschränkt wurde, etwa bei massiven Geschwindigkeitsüberschreitungen im Strassenverkehr. Dort hat das Parlament von sich aus Automatismen eingeführt.

Diese betreffen aber alle in der Schweiz wohnhaften Personen. Die DSI verlangt anderes Recht für Schweizer und Ausländer.

Brunner: Vorab: Die Ausländer und Ausländerinnen, die sich integrieren und sich an unsere Gesetze halten, haben nichts zu befürchten. Wenn jemand jedoch kriminell wird, unabhängig davon, ob er hier geboren ist oder nicht, hat das Konsequenzen. Ein Secondo kann sich ein ganzes Leben lang erleichtert einbürgern lassen, wenn er das will. Das ergibt einige wenige zusätzliche Privilegien wie etwa das Stimm- und Wahlrecht. Der Gesetzgeber ist in der Schweiz nun mal das Volk; es kann auch die Verfassung ändern.

Hat denn das Volk immer recht?

Brunner: Das Volk hat nicht immer recht. Ich bin häufiger in der Minderheit als in der Mehrheit. Aber wir haben eine Demokratie. Und die funktioniert nur, wenn man die Volksrechte ernst nimmt. Dennoch passiert es immer öfter, dass man Volksentscheide negiert.

Stöckli: Das tut auch die SVP, zum Beispiel bei der Alpeninitiative oder der Kulturlandinitiative im Kanton Zürich.

Brunner: Die Alpeninitiative wird mit der zweiten Röhre am Gotthard respektiert, ein Kapazitätsausbau müsste erneut vor das Volk. Und betreffend den Erhalt von wertvollem Kulturland für die Nahrungsmittelproduktion sind wir uns einig.

Verletzt die DSI die Gewaltentrennung?

Brunner: Wir haben in der Schweiz eine besondere Staatsform, die immer öfter auf einer bestimmten Ebene geritzt wird. Nämlich insofern, als Volksentscheide gar nicht oder nicht richtig umgesetzt werden. Leider findet man immer wieder Gründe, das zu tun. Das hinterfragt niemand, und das macht mich wütend. Der Gesetzgeber oder Richter kann sich über demokratische Entscheide hinwegsetzen. Mir ist schon klar, warum man sich jetzt mit Händen und Füssen gegen die DSI wehrt: Man müsste akzeptieren, dass das letzte Wort wirklich beim Volk bleibt. Und das passt vielen nicht.

Stöckli: Sie verkaufen die DSI mit dem Argument, das Parlament habe seine Aufgaben nicht gemacht. Aber das stimmt einfach nicht. Wir haben den Volkswillen bis zur rechtsstaatlich gerade noch akzeptierbaren Härte umgesetzt und sogar den Deliktekatalog der Ausschaffungsinitiative erweitert. Ich bin in meiner eigenen Partei stark dafür kritisiert worden, dass ich euch bei der Härtefallklausel so weit entgegengekommen bin. Schon da haben wir nämlich praktisch einen Automatismus eingeführt. Der Richter kann sein Ermessen nur ausnahmsweise anwenden, wenn es um einen «schweren persönlichen Härtefall» geht. Das würde in höchstens 20 Prozent der Fälle passieren. Und schon das ist eine Ritzung des Verhältnismässigkeitsprinzips.

Brunner: Jeder Anwalt wird für seinen Mandanten einen Härtefall geltend machen. Es ist dann schnell die Regel und keine Ausnahme mehr.

Stöckli: Ausserdem würde eine Annahme der DSI ein Chaos auslösen. Die Vollzugsbehörden wüssten gar nicht mehr, welches Recht jetzt gilt, weil dann widersprüchliche Bestimmungen in den Gesetzen stünden.

Brunner: Der Verfassungstext hätte bei einer Annahme Vorrang. Warum soll eine Verfassungsgrundlage plötzlich nicht mehr Vorrang haben?

Stöckli: Es gibt andere Verfassungsbestimmungen, die ebenfalls gelten. Auch haben wir die Europäische Menschenrechtskonvention genehmigt. Diese gibt einen Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, auf die Beachtung des Diskriminierungsverbots und die Achtung des Familienlebens. Die DSI verletzt auch die Bilateralen Verträge.

Brunner: Unter dem Stichwort Familienzusammenführung wird man immer einen Grund finden, schwerkriminelle Ausländer nicht auszuschaffen. Und bei den Bilateralen gibt es folgenden Passus im Freizügigkeitsabkommen: Wenn jemand die Sicherheit in einem Land gefährdet, kann er des Landes verwiesen werden.

Stöckli: Schon, aber nur bei schweren Verbrechen und aufgrund allgemeingültiger internationaler Standards, welche die DSI nicht einhält.

Ist es besser, pauschal zu entscheiden, was ein Härtefall ist, statt dies individuell zu beurteilen?

Brunner: Gegenüber Kriminellen braucht es keine Toleranz. Ausserdem höre ich immer wieder, wie Secondos darunter leiden, wenn sich deren Landsleute nicht an die Spielregeln halten. Dieser Pauschalverdacht kann belasten. Nochmals: Wer nicht kriminell wird, hat nichts zu befürchten. Zudem wird nur schon die präventive Wirkung dieses Verfassungsartikels mehr Sicherheit in unser Land bringen.

Stöckli: Das Problem ist der Automatismus und der Deliktkatalog. Wenn einer mit 20 Jahren 25 Kilometer innerorts zu schnell gefahren ist, dann …

Brunner: Dann zahlt er eine Busse. Das wird gar nicht erfasst.

Stöckli: Wenn er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, wird das sehr wohl erfasst.

Brunner: Dazu muss er aber schon im Raserbereich unterwegs sein, nur dann kommt er vor den Richter. Ich fahre ja auch gern zügig, und was ich bisher erlebt habe, kann man also mit einer Busse erledigen.

Hans Stöckli hat ein Manifest gegen die DSI verfasst, das von Hunderten aktiven und ehemaligen Parlamentariern und Parlamentarierinnen unterschrieben wurde.

Stöckli: Laut Ihrem Initiativtext reicht eine Geldstrafe, damit im Wiederholungsfall die Ausschaffung droht. Noch schlimmer: Ihr Deliktkatalog umfasst auch Antragsdelikte, also Fälle, in denen das Opfer entscheidet, ob es eine Anklage gibt – somit auch, ob eine ­Ausschaffung droht oder nicht. Das muss man sich mal vorstellen.

Brunner: Aber lediglich Im Wiederholungsfall!

Stöckli: Eben. Und das kann 300 000 bis 500 000 Personen treffen, für vergleichsweise harmlose Delikte.

Wieso fehlt die Wirtschaftskriminalität auf Ihrer Deliktliste, Herr Brunner?

Brunner: Der Gesetzgeber kann den Deliktkatalog jederzeit erweitern. Uns ging es vorab um Delikte gegen Leib und Leben, die ein Opfer unmittelbar spürt. Eine Körperverletzung kann ein lebenslanges Trauma auslösen. Auch ein Einbruch ist für mich nicht einfach ein Bagatelldelikt.

