Eine nachträgliche Plattenkritik aus lauter Nostalgie

Die Welt ist grau, diese Musik ist es nicht: Regina Spektor war 32 Jahre alt, als sie «What We Saw from the Cheap Seats» veröffentlichte. Das war 2012.

Was bringt ein Review fünf Jahre danach? Jede Menge. Denn: In Tagen wie diesen, in denen nicht nur das meteorologische, sondern auch das politische und gesellschaftliche Klima jegliche Wärme verloren haben, wirkt die Platte wie Antidepressiva. Eine Packungsbeilage dazu:

«Wie kann ich ohne dich leben», singt die Russin mit ihrer mädchenhaften Stimme im ersten Lied. Es folgen elf Stücke, die einen in eine andere Welt entführen. Spektors Folk ist mal verträumt, mal poppig, mal lieblich, mal schrullig. Es klingt, als wäre die Serie «New Girl» vertont worden. Zooey Deschanel hätte ihre helle Freude daran.

Und es klingt wie ein Zirkusbesuch: «Firewood» beginnt als zuckersüsses Schlafliedchen und endet in Funken. «Patron Saint» erinnert an 20er-Swing, an Flappergirls, Champagnerbecken, kurze Nächte, an Fitzgeralds grossen Gatsby. Stellenweise hört man Emiliana Torrinis «Jungle Drum» – etwa wenn Spektor am Ende von «Oh Marcello» Trommelgeräusche ins Mikrofon gurrt. 

Regina Spektor nimmt sich selbst nicht ernst, aber sie nimmt ihre Zuhörer ernst. Sie lässt nicht zu, dass sie es sich allzu bequem machen, und fordert sie mit abwechslungsreichen Nummern heraus. Den roten Faden muss man in diesem bunten Mischmasch selber suchen. Spektor garantiert auf ihrer Achterbahnfahrt für nichts und singt sich plan- und furchtlos durch 37 Albumminuten. Die Risiken und Nebenwirkungen: So leicht kommt man danach nicht mehr in den Alltag zurück.

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Frauen helfen Frauen

Kriege, Flüchtlingskrise, Wasserknappheit: Hilfe wird zurzeit auf der ganzen Welt benötigt. Doch wer geht dafür schon zu den Krisenorten? Zum Beispiel die Zürcherin Raquel Herzog vom Schweizer Hilfswerk «SAO Association». 

Europa, diese Tage: Menschen auf der Flucht schlafen in Eiseskälte unter freiem Himmel oder in Zeltlagern, sind unterernährt, haben keine Rechte und nur selten medizinische Versorgung. Frauen sind dabei besonders gefährdet: Sie sind schlechter ausgebildet, körperlich verletzlich, teilweise schwanger und müssen in desolaten Zuständen ihre Monatshygiene verrichten. Die Zürcher Eventmanagerin Raquel Herzog (53) hat diese Probleme erkannt und im Februar 2016 das Hilfswerk «SAO Association, Frauen für Frauen auf der Flucht» mitgegründet.

«Die nachhaltige Hilfe kommt bei Frauen an. Sie schauen auch für ihre Kinder. Männer sind weniger verletzlich, können sich einfacher alleine durchschlagen und müssen in der Regel auch weniger sprachliche Hindernisse meistern», erklärt Raquel Herzog. Seit Dezember 2015 ist sie vor allem auf der griechischen Insel Lesbos im Einsatz. Dort betreibt SAO das Lagerhaus Attika, in dem Warenspenden aus der ganzen Welt sortiert und an Flüchtlinge sowie andere NGOs weitergegeben werden. Raquel Herzog: «Im Lager arbeiten viele junge Männer, die im Flüchtlingslager Moria wohnen. Diese Aufgabe gibt ihnen eine gewisse Tagesstruktur, denn die Lethargie ist lähmend.»

Hintergrund ist eine im März beschlossene Absichtserklärung der EU und der Türkei. Alle, die nach diesem Entscheid in Moria ankamen, wurden kriminalisiert, das Registrierungshauptcamp wurde zum Internierungslager. «Neuankömmlinge werden zunächst 25 Tage lang eingesperrt. Das Lager hat eine Maximalkapazität von 1200 Personen, momentan leben jedoch fast 5000 dort», berichtet Raquel Herzog. Das bedeute unter anderem, dass aktuell rund 800 Kinder unter zehn Jahren quasi in Haft leben.

Neben dem Lagerhaus Attika soll in Griechenland nun auch ein Zentrum für Mütterberatung entstehen. Mit dem Fonds «Back on track» möchte SAO weiblichen Geflüchteten im Ankunftsland das Fortsetzen des Studiums ermöglichen. Raquel Herzog: «Für uns haben die Menschenrechte die höchste Priorität. Unabhängig davon, ob jemand ein Kriegsflüchtling ist oder andere Beweggründe hat. Jeder hat das Recht auf Obdach, Essen und Schutz.»

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Königinnen der Nacht

 

Tagsüber sind sie Kunststudent und Kindergärtner. Bei Anbruch der Dunkelheit verwandeln sich Effi Meister und Leon Schneider in Drag Queens. Eine Nacht in ihrer Welt aus Kunst und Glitzer – und ein Blick hinter die Kulissen aus Selbstverwirklichung und Provokation.

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Badischer Bahnhof, Samstagnachmittag. Kinder starren mit grossen Augen und verstecken sich hinter ihren Müttern. Eine Gruppe älterer Herren mit Hosenträgern fragt in Basler Dialekt, ob schon wieder Fasnacht sei; der Unterton hat etwas Pöbelndes. Kein einziger Kopf, der sich nicht nach Effi Meister und Leon Schneider umdreht. Die 26-jährigen Basler sind sogenannte Drag Queens, sie haben sich als weibliche Figuren verkleidet. Meister hat sich falsche Dreadlocks auf den Kopf gebunden. Unter seinem schwarzen Kimono blitzt eine Corsage hervor. Den Büstenhalter hat er sich mit orangen Robidog-Säckchen ausgestopft, die er später auf der Bühne des Theater Neumarkt in Zürich unter tosendem Applaus herauszupfen wird. Dort wird heute Abend die «Miss Heaven», die Königin der Drag Queens, gekürt. Meister und Schneider werden als Showact auftreten.