Stöckli: Es fehlt noch einiges anderes im Deliktkatalog, das wir bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative aufgenommen haben, darunter das Planen eines Mordes, eines Raubes oder einer Geiselnahme, das Verbreiten von gefährlichen Krankheiten, das Bauen von Bomben, das Arrangieren einer Zwangsheirat oder das Vornehmen einer Mädchenbeschneidung, aber auch schwere Vermögensdelikte.

Im Grunde geht es ja nur um die Unterschiede in der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, die bei einem DSI-Nein in Kraft tritt. Gewaltverbrecher werden eh ausgeschafft.

Brunner: Ausser es handelt sich um einen «Härtefall». Und besondere Umstände werden im konkreten Einzelfall jedesmal geltend gemacht werden. Es soll kein Pardon geben. Die Zahlen sprechen für unsere Initiative: Im Schnitt sitzen in unseren Gefängnissen 73 Prozent ausländische Straftäter, ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Verbrechen wird von Ausländern verübt. Für uns ist die Initiative eine logische Konsequenz aus der Abstimmung von 2010 über die Auschaffungsinitiative. Fokussieren wir also auf das Wesentliche: Haben wir ein Problem mit Ausländerkriminalität oder nicht? Wie können wir das eindämmen? Es ist nun mal so: Wer im internationalen Vergleich strikte Bestimmungen hat, der schafft auch ein relativ sicheres Land. Und darum geht es doch.

Stöckli: Die haben wir beschlossen – unser neues Gesetz ist viel schärfer als die in Deutschland geplanten neuen Ausschaffungsbestimmungen. Es geht aber auch um die Nebenwirkungen – die sind wichtig, gerade wenn wir über das Wesentliche reden. Die DSI umgeht das Parlament, indem ein Gesetzestext direkt in die Verfassung geschrieben wird, der noch dazu anderen Gesetzestexten widerspricht. Sie degradiert Richter unter Missachtung der Gewaltenteilung zu Maschinen, die etwas automatisch ausführen müssen. Am schlimmsten finde ich, dass die SVP so tut, als hätten wir die Ausschaffungsinitiative nicht umgesetzt, obwohl wir eine massive Verschärfung beschlossen haben, die sogar weitergeht als das, was die Initiative verlangt.

Herr Stöckli, wieder einmal heisst es: die SVP allein gegen alle. Und wieder einmal könnte sie damit Erfolg haben. Wieso tun sich die anderen Parteien so schwer damit, die Befindlichkeit im Volk wahrzunehmen?

Stöckli: Es gibt sensible Bereiche, die politisch einfach instrumentalisiert werden können, dazu gehören Kriminalität und Ausländer. Die SVP bewirtschaftet diese Themen systematisch, weil sie gemerkt hat, dass sich damit politische Erfolge erzielen lassen. Und dagegen anzutreten, ist schwierig. Es ist durchaus auch ein Verdienst der Partei, Themen aufzugreifen, die die Leute beschäftigen. Aber schon James Schwarzenbach hat in den 1970er-Jahren praktisch im Alleingang fast eine Mehrheit für seine ausländerkritische Initiative bekommen, kein Wunder, dass die SVP als stärkste Partei der Schweiz bei diesen Themen immer wieder mal siegt. Dabei spielt aber auch die wirtschaftliche Potenz eine Rolle. Gehen Sie mal durchs Land, zählen Sie die Schäfchenplakate und suchen Sie dann die der Gegner. Sie werden leider kaum etwas finden.

Christoph Blocher hat kürzlich vor einer Diktatur in der Schweiz gewarnt. Seine Gegner fürchten das auch, aber in Bezug auf die SVP.

Brunner: Christoph Blocher meint damit, dass Bundesrat, Parlament oder Verwaltung sich immer häufiger anmassen, einen Volksentscheid umzuinterpretieren, und sich bei der Umsetzung nicht an die Vorgaben der Bevölkerung halten. Hinzu kommt eine Dynamisierung der nationalen und internationalen Rechtsprechung, bei der sich Richter mit ihren Entscheiden immer mehr als Gesetzgeber aufspielen. Auf diese Weise werden die Grundpfeiler unserer direkten Demokratie ausgehöhlt. Das führt dann zur Diktatur der Mächtigen, der Richter, der Verwaltung, der politischen Entscheidungsträger.

Stöckli: Zu Christoph Blochers Behauptung fällt mir vor allem Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» ein. Unser Schweizer System ist sehr ausgeklügelt. Aber es besteht auch ein sehr fragiles Gleichgewicht zwischen den Institutionen. Und nun haben wir da eine rekordstarke Partei, die mit fast 30 Prozent Wähleranteil, mit zwei Bundesräten und viel Geld beginnt, einseitig an diesem Gleichgewicht zu schrauben. Das scheint mir wesentlich heikler zu sein. Zum Glück zeigen Umfragen trotz des Rumhackens der SVP auf der «Classe politique», dass das Sozialprestige der Institutionen im Volk hoch ist, ja eher noch zunimmt – das gilt für den Bundesrat ebenso wie für Richter. Bei der DSI geht es vordergründig um Ausländer, aber die SVP zielt damit auch auf eine Schwächung der Institutionen ab. Zum Glück merken das jetzt immer mehr Leute, und das stimmt mich eben doch zuversichtlich.

Fast alle Parteien, Verbände und NGOs lehnen die SVP-Initiative ab. Selten wurde eine Initiative so einhellig abgelehnt wie die Durchsetzungsinitiative.

Dafür: SVP, EDU, SD, Lega dei Ticinesi, MCG (Mouvement de Citoyens Genevois), Auto-Partei

Dagegen: FDP, CVP, SP, BDP, EVP, Grüne, GLP, CSP, PdA, Economiesuisse, Swissmem, Interpharma, SuccèsSuisse, Zürcher Handelskammer, Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz, Staatsanwältekonferenz, Evangelischer Kirchenbund, Bischofskonferenz, Lehrerverband der Schweiz LCH, Amnesty International, Caritas, VPOD, Unia, SGB, Erklärung von Bern, Augenauf, Avenir Social, Digitale Gesellschaft, Europe’s Human Rights; Watchdog, Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, Frauen für den Frieden, Frauenambulatorium ZH, Gesellschaft für bedrohte Völker, Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, Grundrechte.ch, HEKS, Humanrights.ch, Incomindios Schweiz, Jesuiten-Flüchtlingsdienst, Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, Justitia et pax, Männer.ch, Netzwerk Asyl Aargau, Operation Libero, Peace Watch Switzerland, PeaceWomen Across the Globe, Pink Cross, Reporter ohne Grenzen, Schutzfaktor M, Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände, Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Schweizerischer Friedensrat, Second@s Plus Zürich, Solidarité sans frontières, Stiftung für Effektiven Altruismus, Syna, Terre des femmes, Transgender Network Switzerland, Tsüri hilft!, Verein zur Förderung der Gebärdensprache bei Kindern, Vivre Ensemble, Young European Swiss

(Publiziert im Migros-Magazin, Februar 2016. Das Interview führten Ralf Kaminski und Anne-Sophie Keller. Bilder: Beat Schweizer

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Doris Leuthard im Interview

Bundesrätin Doris Leuthard (52, CVP) kämpft für einen zweiten Strassentunnel durch den Gotthard. Der Alpenschutz sei durch das Projekt nicht gefährdet.

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Doris Leuthard, welche Bedeutung hat der Gotthard für Sie ganz persönlich?
Als Kind verbrachte ich die Sommerferien jeweils bei Verwandten im Tessin. Einen Strassentunnel gab es damals noch nicht. Mit unserem alten Auto krochen wir die Passstrasse hinauf, es röchelte und zischte, und der Vater musste ständig Kühlwasser nachfüllen. Oben angekommen, war ich stets überwältigt von der Landschaft – es ist ein spezieller Berg für die Schweiz.

Ende Februar stimmen wir über den Bau einer zweiten Röhre ab. Weshalb ist diese Lösung zur Sanierung des bestehenden Strassentunnels die beste?
Weil wir die Strassenverbindung stets offen halten können und so auch für alle künftigen Sanierungen gewappnet sind. Technisch machbar wären auch Verladestationen, so würde aber die Strassenverbindung durch den Tunnel für drei bis vier Jahre gekappt. Für den Bau einer zweiten Röhre spricht zudem die Sicherheit. Bei richtungsgetrennten Tunnels passieren weniger Unfälle. Frontalkollisionen können verhindert werden. Deshalb ist diese Verkehrsführung für Strecken mit viel Verkehr inzwischen europäischer Standard.

Leitplanken im bestehenden Tunnel würden die Sicherheit ebenfalls verbessern.
Nein. Wer heute im Gotthard über die Mitte fährt, wird von sogenannten Rüttelstreifen gewarnt. Mit dem Einbau einer Leitplanke würde der Fahrstreifen noch schmäler, was die Gefahr von Kollisionen erhöht. Wenn wir die Sicherheit erhöhen und schwere Kollisionen vermeiden wollen, geht das nur mit einer zweiten Röhre.

Nur kommt diese Variante rund eine Milliarde teurer.
Sie bringt uns aber auch viel mehr! Die Gotthardverbindung bleibt offen, für künftige Sanierungen ist vorgesorgt, und schwere Unfälle können vermieden werden. Sonst müsste je ein Bahntransport für Autos und für Lastwagen erstellt werden. Und trotzdem könnten nur 600’000 Lastwagen pro Jahr den Gotthard auf Schienen queren, der Rest müsste über andere Alpenpässe ausweichen. Nach vier Jahren müsste man zudem die ganze Infrastruktur zurückbauen, weil die betroffenen Regionen keine permanenten Anlagen wollen. Die Investitionen wären verloren – und in 30 bis 40 Jahren müssten wir wieder über die gleichen Fragen diskutieren. Auf Dauer ergibt die Lösung mit der zweiten Röhre darum auch finanziell mehr Sinn. Sie ist schlicht nachhaltiger.

Ein Bericht des Astra kommt zum Schluss, dass die Tunneldecke in besserem Zustand ist als bisher angenommen, eine Sanierung deshalb nicht vor 2035 notwendig ist. Zeit wäre also vorhanden. Weshalb wartet man nicht zu, bis Erfahrungen mit dem neuen Basistunnel in die Überlegungen einfliessen können?
Der Bericht zeigt, dass die Korrosion der Zwischendecke langsamer verläuft als ursprünglich angenommen. Unseren Fachleuten ist es gelungen, mit einer Schutzschicht den Zerfall zu bremsen. Das ändert aber nichts daran, dass der Tunnel umfassend saniert und deswegen für längere Zeit vollständig gesperrt werden muss. Die Kritiker ziehen unverantwortliche Schlüsse aus dem Bericht. Wer die Sanierung hinauszögert, spielt mit der Sicherheit! Wir müssen sicherstellen, dass die Tunneldecke nicht einstürzt.

Mehr Strassen führen zu mehr Verkehr – weshalb soll das am Gotthard nicht zutreffen?
Auf den Nationalstrassen, da sind sich alle Prognosen einig, wird es sowohl bei den Personen als auch bei den Gütern einen Zuwachs geben. Beim Gotthard jedoch sind die Zahlen seit Jahren stabil. Wir sprechen von rund sechs Millionen Fahrzeugen im Jahr. Die Verlagerungspolitik greift. Der 2001 eingeführte Tropfenzähler am Gotthard, der für einen Abstand von 150 Metern zwischen zwei Lastwagen sorgt, liesse mehr Verkehr zu. Doch diese Kapazität wird gar nicht ausgeschöpft. Weshalb sollte sich das plötzlich ändern?

Im Sommer oder an Ostern sind Staus vor dem Gotthard die Regel. Die Versuchung, die zusätzlichen Spuren zu öffnen, wird gross sein.
Das ist ausgeschlossen. Es gibt zum einen den Alpenschutzartikel in der Verfassung, der das verbietet. Zum anderen die im Gesetz neu verankerte Schranke, die den Einspurbetrieb vorschreibt. Ich verstehe die Ängste, aber es gibt keinen rationalen Grund, diesem doppelten Schutz zu misstrauen. Noch einmal: Um die Kapazität am Gotthard zu erhöhen, bräuchte es eine Verfassungsänderung, die Zustimmung von Volk und Ständen. Es reicht nicht, mir einen bösen Brief zu schreiben.

Verfassung und Gesetz sind nicht in Stein gemeisselt. Was, wenn die EU plötzlich Druck macht? Es ergibt doch keinen Sinn, bestehende Kapazitäten nicht zu nutzen.
Das Argument sticht nicht. Die Verfassung ist zwar veränderbar, und so könnte jemand theoretisch auch fordern, die Kantone abzuschaffen. Es gibt keine Garantien für alle Ewigkeit. Jede Generation soll gewisse Fragen für sich beantworten können. Fakt ist aber: Der Alpenschutz ist doppelt gesichert. Weder der Bundesrat noch das Parlament oder die Kantone sind für eine Änderung zu haben. Da sind wir sauber unterwegs – und auch die EU akzeptiert unsere Verlagerungspolitik. Beim Fréjus-Tunnel zwischen Frankreich und Italien macht man im Übrigen genau das Gleiche, wie bei uns geplant ist: Es gibt bald eine zweite Röhre und danach wird der Verkehr richtungsgetrennt einspurig durch den Tunnel geführt.