Schneider hat sich für Jessie, eine Comicfigur aus der Pokémon-Serie, entschieden: falsche Brüste aus Plastik, ein praller Hintern aus Schaumstoff, enge Strumpfhosen und Stiefel mit zentimeterhohen Absätzen. Doch Drag ist mehr als Verkleiden, mehr als Fasnacht. Drag schmerzt. Drag braucht Hingabe. Das wird spätestens dann klar, wenn man Schneiders geschwollene Füsse am Ende des Abends anschaut. Warum tut sich einer so etwas an? «Drag ist für mich ein Ventil». Als offen schwuler Mann erlebt er im Alltag oft Anfeindungen, wird als «Schwuchtel» und «Tunte» beschimpft oder angespuckt. «All den Dreck, den ich fressen muss, sauge ich auf wie ein Schwamm. Auf der Bühne wird dieser ausgewrungen.»

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Bis dahin dauert es noch ein paar Stunden. In Schneiders WG in Basel bereiten sich die Drag Queens zunächst auf ihre grosse Nacht vor. «Aufdragen» nennen sie den Prozess der Verwandlung. Meister ist verspätet, weil er sich noch «eine neue Pussy» kaufen musste. Als er die Räume betritt, präsentiert er grinsend eine Plüschkatze. Er werde sie während seiner Show zu den Zeilen «I worked my pussy off» aus der Hose ziehen. Effi ist eine androgyne Person. Die Seiten am Kopf hat er sich wegrasiert, übrig blieb ein Schopf aus dunkelblondem Haar. Auf seinem Gesicht sind meist Farbkleckser oder Spuren von Glitzer zu sehen – ein Vergissmeinnicht der letzten Kunstaktion. Auch Leon Schneider sticht heraus: Die Haare des Kindergärtners sind platinblond gebleicht, sein Teint hat die Farbe von Porzellan, die Beine stecken in getigerten Skinny-Jeans.

Für die nächsten Stunden versinkt das Badezimmer der Wohngemeinschaft in ein Chaos aus Pinseln, Schminkpaletten und Haarteilen. Am Spiegel prangt ein Kleber mit der Aufschrift «Steh zu dir!». Schneider presst seine Augenbrauen mit Spezialleim an die Stirn. «Man muss das alte Gesicht erst wegschminken, bevor man ein neues malt», erklärt er. Es wird still. «Die Verwandlung hat etwas Meditatives, man ist mit sich selbst konfrontiert», sagt Meister. Anecken wolle er nicht immer. Manchmal sei Drag für ihn wie ein Superheldenkostüm: «Ich hinterlasse einen bleibenden Eindruck, kriege Aufmerksamkeit. Und ich kann etwas Distanz zu meinem privaten Ich haben.»

Um 17 Uhr hocken die beiden im Zug. Man erkennt sie in ihren Outfits nicht wieder. Meister schenkt drei beeindruckten Schulkindern ein Lächeln, das erwidert wird: «In ihren Augen bin ich ein Monsterchen oder Gespenst. Aber nicht etwas, das man nicht sein darf», sagt er. Erwachsene reagieren anders: meist schockiert, gar angewidert, teilweise fasziniert. Eine Stunde später rollt der Zug in Zürich ein. In der Bahnhofshalle findet die «Züri Wiesn» statt; die Besucher grölen ihre Schlager so laut, dass man sie bis zu den Geleisen hört. Die Drag Queens stolzieren durch die Menge. «Ich glaube, ich bin im falschen Film!», sagt ausgerechnet eine angeheiterte Oktoberfestlerin, die mitten im Bahnhof dirndlbekleidet neben einem Wiesn-Zelt steht. «Ui, diese Farben!», sagt eine ratlose junge Frau in Schwarz. Es braucht wenig, um in der Schweiz zu schockieren. «Als schwuler Mann wirst du vielleicht toleriert, also geduldet. Aber nicht akzeptiert. Drag deckt das auf», erklärt Schneider. «Du hältst diesen Menschen den Spiegel vor. Wenn sie dich scheisse finden, sagen sie dir das auch. Und wenn sie offen sind, merkst du ihr Interesse.»

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Drag als politisches Statement? Als Provokation gar? Nicht nur. Bei Schneider hat man das Gefühl, es sei auch eine Art Selbstfindung. Er wuchs auf dem Land auf. Sein Vater versteht die Drag-Welt nicht: «Als ich klein war, fand er mein Schauspielern noch herzig. Jetzt, da ich erwachsen bin und es mir ernst ist, hat er viele Vorurteile», sagt Schneider. Sein Alter Ego, Klaudia Alles, erblickte vor zwei Jahren am «Tuntenball» in der Basler Bar Hirscheneck das Licht der Drag-Welt. «Ich hatte nie das Bedürfnis, mich als Frau zu verkleiden. Das erste Mal war unglaublich. Ich war wie verzaubert.» Seither schlüpft er regelmässig in Klaudias Rolle. Eines seiner Vorbilder ist Divine, die amerikanische «Queen of Filth», die in einem Film Hundekot verspeist. «Die schönen, netten, politischen korrekten Drags interessieren mich nicht. Ich mag die verwirrten, bösen.» Drum sei auch Klaudia dumm, frech – und ein richtiges Wrack.

Für Effi Meister ist Drag keine Verwandlung, sondern eine weitere Seite von ihm. Er ist der Spross einer jüdischen Grossfamilie. In Basel absolvierte er den Bachelor of Fine Arts. Als Kind spielte er mit Barbies, verkleidete sich, zeichnete Figuren. «Die Leute sollen nicht wissen, ob ich Mann, Frau oder Trans bin. Ich lade sie gerne in diese Grauzone ein», sagt er. Die Looks des Kunststudenten bedienen nicht das gängige Klischee der glamourösen Drag Queen. Um Sexyness oder Schönheit geht es ihm nicht. Er wirkt eher wie ein Fabelwesen. «Mein Körper ist eine Leinwand. Wenn ich mich für Shows vorbereite, lote ich die Grenzen von dem, was ich sein kann, aus.» Er bezeichnet sich als genderfluid – also als etwas zwischen den Geschlechtern. In Zeiten, in denen man auf Facebook zwischen über 50 Geschlechtsidentitäten auswählen kann, überrascht diese Aussage wenig. Einige seiner Freunde sprechen ihn mit weiblichen Pronomen an. «Wenn ich auf ihn sauer bin, kriegt er männliche Pronomen», sagt Schneider.