Ihr Vorgänger Moritz Leuenberger schiesst in einem Interview scharf gegen Ihre Pläne am Gotthard. Ärgert Sie das?
Ich habe mich mehr gewundert als geärgert, wich er doch bei der Kernfrage, wie der Verkehr während der Tunnelsperrung denn sonst bewältigt werden soll, einfach aus. Ohne zweite Röhre müssten im Urnerland und im Tessin riesige Verladestationen für den Transport der Lastwagen auf die Bahn gebaut werden, mit grossen Beeinträchtigungen vor Ort. Langjährige Unterstützer der Alpeninitiative wie Clown Dimitri oder Gewerkschafter Renzo Ambrosetti setzen sich darum für eine zweite Röhre ein.

Was passiert bei einem Nein zur zweiten Röhre?
Dann bliebe der Tunnel für drei bis vier Jahre zu und es bräuchte einen Bahnverlad für fünf Millionen Autos. Dazu müssten die alten Einrichtungen in Göschenen und Airolo reaktiviert werden. Die Belastung wäre gross, im Vergleich zu den Lastwagen aber noch der einfachere Teil. Für die Lastwagen müsste man in Erstfeld und Biasca eine neue Verladeinfrastruktur aufbauen. Das benötigte viel Platz und zu allem her auch noch eine Lockerung des Nachtfahrverbots. Die Folgen wären grosser Landverschleiss, viel Lärm und steigende Emissionen. Deshalb verstehe ich die ablehnende Haltung der Umweltverbände nicht ganz.

Apropos Umwelt: Die Klimakonferenz Ende 2015 war ein Erfolg. Hat die Schweiz ihre Ziele erreicht?
Nicht vollumfänglich. Wir sind aber auch mit hohen Ambitionen angereist. Unser Hauptziel war ein Vertrag, der nicht nur die Industriestaaten in die Pflicht nimmt. Das haben wir erreicht. Auch die Entwicklungsländer müssen nun Reduktionsziele einreichen. Dass ein kleiner Inselstaat, der vom steigenden Meeresspiegel in seiner Existenz bedroht ist, eine andere Agenda verfolgt als etwa China oder Indien, ist klar.

Die Industriestaaten sind an der Situation in China ja nicht ganz unschuldig.
Natürlich gibt es eine historische Verantwortung der Industriestaaten. Darum sind wir auch bereit, tiefer in die Tasche zu greifen als andere. Irgendwann ist diese Schuld aber beglichen. Europa ist heute für 13 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, die Entwicklungsländer für über 50 Prozent. Indien und China gehören zu den grössten Sündern. Auch die Schweiz hat noch Verbesserungspotenzial – aber auf einem viel tieferen Niveau.

Welcher Kompromiss schmerzt Sie am meisten?
Bei der Finanzierung hätte ich gern mehr Staaten in die Pflicht genommen. Singapur, Kuwait und Saudi-Arabien gelten immer noch als Entwicklungsländer. Obwohl die Menschen dort ein ziemlich hohes Einkommen haben und so auch mehr Verantwortung übernehmen können. China ist finanzkräftig und tätigt ja auch in hohem Masse Investitionen in Afrika, um seinen massiven Energiebedarf abzudecken. Als Mitglied der G-20 gehört man nicht nur zu den Mächtigen der Welt, man hat auch eine finanzielle Verantwortung.

In drei Jahren gibt es die erste Zeugnisvergabe, die nationalen Klimaprogramme werden überprüft. Mit welchen Noten rechnen Sie?
Die Schweiz wird sich nicht verstecken müssen. Mit 6,3 Tonnen CO2 pro Person und Jahr sind wir schon heute ein tiefer Emittent. In der EU sind es 8,7 Tonnen.

Klimaverträglich wäre eine Tonne.
Das ist ein ambitiöses Fernziel unter der Voraussetzung, dass sich alle auf diesem Level einpendeln. Bei den Emissionen pro Kopf haben wir in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Weniger gut sind wir beim Verkehr. Unsere Nahrungsmittel legen zu grosse Distanzen zurück. Wenn die Leute häufiger das essen würden, was in der Schweiz produziert wird, wäre das ein Fortschritt. Da braucht es eine Sensibilisierung: Wir müssen unser Konsum- und Mobilitätsverhalten hinterfragen. In der Energiepolitik wollen wir weg von Öl, Gas und Kohle und setzen auf Erneuerbare. Die Ziele lauten: Verbrauch reduzieren und mehr Effizienz.

Bisher fällt die Bilanz ernüchternd aus. Gerade ist die Schweiz in einem Klima-Rating aus den Top Ten gefallen. Hat der Klimaschutz hierzulande an Stellenwert verloren?
Bei dem Rating, das Sie ansprechen, wurde die Finanzierung sehr stark gewichtet. Andere Ranglisten führen wir an. Entscheidend sind im Übrigen nicht Ankündigungen, sondern was wirklich getan wird. In der Schweiz können Sie darauf zählen, dass wir machen, was wir ankündigen. Und zwar relativ schnell und korrekt. Ich werde dem Parlament eine Vorlage unterbreiten, was es bis 2030 anzupacken gilt.

Das neue Parlament hat eine bürgerliche Mehrheit. Ihnen stehen harte Zeiten bevor.
In Paris hat US-Aussenminister John Kerry für das riesige Potenzial geworben, das in grünen Innovationen steckt. Manchen in der Schweiz ist noch zu wenig bewusst, dass sich da eine riesige Chance bietet. Die Welt verändert sich, ob man das mag oder nicht. Dekarbonisierung und Erneuerbare – diese Entwicklung ist nicht zu stoppen. Wenn wir das verschlafen, gehören wir auf lange Sicht zu den Verlierern.

Was unternehmen Sie, damit das nicht eintrifft?
Seit 2008 macht sich der Bundesrat stark für umweltfreundliche Technologien. Momentan mag der Ölpreis tief sein und kaum Anreize bieten, alternative Energiequellen zu forcieren. Wir wissen aber, dass sich das wieder ändern wird. Unsere Unternehmen haben sich bisher immer dadurch ausgezeichnet, Trends frühzeitig erkannt und auf Innovationen gesetzt zu haben. Paris hat die Stossrichtung aufgezeigt: Das Geld wird umgeschichtet von braun auf grün.

Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat bisher wenig Verständnis für diese Stossrichtung gezeigt.
Das ist so. Ich verstehe, dass die Wirtschaft unter dem starken Franken leidet. Deshalb können wir aber nicht die nächsten fünf Jahre auf Reformen verzichten. Pharma- und Uhrenindustrie haben es vorgemacht: Wer Neues wagt, verschafft sich dadurch oft einen Vorsprung und kann höhere Preise verlangen. Dann ziehen die anderen nach, und man muss abermals besser werden.

Momentan prägen die Konflikte im Nahen Osten und die damit verbundenen Folgen die Debatte. Hat Klimapolitik überhaupt noch Platz in der politischen Agenda?
Wir haben ein Abkommen erreicht. Trotz der extrem schwierigen Fragen, die mit den grossen Migrationsströmen, den hohen Arbeitslosenquoten und schlechten Wachstumszahlen in vielen Ländern zusammenhängen. Das ist eine Riesenleistung. Die Einsicht ist da, dass wir so nicht mehr weitermachen können. Die Probleme liegen auf dem Tisch. Jetzt geht es darum, Verantwortung zu übernehmen.

Das letzte Wort haben aber die Parlamente – und die setzen oft andere Prioritäten.
Deshalb braucht es gute Argumente. Die ganze Welt werden wir nicht in zwei Jahren verändern. Es ist ein Prozess. Zudem gilt es, die Kosten des Nichtstuns vor Augen zu halten. Unseren Enkeln drohen Überschwemmungen und Dürren – und dafür aufkommen wird der Steuerzahler, wenn wir nicht Gegensteuer geben. Sich zurückzulehnen, ist also keine gute Lösung. Jetzt ist der richtige Moment dafür da, das Blatt zu wenden.

Ein Atomausstieg würde das Blatt definitiv wenden. Aber der scheint nach den Wahlen in noch weitere Ferne gerückt.
Die SVP ist dagegen, bei der FDP weiss man es nicht so recht. Mit diesen Parteien müssen wir in dieser Sache das Gespräch suchen. Aber was wäre denn die Alternative?

Sagen Sie es uns.
Weiter wie bisher? Kernkraftwerke (KKW) gehen früher oder später vom Netz. Ich habe zwar immer noch drei Gesuche für neue KKWs in der Schublade, doch das rechnet sich nicht mehr. Keiner der Stromriesen ist daran interessiert. Die Kosten für den Bau neuer KKWs sind zu hoch und das Abfallproblem ist auch nach 40 Jahren immer noch nicht gelöst.

Die Initiative «Grüne Wirtschaft» und der Gegenvorschlag sind im Parlament abgestürzt. Welche Hoffnung für griffige Massnahmen bleibt Ihnen?
Die Initiative geht zu weit. Im heutigen Umweltschutzgesetz aus den Achtzigern finden Sie das Wort Ressourceneffizienz aber nicht. Damals fokussierte man auf den Gewässerschutz und den Waldschutz. Heute haben wir ganz andere Herausforderungen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: mehr Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz. Die vorgeschlagene Änderung fand nun zwar keine Mehrheit. Das Problem ist aber nicht aus der Welt. Wir müssen einen anderen Ansatz finden.

Wie könnte ein solcher aussehen?
Wir müssen die Gespräche mit den verschiedenen Branchen suchen und sie von den Vorteilen überzeugen, freiwillig auf Ressourceneffizienz zu setzen. Vielleicht helfen auch Standards.

Am 9. Dezember wurden Sie mit 215 Stimmen wiedergewählt. Was bedeutet Ihnen dieses Glanzresultat?
Ich bin auf jeden Fall zunächst einmal dankbar, dass es so herausgekommen ist. Die Parteien wollten sich am Wahltag nicht wehtun. Das ist gut für den Bundesrat. Wir sind ein Gremium, das gemeinsam die Probleme des Landes angehen muss.

Sie gelten als schlagfertige Strahlefrau mit den zufriedensten MitarbeiterInnen – was machen Sie besser als andere Bundesräte?
Sehr viele Bundesratsgeschäfte betreffen das UVEK. Das ist viel Arbeit. Da ich nicht überall Expertin sein kann, bin ich darauf angewiesen, dass mein Team die wichtigsten Dossiers gut vorbereitet – dann diskutieren wir. Ich lege Wert darauf, dass alle mitdenken. Sie müssen mich auf kritische Punkte hinweisen und Lösungen miterarbeiten. Ich will gestalten, nicht nur verwalten.

Vor vier Jahren gab es noch eine weibliche Mehrheit im Bundesrat, heute sind die Frauen nur noch zu zweit. Was wird anders?
Es ist kein Geheimnis, dass wir Frauen uns gut verstanden haben – obwohl wir unterschiedliche Persönlichkeiten und politisch unterschiedlich verankert sind. Es gibt Erfahrungen, die man nur als Frau macht, das verbindet. Jetzt sind wir halt nur noch zwei Frauen, die dann und wann gemeinsam ein Cüpli trinken gehen. An dem wird sich nichts ändern.

Seit fast zehn Jahren sind Sie jetzt Bundesrätin. 2017 könnten Sie noch einmal Bundespräsidentin werden. Was wollen Sie noch erreichen?
Jetzt bin ich für vier Jahre wiedergewählt. Die Energiepolitik liegt mir am Herzen, diese möchte ich weiter vorantreiben. Beim Verkehr steht nach der Gotthardabstimmung mit dem Strassenfonds das nächste Grossprojekt auf dem Programm. Weitere Stichworte sind der Service public, die Digitalisierung, die Europafrage. Sie sehen: Die Arbeit geht mir nicht aus.

(Erschienen im Migros-Magazin, Januar 2016. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Peter Aeschlimann. Bild: Beat Schweizer)

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Carla Del Ponte: «Mein Golf-Handicap ist nicht unter 20 – daran ist Syrien schuld»

Als Uno-Chefanklägerin machte sie acht Jahre lang Jagd auf Kriegsverbrecher. Seit September 2012 untersucht sie Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Carla Del Ponte über den Kampf gegen einen hoffnungslosen Krieg und ihr Engagement für mehr Menschlichkeit.

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Carla Del Ponte, am 15. Oktober haben Sie den von der Tertianum-Stiftung verliehenen Preis für Menschenwürde erhalten. Was machen Sie mit den 10 000 Franken Preisgeld?
Das Geld verwende ich für ein Schulprojekt in der libanesischen Bekaa-Ebene, wo die ärmsten Flüchtlinge aus Syrien leben. Man darf nie vergessen: In Syrien wächst eine verlorene Generation heran. Der Preis ist eine besondere Ehre, weil es die erste Auszeichnung ist, die ich in der Schweiz erhalten habe. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Der Anlass bot mir zudem die Gelegenheit, über Syrien zu sprechen.

Die Uno hat zum vierten Mal Ihr Syrien-Mandat verlängert. Was nützt Ihre Arbeit der syrischen Bevölkerung?
Seit September 2012 untersuche ich als Mitglied der unabhängigen Syrien-Kommission der Uno Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im syrischen Bürgerkrieg. Die Kommission schreibt alle sechs Monate einen Bericht zuhanden des UN-Menschenrechtsrats und des UN-Sicherheitsrats. Normalerweise interveniert der Sicherheitsrat nach dem ersten Bericht. Doch hier ist er blockiert, denn Russland hat das Veto eingelegt und einen Resolutionsentwurf zur Zuweisung des Falls an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag verweigert. Wir waren sogar vor dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung in New York. Ich habe alle meine Beziehungen genutzt. Doch es geschieht nichts. 2012 sagte die Schweizer Regierung, mein Mandat würde sechs Monate dauern – nun sind wir im vierten Jahr.