Man fragt sich, ob Meisters Botschaften seinem Publikum nicht etwas viel abverlangen. In einem Land, in dem das Sternchen der SP Frauen* bereits als hysterischer Akt übertriebener politischer Korrektheit angesehen wird? Einem Land, das sich mit Menschen jenseits von Heteronormativität immer noch schwer tut? In dem sich der SRF-Ombudsmann etwas hilflos mit der Frage auseinandersetzt, ob Viktor Giacobbo in seiner Sendung noch von «Transen» reden darf? Keine Ahnung. In Schneider und Meisters Umfeld ist die Toleranz hingegen gross. Getragen werden sie von aufgeschlossenen Arbeitgebern, offenen Mitstudenten, einem bunten Freundeskreis und ihren Partnern.

Im Theater Neumarkt angekommen, ist es Zeit für die Hauptprobe. Vicky Goldfinger, die amtierende Miss Heaven, peitscht ihre Nachfolgerinnen durch die Routine. Schneider und Meister, hier schon beinahe alte Hasen, sind nicht nervös. Ihre Nummern sitzen. Wenig später füllen sich die 160 ausverkauften Plätze. Im Vorraum werden Cüpli und Gin Tonics gebechert; Backstage erschweren ein Nebel aus Haarspray und ein Aschenbecher voller lippenstiftverschmierter Zigarettenstummel das Atmen.

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Showtime. Als die Berliner Drag Queen Melli Magic den Abend eröffnet, wird sie mit frenetischem Applaus begrüsst. «Ich liebe euch, meine Hübschen!», ruft sie theatralisch. Mit den Kandidatinnen geht sie unzimperlich um: «Kriegst du für das Beantworten meiner Frage drei Hirnzellen hin?» fragt sie. Als ein Gast zu geschwätzig ist, unterbricht sie ihn mit den Worten «Wenn du weiterredest, mach ichs mit deiner Schwester – oder wer auch immer die Bitch neben dir ist». Tosender Applaus. Während den Darbietungen fliegen Pelzmäntel, Konfettischnipsel, Rosen und Haarteile herum. «Hätte ich nicht so viel Botox gespritzt, würde man jetzt mein Strahlen sehen», so die Moderatorin. Viel Raum für Ernsthaftigkeit bleibt an diesem Abend nicht, doch man findet sie zwischen den Zeilen. Bei einer Kandidatin, die zu den Zeilen «I won’t give up, I’m free to be the greatest, I’m alive» tanzt. Der Song der australischen Sängerin Sia ist eine Hymne an die Opfer des Orlando-Massakers. Dort starben diesen Juni 49 Menschen bei einer Schiesserei in einem Schwulenclub. Man findet die Ernsthaftigkeit auch dann, wenn Melli Magic die Drag Queens als Botschafterinnen der Stonewall-Aufstände anpreist. Das Stonewall Inn war ein New Yorker Schwulenbar. Im Lokal an der Christopher Street entflammten in den 60ern regelmässig Konflikte mit Polizeibeamten. Es war die Geburtsstunde des Christopher Street Day, der heutigen Gay Pride.

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Als Meister und Schneider auf der Bühne stehen, dröhnen die Hymnen von Drag-Ikone Alaska Thunderfuck und Popwunder Lady Gaga durch den Raum. Meister singt die Zeilen «Haters gonna hate» als Playback; Schneider reisst die Augen auf, singt «I live for the applause, live for the way that you cheer and scream for me» und kriegt genau das. Nach bloss 90 Sekunden sind ihre Auftritte vorbei. Kurz nach 23 Uhr wird die Baslerin Odette Hella’Grand zur neuen Miss Heaven gekürt. Das Publikum, das während dreier Stunden ein Teil der Drag-Szene war, applaudiert und verteilt sich wieder in der Nacht. Die Begegnungen im Foyer, wo Fans ihre Königinnen anhimmeln, sind von kurzer Dauer.

Bei Sonnenaufgang ist der Zauber vorbei und das Make-up verschmiert. Im Zug nach Hause setzen sich die Drag Queens wieder dem Starren von Passanten aus. «Was diese Begegnung mit denen macht, können wir nicht beeinflussen. Im besten Fall bewegt sie sie zu etwas Selbstreflexion», so Meister. Und weiter: «Dass wir polarisieren, lässt sich nicht vermeiden und ist immer noch besser, als in Gleichgültigkeit zu versinken.» Die Blicke sind nicht immer angenehm. Auf der anderen Seite, so Schneider, rechtfertigen sie Drag als Kunstform: «Drag zeigt Missstände auf. Wenn es diese nicht mehr gibt, gibt es auch Drag nicht mehr.» Gäbe es eine absolut tolerante Gesellschaft, könnte man nicht mehr anecken.

20 Stunden waren Leon Schneider und Effi Meister unterwegs. Für 90 Sekunden auf der Bühne und die Botschaft, dass jenseits von Mann und Frau eine ganze Welt liegt: Ein Kosmos irgendwo zwischen Selbstfindung und Provokation, Chaos und Glitzer.

(Erstmals publiziert in DIE ZEIT, September 2016. Bilder: Christian Bobst)

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Die Rückkehr der Knutschkugel

Am diesjährigen Genfer Auto-Salon sorgte das kleine Elektroauto Microlino für Aufsehen. Sein Aussehen weckt Erinnerungen an die Isetta. Dahinter steckt Wim Ouboter mit seinem Familienbetrieb Micro, der auch das Kickboard erfunden hat.