Ist der Konflikt in Syrien überhaupt lösbar?
Jeder Konflikt ist lösbar. Die Frage ist bloss, wann. Der Flüchtlingsstrom nach Europa erhöht den Druck, einen schnelleren Weg in Richtung Frieden zu finden. Ich persönlich finde es gut, dass Russland interveniert und mit militärischen Aktionen gegen terroristische Gruppen wie den Islamischen Staat (IS) oder die Al-Nusra-Front vorgeht. Es ist jetzt besonders wichtig, dass Russland mit den USA ein Abkommen darüber schliesst, wie der Krieg gegen den IS durchgeführt werden soll. Wenn die terroristischen Gruppen vernichtet sind, wird es einfacher sein, eine politische Lösung zu finden. Um Frieden zu erzielen, muss man sich mit dem institutionellen Präsidenten zusammensetzen – in diesem Fall mit Assad. Doch die USA wollen nicht mit ihm verhandeln. Und mit terroristischen Gruppen kann man erst recht nicht verhandeln. Also geht der Krieg weiter und fordert Tausende von Menschenleben. Bis jetzt gibt es über 200 000 Tote und 11 Millionen Vertriebene.

Einige halten Assad für das kleinere Übel als die Söldner des IS.
Assad steht derzeit nicht mehr im Mittelpunkt. Was der IS macht, ist strafrechtlich gesehen schlimmer. Doch auch Präsident Assad muss «kriminelle Verantwortung» übernehmen.

Was kann die Schweiz in diesem Konflikt tun?
Direkten Einfluss kann sie natürlich nicht ausüben, dafür ist sie zu klein. Aber sie hat die nötigen Ressourcen und das nötige Wissen, um Hilfe im humanitären Bereich leisten zu können.

Eigentlich wären Sie pensioniert. Was treibt Sie an?
Wir machen etwas Wichtiges. Wir haben eine grosse Datenbank mit Beweisen und arbeiten weiter in der Hoffnung, dass diese Arbeit irgendwann zu mehr Gerechtigkeit führen wird. Ich muss das tun. Ich bin die Einzige in der Kommission, die Erfahrung im Ermitteln hat. Die anderen sind Professoren. Zudem stehen 14 Personen zur Verfügung, die wir für Ermittlungen in die Nachbarländer schicken können. Solange ich dabei bin, weiss ich, dass die Kommission gute Arbeit leistet.

Wie ermitteln Sie? Sie reisen ja nicht persönlich nach Syrien.
Wichtig sind Befragungen von Flüchtlingen. Wir reisen in die Nachbarländer und versuchen, so viele objektive Zeugeneinver-nahmen wie möglich durchzuführen, um Beweise zu sammeln. Via Skype und Telefon stehen wir in Kontakt mit Zeugen in Syrien. Ausserdem erhalten wir Dokumentationen von verschiedenen Staaten oder stützen uns auf Informationen von Nichtregierungsorganisationen.

1999 wurden Sie Uno-Chefanklägerin. Wie war das damals?
Für unsere Aussenpolitik war eine Schweizer Kandidatur gut. Ruth Dreifuss, die damalige Bundespräsidentin, und Uno-Generalsekretär Kofi Annan wollten unbedingt, dass ich den Posten annehme. Ich jedoch wollte zuerst einen wichtigen Prozess abschliessen. Natürlich musste ich schliesslich zusagen und den Fall abgeben.

Als Chefanklägerin waren Sie unter anderem für das ehemalige Jugoslawien zuständig. Radovan Karadžić und Ratko Mladić konnten Sie nicht festnehmen; Slobodan Milošević starb während des Prozesses. Schmerzen Sie diese Niederlagen heute noch?
Nein. Natürlich war ich anfangs wütend. Aber an solchen Dingen darf man sich nicht aufhängen – man muss sich an guten Dingen festhalten. Zudem stehen Karadžić und Mladić mittlerweile vor Gericht und werden ohne Zweifel zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.

Nach Ihrer Zeit in Den Haag waren Sie Botschafterin in Argentinien. Sie gelten jedoch als kompromisslos − keine optimale Voraussetzung für einen Posten in der Diplomatie.
Ich bin ehrlich und sage immer die Wahrheit. Das war schon immer so. Als Botschafterin habe ich gelernt, diplomatisch zu sein. Und ich hatte einen guten Stellvertreter, der sich um den Papierkram kümmerte. Bei der Kommunikation mit Bern war schon ein Komma zu viel oder zu wenig ein Thema – dafür hätte ich keine Energie gehabt. Seit sieben Jahren war man damit beschäftigt, über Rechtshilfe in Strafsachen zwischen der Schweiz und Argentinien zu verhandeln – ich habe den Vertrag innert weniger Monate durchgepeitscht. Das war mein Fachgebiet.

War Ihnen die Arbeit dort nicht zu langweilig?
Nein, ich konnte viele spannende Arbeiten erledigen. Zudem stand ich in engem Kontakt mit der Präsidentin von Argentinien, ich arbeitete mit den dortigen Staatsanwälten zusammen oder hielt Vorträge an Universitäten. Und an freien Wochenenden spielte ich fleissig Golf.

Ihr Handicap soll noch immer nicht unter 20 sein.
Nein, daran ist Syrien schuld! Ich wäre schon längst unter 20, wenn ich mehr Zeit hätte.

Nebst dem Golfsport mögen Sie auch Bridge, ausserdem schnelle Autos, Schmuck und teure Handtaschen: Haben Sie überhaupt genug Zeit, um all diese Dinge geniessen zu können?
Jetzt, da ich eigentlich pensioniert bin, schon eher. Aber ich halte nebenbei immer noch einige Vorträge. Meinem Agenten habe ich gesagt: Noch das nächste Jahr, dann basta. Ich möchte einen Roman schreiben, einen Krimi.

Haben Sie schon damit angefangen?
Das Golfen, meine Enkelkinder und Syrien halten mich auf Trab. Aber ich habe bereits einen Titel für das Buch und viele Ideen; ich habe ja Erfahrung mit Kriminalität. Die Geschichte wird in der Schweiz spielen und natürlich auch auf internationalem Parkett. Mal schauen, ob ich Zeit dafür finde.

Apropos Schauplatz Schweiz: Solange bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative keine Lösung in Sicht ist, bleiben auch andere Dossiers liegen. Nun soll Jacques de Watteville als EU-Chefunterhändler der Schweiz in Brüssel die Verhandlungen koordinieren. Was halten Sie davon?
Als Chefanklägerin des Internationalen Gerichtshofs ging ich oft nach Brüssel. Dort gibt es eine grosse europäische Karte mit einem winzig kleinen, weissen Punkt … Die Schweiz muss sich entscheiden, ob sie draussen bleiben will oder nicht. Wir können nicht bloss die Vorteile geniessen. Früher oder später muss die Schweiz der EU beitreten. Wir müssen mitreden. Aber ja, ich bin eine Schweizerin im Ausland, und die Situation ist sehr verzwickt.