Der Microlino war ursprünglich nur als Projekt mit zehn Studenten der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gedacht. Nach der Abschlusspräsentation schickte Wim Ouboter (56) den Studenten Pascal Studerus und seinen Sohn Merlin nach China, um einen Proto­typen zu bauen. Drei Monate später war das Elektrofahrzeug bereit für den Versand per Luftfracht in die Schweiz. Doch dann das: Am Zürcher Flughafen fiel das Gefährt seitwärts vom Gabelstapler zweieinhalb Meter in die Tiefe. Totalschaden. 

«Da mussten wir erst mal tief durchatmen», erzählt Ouboter. «Wir waren am Boden zerstört.» Schliesslich sollte der 400 Kilogramm leichte Microlino vier Wochen später an der Nürnberger Spielwarenmesse präsentiert werden. «Wir haben es dann einfach in der Messehalle mit der kaputten Seite an die Wand gestellt», sagt der Küsnachter Erfinder und lacht.

Produktion erst Ende 2017

Dass seine Firma Micro ein unkonventionelles Auto baut, machte schnell die Runde. Das Design ist das der BMW-Isetta von 1955, die den Spitznamen Knutschkugel hatte. Schliesslich räumte André Hefti, Generaldirektor des Auto-Salons Genf, kurz vor der Ausstellung noch Platz für den Microlino frei. Bei einem Stand zum Thema E-Mobility kam der Elektroflitzer auf ein kleines Podest. Ohne Glamour und Hostessen. Die Präsentation überraschte – und überzeugte. Vom US-Sender Fox News über den britischen «Guardian» bis hin zum «Playboy» berichteten zahlreiche Medien über den Microlino. 

Mehr «aus Gwunder» schaltete Ouboter eine Reservationsliste auf. Mittlerweile sind bereits 1140 Bestellungen eingegangen. «Wir hatten nicht einmal einen Businessplan», sagt der Tüftler. Mit den Lieferungen dauert es denn auch noch: Erst Ende 2017 geht der Microlino in Italien in Produktion. Preis pro Auto: zwischen 12 000 und 14 000 Franken. 

Ein Unruhestifter macht Karriere

Dass Ouboter keine Standardkarriere einschlagen würde, zeichnete sich früh ab. Als Kind hatte er mit Legasthenie zu kämpfen; doch er hatte auch die Sympathien der Kameraden auf seiner Seite. So wurde der Unruhestifter sogar Klassenchef, was wiederum vielen Lehrern nicht passte. 

«Ich hatte schon immer ein Faible für Abenteuer», erzählt Ouboter. «Mit 14 habe ich mit Freunden ein Töffli im Wald gefunden, ein Nummernschild gebastelt und dann die Strassen unsicher gemacht.» Die Teenager wurden erwischt und zur Strafarbeit in einer Gärtnerei verdonnert. 

Schnell war klar: Mit den Superschülern konnte Ouboter nicht konkurrieren. Im Berufsleben wollte er später einmal «etwas ganz anderes» machen – und «bloss kein Anzugsmensch werden». Nach dem KV bei einer Bank ging er ins Ausland, um Englisch zu lernen. Zurück an den Schalter kehrte er nie. Seine Frau Janine (54) hat er mit 28 kennengelernt. «Wir sind uns dreimal über den Weg gelaufen. Beim dritten Mal habe ich sie zu mir ins Zürcher Seefeld zum Kochen eingeladen.» Vier Tage später zog sie ein.

Für Wim Ouboters Erfolg ist sie mitverantwortlich: Als er sein erstes Projekt, das Kickboard, seinen «studierten Freunden» gezeigt und seine Vision von urbaner Mobilität erklärt hatte, stiess er auf wenig Verständnis. Wer um Himmels willen sollte so was fahren? Das Trottinett landete in der Garage. Wenig später standen 15 Kinder vor der Tür und wollten es ausprobieren. «Janine erkannte das Potenzial des Kickboards und drängte mich dazu, meine Vision weiterzuverfolgen.» Micro, die Küsnachter Herstellerfirma des Boards und des Microlinos, ist ein Familienunternehmen: Janine Ouboter macht die Buchhaltung, die Söhne Oliver (22) und Merlin (20) arbeiten im Betrieb. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen rund 60 Leute in der Schweiz und in China. Zum Tanken muss der Microlino an die Steckdose. Eine volle Ladung kostet rund 1.20 Franken und reicht für etwa 80 Kilometer. Die Höchst­geschwindigkeit liegt bei 100 km/h – autobahntauglich ist die Knutschkugel also nicht. Dafür lässt sie laut Ouboter besonders Frauenherzen höherschlagen. Selbst fährt der Entwickler übrigens ein Elektroauto der Marke Fisker.

(Publiziert am 22. August 2016 im Migros-Magazin)

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Wie man Kindern die Flüchtlingsnot erklärt

In ihrem Kinderbuch «Die Flucht» beschreibt die Zürcher Illustratorin Francesca Sanna die Odyssee einer Flüchtlingsfamilie. Das preisgekrönte Werk vermittelt Kindern einen altersgerechten Zugang zur Flüchtlingskrise.

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Eine zerbombte Stadt, eine entwurzelte Familie, eine Flucht ins Unbekannte: nicht unbedingt ein Thema, das sich dafür eignet, in einem Kinderbuch verarbeitet zu werden. Doch die Grafikerin Francesca Sanna hat genau das gemacht. In ihrem illustrierten Buch «Die Flucht» erzählt die 25-Jährige die Odyssee einer Familie, die vor dem Krieg in ihrem Land flüchten muss. Das Buch ist zugleich Sannas Masterarbeit in Design mit Spezialisierung auf Illustration an der Hochschule Luzern.

Sanna wurde auf Sardinien geboren, zog mit 20 für ein Praktikum nach Deutschland. Heute lebt sie in Zürich und arbeitet als freischaffende Illustratorin für verschiedene Publikationen. «Als ich Italien verliess, war ich ebenfalls eine Migrantin und im kleineren Rahmen mit kulturellen, sprachlichen und administrativen Problemen konfrontiert. Deshalb wählte ich für meine Abschlussarbeit das Thema Immigration», sagt die Grafikerin.

Auch die Gespräche am Familientisch und die politischen Diskussionen zu Hause in Sardinien hätten sie für das Thema sensibilisiert. «Fragen wie: Warum sollen wir diese Leute aufnehmen? Und warum haben alle ein iPhone? Wir haben keinen Platz, kein Geld, und selber Wirtschafts­probleme – solche ­Diskussionen werden in meiner Heimat leider seit Jahren geführt.»

Sanna wollte aber nicht von Nummern sprechen, sondern von Menschen. Also traf sie sich in Sardinien und Basel mit 15 Geflüchteten, die ihr ihre Geschichten anvertrauten. Die Gespräche fanden auf Englisch statt, eine Fremdsprache für beide Seiten. «Das hat uns irgendwie verbunden. Ich merkte sehr schnell, dass es eine Geschichte gibt, die erzählt werden muss. Und dass Mitleid nicht der richtige Weg ist, weil es Distanz schafft.»

Der Anfang war wie so oft das Schwierigste. «Wie erkläre ich etwas, für das es keine vertretbare Erklärung gibt? Ich fragte mich oft, wer ich denn bin, dass ich mir anmasse, diese Geschichte zu erzählen.» Der ganze Prozess dauerte über zwei Jahre. Jahre, in denen die Flüchtlingsthematik den öffentlichen Diskurs dominierte.

Das Buch soll Kindern helfen, einen altersgerechten Zugang zu diesem Thema zu finden. Anders, als es durch die mediale Berichterstattung geschieht, die Kinder meist ungefiltert konsumieren. «Wir wissen, warum die Leute flüchten. Und wir diskutieren viel darüber, wie wir die Menschen hier unterbringen. Dazwischen gibt es einen grossen grauen Bereich», sagt Francesca Sanna. Die Flucht sei aber ein kraftvolles Element: «Es zeigt die Überzeugung, die Stärke dieser Menschen. Normalerweise sehen wir Flüchtlinge in einer passiven, hilfesuchenden Rolle.»

Die ersten Maquetten habe sie den Kindern von Freunden gezeigt, sagt Sanna: «Sie haben viele Fragen zur Flüchtlingsnot gestellt. Sie wollten mehr wissen. Etwa, wer diese Leute sind, warum ihnen so etwas Schlimmes passiert. Dieses Feedback war sehr hilfreich.»

In der endgültigen Version ihres Buchs hat die Illustratorin einiges ausgelassen. «Es gibt fiktive Charaktere, die die Gesellschaft allgemein verurteilt», sagt Sanna. «Etwa die Schlepper. Das sind Kriminelle, die vom Leiden der Flüchtlinge finanziell profitieren. Doch oft sind die Leute den Schleppern für die Fluchthilfe dankbar. Diese Problematik war eine grosse Herausforderung innerhalb der Geschichte.» Schliesslich wurde der Schlepper im Buch ein abstraktes, monsterähnliches Wesen, das übermächtig ist, Familien auseinanderreisst und nicht fassbar ist.

Ob es ein Happy End gibt oder nicht, ist der Sicht des Lesers überlassen; Sanna hat sich bewusst für einen offenen Schluss ­entschieden: «Während des Entstehungsprozesses wurde die Flüchtlingskrise zunehmend präsenter. Grenzen wurden geschlossen, Camps geräumt – die Ereignisse überstürzten sich. Ich musste das Ende meiner ­Geschichte offenlassen, weil es auch in der Realität noch kein Ende gibt.» Ob die Familie am Ziel ankommt, bleibt also offen.

Francesca Sannas Arbeit hat sich gelohnt. Im November 2015 kam ein Anruf der renommierten Society of Illustrators New York. «Die Flucht» gewann die Goldmedaille in der Kategorie Buch – den Oscar der Illustratoren­branche. «Das war der beste Anruf meines Lebens. Im Februar flog ich für die Preisverleihung nach New York. Meine ganze Familie reiste mit. Sehr italienisch.» Die Medaille hängt nun in ihrem Zürcher Atelier. Und die nächste Anerkennung folgt schon bald: Eine international tätige Non-Profit-Organisation will Sannas Buch in englischen Schulen verteilen.

Das Buch «Die Flucht» erscheint am 19. Juli im Zürcher NordSüd-Verlag und ist ab dem 25.Juli für Fr. 23.90 bei Ex Libris erhältlich.

(Publiziert im Migros-Magazin, Juli 2016. Porträtbild: Anne Gabriel-Jürgens / Bilder: zVg)

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Junges Blut & traditionsreiches Papier

Der «Pestalozzi-Kalender» begleitet Jugendliche seit Generationen durch den Schulalltag. Das heutige Redaktionsteam um Patrick Savolaien, Regina Dürig und Paul Linsmayer hat die alte Agenda entstaubt und renoviert.

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Das Schicksal des «Pestalozzi-Kalenders» nahm an einem Regentag 1991 eine wundersame Wendung: Pro Juventute hatte soeben die Rechte des Kalenders verkauft und schmiss kuzerhand sämtliche Archivexemplare und Maquetten in eine Mulde. Charles Linsmayer (71) brachte an diesem Morgen seinen Sohn Paul in den Kindergarten. Beim Anblick der Büchlein, die im Regenwasser schwammen, entschied der Vater: Der Kindergarten fällt heute aus! Stattdessen transportierten die beiden die durchnässten Kalender in Tragtaschen nach Hause zum Trocknen und Pressen.

2008 präsentierte Linsmayer seine Sammlung an einer Ausstellung zum 100-Jahr-­Jubiläum des Kalenders – dennoch stellte Orell-Füssli, der neue Verlag, die Produktion ein. Der renommierte Germanist und Literaturkritiker kämpfte weiter. Mit Erfolg: Ein Jahr später erschien die nächste Agenda im Berner Stämpfli-Verlag mit einem neuen Redaktionsteam, zu dem auch sein Sohn Paul (mittlerweile 30) gehört.