Stichwort verzwickt: Hatten Sie nie Interesse, der Fifa auf die Finger zu schauen?
Wissen Sie, vor zwei oder drei Jahren fragten mich die Amerikaner, ob ich der Fifa-Kommission beitreten wolle. Sie sagten, sie bräuchten mich. Ich sagte Ja, aber es kam dann doch nicht so weit. Mittlerweile verstehe ich, warum … Umso wichtiger ist es, dass die Bundesanwaltschaft in dem Fall nun ermittelt.

Als Sie gegen die Mafia ermittelten, standen Sie unter ständiger Lebensgefahr. Wie gingen Sie damit um?
Nun, das ist kein Zustand, der von heute auf morgen eintritt. Man kann sich anpassen. Natürlich brauchen wir Sicherheitsleute. Doch ich habe immerhin das 68. Lebensjahr erreicht – bis jetzt habe ich alles überlebt. Also machen wir weiter! Ich bin Fatalistin: Wenn ich eines Tages durch ein Attentat sterbe, dann soll es um Gottes Willen so ein. Wenn es nicht passiert, umso besser.

1989 entgingen Sie im Ferienhaus auf Sizilien nur knapp einem Sprengstoffanschlag.
Ja, ich erinnere mich noch genau. Zuerst denkt man natürlich ans Aufhören. Drei Jahre später wurde mein Freund, der italienische Richter Giovanni Falcone, getötet. Wenn so etwas geschieht, hat man Angst und denkt: basta! Aber mit der Zeit wägt man Pro und Kontra ab und entscheidet sich anders. Jemand musste die Arbeit ja fortsetzen.

Ihrem Vater wäre es lieber gewesen, Sie hätten geheiratet und ihn keine Studiengelder gekostet. War das Jurastudium eine Trotzreaktion?
Er hatte schon drei Söhne, die an der Universität studierten. Er verstand nicht, warum ich auch noch studieren wollte, wenn ich später doch ohnehin heiraten und die Arbeit aufgeben würde. Zuerst wollte ich Medizin studieren, doch das hätte 8 Jahre gedauert. Also habe ich mich für Recht entschieden, da dieses Studium nur 4 Jahre dauert. Es war sozusagen ein Kompromiss. Mein Vater war später natürlich stolz auf mich. Gesagt hat er es allerdings nie.

In Ihrem Buch «Im Namen der Anklage» beschreiben Sie Ihre Mutter als selbstbewusste Frau mit einem freien Geist. Sie betreute Ihren Sohn wochentags. Inwiefern hat Sie das beeinflusst?
Meine Mutter hat mich enorm geprägt. Sie sagte, dass man, wenn man im Recht sei, dieses verteidigen müsse. Und dass man Kraft habe, solange man der Wahrheit treu bleibe. Sie hatte einen starken Charakter – wie alle in unserer Familie.

Sie sagen, Ruanda hätte Ihr Vertrauen in die Menschheit erschüttert.
Ich besuchte dort die Ntarama-Kirche, wo am 15. April 1994 rund 5000 Zivilisten getötet worden waren. Heute ist es eine Grabstätte voller Knochen. Bei meinem Besuch war dort kein Leben mehr. Als ich die Massengräber sah, begann ich innerlich bereits mit der Arbeit. In Gesprächen mit Angehörigen der Opfer oder mit Überlebenden spürt man jedoch, welches Leid diesen Menschen widerfahren war. Das lässt keinen kalt. Auch die Frauen von Srebrenica werde ich nie vergessen. Eine Frau erzählte mir, dass sie vor ihren drei Kindern vergewaltigt worden war und anschliessend zusehen musste, als diese getötet wurden. Das immense Leid dieser Mutter und wie sie weiterleben kann, kann man sich nur schwer vorstellen. Darum müssen Kriegsverbrecher verurteilt werden – als Genugtuung für die Opfer.

Sie haben Grausames gesehen. Hat das Ihren Glauben verändert?
Meinen Glauben und meine Arbeit habe ich immer getrennt. Glauben ist kompliziert genug.

(Erschienen im Migros-Magazin, Oktober 2015. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Reto Wild. Bilder: Gian-Marco Castelberg)

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Boy George über Ängste, Menschlichkeit und das Streben nach Glück

Der Vorabend der Street Parade wirkt beinahe surreal. In der Gegend um den Zürcher Bürkliplatz ist es erstaunlich still. Hier im Hotel Baur Au Lac treffe ich Boy George, 80er Ikone und Poplegende, zum Interview.

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Im Vorzimmer warten der Fotograf und ich gebannt auf unseren Termin. Als wir den Raum betreten, bin ich überrascht: Anstatt auf einen Paradiesvogel treffe ich auf einen Gentleman in schwarz. Ungeschminkt, normal gekleidet, freundlich dasitzend. Ich werde mit einem «Hi, I like your outift» und einem warmen Lächeln begrüsst. Als ich die ersten Fragen stelle, merke ich: Boy George ohne Make-Up ist einfach nur George Alan O’Dowd.

In den 80ern warst du eine Ikone und noch heute bist du sehr berühmt. Wie erklärst du dir das?
Ich bin immer mich selber geblieben, auch wenn ich dumme Sachen gemacht habe. Vielleicht mögen dass die Leute. Menschlich zu sein, ist etwas ganz Wichtiges. Ich finde die Leute seltsam, die mich nicht mögen. Zur Hölle, die kennen mich ja nicht Mal!

Hast du Angst vor dem Aussergewöhnlichen?
Ich finde nicht, dass ich so seltsam bin. Ich laufe zwar mit Make-Up rum aber als Mensch bin ich doch wie jeder andere. Wenn du mich kennenlernen würdest, wärst du überrascht, wie unkompliziert ich eigentlich bin.

Du bist berühmt für dein Styling. Wie ziehen sich die Leute heutzutage an?
Es gibt immer eine neue Generation, die sich verrückt anzieht. In London zum Beispiel gibt es viele Kids, die dasselbe, was wir vor 30 Jahren gemacht haben, heute wieder tragen – einfach auf ihre Art. Wenn du jetzt 14 Jahre alt bist und eine Person wie Lady Gaga anschaust, findest du das total revolutionär.

Was hältst du eigentlich von ihr?
Ich hab David Bowie gesehen, als ich zwölf Jahre alt war. Und wenn du Ziggy Stardust erlebt hast, ist es schwierig, von jemandem beeindruckt zu sein. Aber ich finde, dass Lady Gaga eine tolle Stimme hat. Sie sollte unbedingt ein akustisches Album herausbringen.

Du bist von der Schule geflogen. Warum?
Ich war ein schlimmer Schüler. Nachdem ich gelernt habe, zu lesen und schreiben, wars das für mich. Ich wollte lieber Musik hören und Bilder malen. Heute hingegen finde ich das Lernen von neuen Sachen sehr aufregend. Eigentlich sollte ich jetzt zur Schule gehen.