«Als Kind kannte ich den Kalender nicht», erzählt Patrick Savolaien, ebenfalls Redak­tionsmitglied der Neuauflage. «Doch nach Charles’ Anruf habe ich mir die alten Agenden angeschaut. Ich war sofort begeistert», sagt der 28-Jährige. Der Berner arbeitet als freier Schriftsteller und Grafikdesigner; die Liebe zu Büchern und etwas Nostalgie überzeugten ihn schliesslich: «Die Papieragenda ist ja nicht mehr wirklich zeitgemäss. So erhält sie wieder einen neuen Charme.»

Der Kalender ist ein wahres Zeitdokument. «Wir wollen der Schweizerjugend ein Buch verschaffen, welches sie in ihren Schularbeiten unterstützt, ihr Wissen erweitert und ihr Verlangen nach Liebhabereien und Spielen befriedigt», heisst es in der Einleitung der ersten Ausgabe von 1907. Auf dem Cover der zweiten Ausgabe war das Konterfei des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi abgebildet – seither sprach man vom «Pestalozzi-Kalender». Das Konzept: 120 Seiten, darunter Tabellen mit Schulwissen, Wettbewerbe, Rätsel, Spiele, Kunst, Magazintexte sowie das jeweils aktuelle Bundesratsfoto. Schülerinnen und Schüler verteilten die ersten Ausgaben auf Zürcher Pausenplätzen.

Ein internationales Erfolgsprodukt

Es war der Start einer Erfolgsgeschichte. Ab 1909 erschien die Westschweizer Ausgabe und 1918 der Tessiner «Calendrario Pestalociano». In den besten Zeiten wurde der Kalender bis zu 100’000-mal pro Jahr verkauft. Er wurde auch in verschiedenen europäischen Ländern und in Argentinien publiziert. Und zur Zeit des Nationalsozialismus war der Kalender im Dritten Reich erhältlich: mit einem Hakenkreuz auf dem Cover und Kriegspropaganda zwischen den Buchdeckeln.

Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts geriet der Kalender immer wieder unter Druck: 1970 verschwand die französische Ausgabe vom Markt, 1972 der Tessiner Ableger, 1974 legte Pro Juventute die Mädchen- und Knabenausgaben erstmals seit 1913 wieder zusammen. Zwischenzeitlich sank die Auflage auf 2000 Stück. Die neue Version ab Mai 2011 wurde zu einer Schüleragenda umfunktioniert. Zur Redaktion gehörten neben Patrick Savolaien und Paul Linsmayer auch die Primarlehrerin Andrea Bertolini und die Radiomoderatorin Elena Bernasconi. 2012 stiess die Autorin Regina Dürig (33) hinzu.

Die aktuelle Ausgabe ist dem Thema Umweltschutz gewidmet. «Ein Anliegen, das der Redaktion besonders am Herzen liegt», sagt Dürig. «Ich versuche, meine Garderobe aus Kleidern und Schuhen von kleinen Herstellern zusammenzustellen.» Patrick Savolaien hat ein Gemüseabo von befreundeten Biobauern, während sich Paul Linsmayer bereits bei den Zürcher Grünen politisch mit Umweltthemen beschäftigt hat. In der Agenda gibts auf jeder Seite Umwelttipps. Auf den letzten Seiten folgen redak­tionelle ­Texte – etwa ein Interview mit ­Umweltministerin Doris Leuthard, eine Reportage über den Alpsommer sowie ein Bericht über eine Tierkommunikatorin.

Am 20. Mai stellt die Redaktion ihre Agenda im Zürcher Kaufleuten vor. Mit dabei sind der Berner Rapper Greis und alt Bundesrat Moritz Leuenberger.
Apropos: Das aktuelle Porträt der Landesregierung hat auch in der neukonzipierten Agenda seinen festen Platz. Nicht bloss aus Traditionsgründen, wie Paul Linsmayer sagt, «auch weil das Bundesratsfoto jedes Jahr amüsanter wird».

(Publiziert im Migros-Magazin, Mai 2016. Bild: Remo Nägeli)

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Ich bin Stefanie

Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Mannes geboren und wusste schon als Vierjährige, dass sie eine Frau ist. Erst nach einem jahrzehntelangen Versteckspiel fand sie den Mut, sie selbst zu sein.

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Dass es nicht so weitergehen konnte, wurde Stefanie Hetjens bewusst, als sie im Zug sass. «Es war ein Donnerstagabend nach einer langen Woche. Ich war sehr, sehr müde. Zu müde, um mich weiterhin zu verstellen.» Das war am 13. September 2012. Sie schrieb ihrer Psychologin, dass sie über etwas reden müsse, das wohl mehr Zeit in Anspruch nehmen werde als üblich, in den 60-minütigen Sitzungen.

Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Jungen geboren – und wusste seit ihrer Kindheit: Ich bin ein Mädchen. Die 32-jährige Werberin wuchs in der Nähe von Düsseldorf auf; seit sechs Jahren lebt und arbeitet sie in Zürich. Ihre Geschichte ist geprägt von Verdrängen: «Schon mit vier Jahren spielte ich die Rolle eines Mädchens. Meine Oma mütterlicherseits sagte: Das darfst du nicht. Du musst aufhören, sofort.» Zehn Jahre lang sprach Stefanie nie wieder über das Thema. Erst mit 14 vertraute sie sich ihrer Mutter an. «Sie sagte, das sei nur eine Phase. Das war schlimm für mich. Heute weiss ich, dass es keine böse Absicht war. Sie hatte wohl einfach nur Angst vor dem Unbekannten.»

Ablenkung und Verdrängung

Innerlich zerrissen, stürzte sich Stefanie Hetjens in die Arbeit. Sie trainierte sich «männliche» Verhaltensmuster an, zeigte sich stark und durchsetzungsfähig. Bis sie sich selbst nicht mehr erkannte. Mit 29 entschied sie sich für die Transition, den äusserlichen Wechsel ihres Geschlechts. Ihr erster Schritt: Kerzen kaufen. «Das war für mich ein enormes Bekenntnis. Ich war so sehr auf die männliche Rolle fixiert gewesen, dass ich solche kleinen, für mich weiblichen Dinge nie getan hätte – aus Angst, aufzufliegen.»

Nach und nach folgten weitere Schritte. Das Coming-out vor den Eltern sei am schwierigsten gewesen, sagt sie, denn als sie ihr gespieltes Ich hinter sich liess, verlor die Familie einen Sohn. «Eltern müssen sich Zeit zum Trauern nehmen. Erst dann können sie ihre neue Tochter willkommen heissen. Ich glaube, mein Verhältnis zu meiner Mutter ist jetzt besser. Wohl auch, weil es gut ausgegangen ist, weil ich jetzt ich selbst bin.» Ihr Vater habe sie sofort akzeptiert. «Vielleicht hat ihn meine Grossmutter beeinflusst. Sie rief mich trotz Demenz kein einziges Mal beim alten Namen – ich war einfach ihre Enkelin.»

Kein Einzelfall

Hetjens Geschichte ist nicht so einzigartig, wie man vermuten könnte. Holländische Forscher haben herausgefunden, dass einer von 200 Menschen sich nicht heimisch fühlt im Körper, in dem er geboren wurde. In der Schweiz dürften es demnach etwa 40 000 Betroffene sein. «Wer in der Schweiz sein neues Geschlecht im Pass vermerkt haben will, braucht die Bestätigung der Diagnose Transsexualität», sagt Udo Rauchfleisch. Der klinische Psychologe und Psychotherapeut hat sich auf das Gebiet Transsexualität spezialisiert und zahlreiche Publikationen zum Thema geschrieben. «Viele Zivilgerichte verlangen bei Transmenschen immer noch Gebär- und Zeugungsunfähigkeit, ehe sie die Änderung des Personenstandes erlauben.» Sofern ein medizinisches Gutachten vorliegt, übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Operation; zum Teil wird das Mindestalter 25 verlangt. «In meinem Pass steht noch mein alter Name. In Deutschland brauchst du für die Änderung des Vornamens zwei Atteste von Psychologen. Diese offizielle Bestätigung ist totaler Schwachsinn», sagt Stefanie Hetjens.

Auch sonst müssten Transmenschen einiges preisgeben. Eine ständige Gratwanderung, auch für Stefanie: «Wie viele Infos muss ich teilen, damit ich verstanden werde? Wer ist bloss neugierig, wer interessiert sich wirklich für mich? Diese Fragen stelle ich mir ständig.» Schwierig werde es, wenn Leute beispielsweise ungeniert fragten, mit wem sie schlafe. «Das geht keinen etwas an.»

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Laut einer Studie der University of California haben 41 Prozent der Transmenschen in den USA einen Suizidversuch hinter sich. Hoffnungslosigkeit kennt auch Stefanie Hetjens. Verschwunden sei diese erst, nachdem sie sich für die Geschlechtsangleichung entschieden hatte. «Man muss sich im Klaren darüber sein, dass einiges auf einen zukommt. Ich habe mir damals überlegt, ob meine Selbstverwirklichung es wert ist, den Job zu verlieren oder auf der Strasse ständig angestarrt zu werden. Ich habe mich entschieden, dieses Risiko einzugehen.»

Seither steht Hetjens eine spezialisierte Psychologin zur Seite. Auch die Hormontherapie läuft. «In der Regel wird Testosteron geblockt und Östrogen hinzugefügt», sagt Udo Rauchfleisch. Östrogen fördert das Brustwachstum und strukturiert den Fettanteil im Körper um: Die Hüfte wird breiter, die Gesichtszüge verlieren das Kantige. Auch Stefanie Hetjens bemerkt gewisse Veränderungen: «Seither rieche ich beispielsweise anders, und ich habe eine zartere Haut.» Zudem verändern sich die Geschlechtsorgane. Viele sind bereits nach der Hormoneinnahme zufrieden und lassen keine geschlechtsangleichende Operation vornehmen. Andere wünschen dennoch einen Eingriff. «Dabei wird aus dem Penisgewebe eine künstliche Vagina erstellt. Diese muss dann ständig gedehnt werden, damit die Öffnung nicht zuwächst. Für die Empfindungsfähigkeit versetzt man Nerven der Eichel in die neue Klitoris», erklärt Udo Rauchfleisch.

No big deal

Angst ist Hetjens‘ ständige Begleiterin. Heute ist es die Angst, dass die Haare nicht dicht genug wachsen. Früher war es die Angst vor dem Karriere-Ende. Eine unbegründete Sorge, wie sich herausgestellt hat: «Mein damaliger Chef unterstützte meinen Weg zum Glück. Und im neuen Team bin ich einfach Steffi.» Ihr lockerer Umgang mit dem Thema macht vieles einfacher: «Ein Schulfreund schrieb mir einmal, er habe jetzt eine neue Adresse. Ich antwortete und sagte, ich hätte jetzt ein neues Geschlecht.»

Ihr Dating-Alltag sei nicht weniger kompliziert und nicht weniger einfach als bei anderen. Manchmal müsse sie ihr Gegenüber halt ein wenig aufklären. Dass sie trotz ihrer breiten Schultern und der 193 Zentimeter Körpergrösse gut als Frau durchgeht, erleichtert ihr Leben sehr. «Gestern war ich beim Take-away. Die Kassiererin sagte bloss: ‹Sie sind aber eine grosse Frau!›»

Unterstützung und Infos liefert das Transgender Network Switzerland: www.tgns.ch

(Erschienen im Migros-Magazin, Dezember 2015. Bild: Mara Truog)

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Vollblutromantiker

René Groebli ist einer der wichtigsten Schweizer Fotografen. Die Aufnahmen von seiner Frau Rita machten den «Vollblutromantiker», wie er sich selber bezeichnet, weltbekannt. Nun erschien ein Bildband mit frühen Werken des Visionärs.

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René Groebli (87) ist einer, der die Welt gesehen hat. Seine Reportagen führten den Zürcher Fotografen zum ersten Kaiser von Äthiopien, zu palästinensischen Flüchtlingsunterkünften in Jordanien und ins Bett von wohl so manch schöner Frau. Zurückgekehrt ist er aber immer – in die Schweiz, wo er am 9. Oktober 1927 als Sohn eines Prokuristen zur Welt kam, und in die Arme der Liebe seines Lebens, Rita. Seine Werke wurden von Toulouse bis Tarazona, von New York bis Berlin und von der Hippiestadt San Francisco bis in die Stadt der Liebe gezeigt. In der Darstellung von Bewegung durch Unschärfe, die unter anderem in den Bildbänden «Magie der Schiene» zu sehen ist, war er ein Pionier. Seine bahnbrechenden Techniken der Farbfotografie erlangten internationale Beachtung, er wurde «Master of Color» genannt.