Wieso bist du erst jetzt an der Street Parade?
Niemand hat mich bis jetzt eingeladen! Manchmal stimmt das Timing nicht, aber dieses Jahr hat sich glücklicherweise alles gefügt und jetzt bin ich hier und freue mich sehr. Eigentlich werde ich schon langsam nervös.

Zu Recht. Es wird riesig!
Hach weisst, du ich bin keine «Size Queen». Das Wichtigste für mich ist die Energie. Und es ist einfacher, für viele Leute zu spielen als für wenige. Bei einer solchen Menge bist du ein Teil vom Ganzen.

Morgen um 13 Uhr gehts los.
Ich werde früh aufstehen und mich vorbereiten. Dafür ist meine Visagistin mit mir hier. Ich könnte das auch alleine machen, aber ich bin zu faul. Die Kleider wähle ich mir hingegen selber aus. Ich bin etwas altmodisch. Für morgen werde ich einen netten Anzug, einen hübschen Hut und tonnenweise Make-Up tragen.

Was machst du nach der Parade?
Am Sonntag sind wir in Monaco. Dort treffen wir Prinz Albert. Ok, das war jetzt gelogen. Aber ich habe ihn mal gesehen und natürlich seine Hochzeit am TV mitverfolgt.

Du hast eine bewegte Lebensgeschichte. Das hört man auch in deinen Liedern.
Natürlich schreibe ich über meine persönlichen Erfahrungen. Ich bin nicht der Typ, der «Put your hands in the air» schreit oder über Partys in Clubs redet. Es ist für mich wichtiger, eine emotionale Verbindung zu den Leuten herzustellen.

Deine Musikrichtung hat sich indes sehr verändert.
In den 80ern hatte ich eine grossartige Karriere und viel Erfolg. Als Culture Club vorbei war, war ich etwas verloren. Dann kam der Acid House, den ich damals aufregender als Popmusik fand. Ich habe mich in dieser Musikrichtung zuhause gefühlt.

Was ist das härteste daran, berühmt zu sein?
Keine Ahnung!

Oder ist es gar nicht hart?
Wenn du jung bist, schon. Wenn du im Rampenlicht stehst, hängt alles, was du machst, von der Bestätigung anderer ab. Das macht die Dinge kompliziert. Wenn du aber Glück hast, erreichst du den Moment, wo du das durchleuchtest. Als ich jung war, habe ich alles für selbstverständlich gehalten. Jetzt kann ich sagen, dass ich das machen kann, was ich liebe. Wie viele Leute können das schon von sich behaupten?

Wärs nicht einfacher gewesen, der Junge von nebenan zu sein?
Auch der Junge von nebenan hat Probleme. Mensch zu sein ist schwierig! Das Leben ist hart, bis du eine Perspektive hast. Aber es braucht Zeit und Erfahrung, bis du weisst, was dir wichtig ist. Ich habe die Dramen von früher hinter mir. Damals hatte ich keinen Ausschaltknopf, alles hat mich sofort in den Wahnsinn getrieben, jeder Tag war wie ein Überlebenstraining. Aber jetzt liebe ich, was ich mache; ich habe tolle Freunde und eine tolle Familie.

Wie ist das Verhältnis zu deiner Familie?
Mein Vater ist tot, aber meine Mutter lebt noch. Wir sind eine grosse Familie, ich habe vier Geschwister. Wenn du älter wirst, merkst du, wie wichtig deine Familie ist.

Wie lange möchtest du im Showbiz bleiben?
Ach… das Geschäft mit der Show. Das ist halt das, was ich mache. Ich wüsste nicht, was sonst. Ich fühle mich jedoch nicht als Teil des Showbiz, ich bin ein Arbeiter. Wenn mich Leute einen Promi nennen, finde ich das immer etwas schräg. Für mich sind Promis Leute, die nichts tun. Es reicht, mit einer teuren Handtasche rumzulaufen. Ich hingegen arbeite wirklich hart. Ich kann showbizzy sein. Aber das ist nicht, das was mich begeistert.

Also machst du das auch noch, wenn du alt bist?
Ich bin alt! Ich bin 50!

Jetzt klingst du aber genau wie ein Promi.
50 Jahre sind schon ein Meilenstein. Ich möchte einfach glücklich sein, wenn ich alt bin.

Und heiraten?
Nein, das ist nichts für mich. Toll, wenn das Leute machen, aber ich möchte niemanden heiraten. Für mich ist das manchmal auch ein Versuch der Schwulen, normal zu sein. Dass ich schwul bin, macht mich aber weder speziell, noch wichtig. Wenn Schwule heiraten wollten, sollten sie aber das Recht haben. Heteros sind eigentlich klasse, sie produzieren schliesslich Homos! Es fasziniert mich aber, dass es immer noch homophobe Leute gibt. Wieso kümmert es die, was ich in meinem Bett mache?

An der Street Parade nehmen viele Leute Drogen. Du hast auch Erfahrungen damit.
Die Leute entfliehen gerne der Realität. Einige geben das Geld aus, dass sie nicht haben, andere essen zu viel oder lesen haufenweise Magazine und Bücher. Ein paar Leute entfliehen der Realität aber auf eine zerstörerische Art, als andere. Ich bin jetzt drei Jahre und sieben Monate trocken und clean. Und weisst du was? Ich vermisse den Scheiss kein Bisschen. Wenn ich jetzt an eine Party gehe, kann ich mich an alles erinnern. Aber die Realität ist manchmal schwierig.

Hast du darum Drogen genommen?
Da gibt es nicht einfach einen simplen Grund. Wenn es den gäbe, wäre es einfach, aufzuhören. Jeder hat seine Gründe. Zusammenfassend kann man  sagen, dass diese Leute nicht hier sein wollten. Für mich ist es aber sehr wichtig geworden, in meinem Leben anwesend zu sein. Ich liebe mein Leben und es ist etwas ganz tolles, dabei zu sein. Jeder Süchtige sollte versuchen, clean zu werden. Es gibt einen Ausweg. Und das Leben ist wundervoll.

Nach dem Interview: Eigentlich wollten wir noch Bilder machen, aber Boy George war ungeschminkt. Also konnten wir am Street Parade-Samstag nochmals ins Hotel. Ich freute mich darauf, den freundlichen Herrn wiederzusehen. Und treffe auf eine Diva im extravaganten Anzug und mit kiloweise Make-Up. Als ich ihn gestern getroffen habe, war er zugänglich und herzlich. Jetzt ist er Boy George. Posiert für die Kamera und sagt mir, dass er mein Krönchen und Glitzerkleidchen mag. Kurz darauf steigt er ins Auto zur Parade und lässt mich nachdenklich zurück.

(Erstmals publiziert auf 20minuten.ch und tilllate.com, August 2012. Bild: Marco Andreoli für tilllate.com)

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