René Groebli lebt in Zürich Wollishofen. Betritt man sein Reich, steigt man zuerst durch einen ebenerdigen Türrahmen, es folgt ein schmaler Gang zur Terrasse, links eine Treppe nach unten, sonst nichts. «Hier unten! Willkommen, willkommen!», ruft Groebli.

In seinem Reich

Die Decke des Tiefparterres ist mit dunklen Platten ausgekleidet, auf den Regalen stapelt sich Fach- über Weltliteratur, dunkle Ledersessel laden zum Verweilen ein, die selbst gebaute Küche ist detailverliebt eingerichtet. Hier stehen alte Lampen, dort Relikte aus anderen Kulturen, dazwischen goldene Figuren, frische Blumen, Teekannen aus Zinn, glitzernde Kristallkaraffen. Über dem Esstisch scheint helles Tageslicht herein, es beleuchtet die Hortensien, die vor dem Fenster blühen. Und mittendrin steht René Groebli: violettes Hemd, violette Brille, violette Uhr, farbige Turnschuhe und grasgrüne Hosen. Seine weissen Locken und die blauen Augen leuchten im Licht. «Ich war früher mal der Master of Color der Fotografie, heute mache ich das mit meiner Kleidung», sagt er.

René Groebli war 18 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Damals machte er mit einer zweiäugigen Rollei seine allerersten Aufnahmen, und zwar vom morgendlichen Nebel über der Limmat. An seiner Konfirmation verkündete er vor seiner Familie, dass er die Schule verlassen und zum Film gehen oder Fotograf werden möchte. «Der Vater war natürlich völlig dagegen. Der Grossvater beschloss dann, die Mamma solle mit dem Bub mal in die Berufsberatung.» Dort habe man gesagt, der Träumer solle keinen Tag länger in die Kantonsschule. Doch Hans Finslers Fachklasse für Fotografie an der Zürcher Kunstgewerbeschule (der heutigen Zürcher Hochschule der Künste) sei nicht sein Ding gewesen, sagt Groebli. «Die neue Sachlichkeit war nicht meine Art. Ich war ein Vollblutromantiker. Bewegung, Stimmung, Emotionen – das hat mich interessiert.»

Le Corbusier (1955)

Der erste Job und die erste Liebe

In den Sommerferien durfte er an einem Dreh der Central Film für einen SBB-Werbespot mitarbeiten. «Ich habe mich so sehr eingesetzt, als ob ich dort bereits arbeiten würde.» Nach Drehschluss habe der Direktor ihn gefragt, ob er Lust hätte, bei ihm zu bleiben. Aber der Vater habe eisern auf einem Lehrvertrag bestanden. «Also ging ich auf eigene Faust zum Lehrlingsamt. Die haben gelacht und gesagt, es gäbe gar keine Lehre als Filmkameramann. Ich sagte: ‹Doch, doch, die gibt es, ich habe jetzt eine Lehrstelle.› Also haben wir einen Vertrag gebastelt, mit dem ich dann zurück zur Central Film ging.» So wurde René Groebli 1948 der erste offiziell ausgebildete Kameramann der Schweiz.

Auch später noch musste der Visionär für sich und seine Arbeit zuweilen etwas Überzeugungsarbeit leisten. «Als ich in den 50er-Jahren mit meinen Eisenbahnaufnahmen kam, wurde ich schräg angeschaut. Selbst die Zeitschrift ‹Du› wollte das nicht publizieren. Es seien alles verwackelte Aufnahmen, sagten sie.» Sein unverwechselbarer Stil wurde dennoch weltbekannt. Unvergessen bleiben die Bilder «Das Auge der Liebe», die Serie, die während der Hochzeitsreise mit seiner Frau Rita in einem Pariser Hotel entstand. Seine grosse Liebe hat er an der Kunstgewerbeschule getroffen. «Ich war 16 Jahre alt und eher spätreif. Rita war damals bereits 20 und hat wunderbar gezeichnet. Ich habe sie endlos bewundert.» Sie sei die toleranteste Frau der Welt gewesen. «Sie fand, dass ein Mann, der kreativ arbeitet, nicht hundertprozentig monogam sein könne.» Nach ihrem Hirnschlag pflegte er seine Frau. Tagein, tagaus. 68 Jahre Liebe. Bis zum Ende.

600 Fotos bleiben

Das gemeinsame Haus wurde 1955 erbaut. Ab dieser Zeit war Groebli vor allem in der Werbung tätig. Nach einigen letzten Reportagen in London, im Nahen Osten und in Afrika nahm er 1953 für Hoffmann-LaRoche den ersten Industrieauftrag an. «Die hatten noch gar keine Werbeabteilung. Aber der Direktor fragte mich, ob ich für sie fotografieren möchte. Denn sie ­wollten etwas Modernes. Da bin ich natürlich nach Basel gesprungen!» Denn herumreisen wollte er nicht mehr. Bald darauf gründete er ein eigenes Fotostudio für Werbe- und Industriefotografie. Letztes Jahr hat er sein Archiv aufgeräumt. Dennoch stapeln sich immer noch deckenhoch die Kisten, überall stehen Becher gefüllt mit ungespitzten Bleistiften herum, es riecht nach Karton. Eine Entwicklerlösung reiht sich auf den Regalen an die nächste. Die Fotografien füllen den Raum mit endlosen Geschichten. Bloss 600 Negative hat Groebli der Genfer Auer Photo Foundation vermacht, der Rest wird vernichtet: «Was ich für gut halte, habe ich heraus­gegeben.» 2002 schoss er in seinem Haus in den Vogesen die letzte Fotoserie.

«René Groebli – Early Work», 1945–1955, wurde beim Verlag Sturm & Drang herausgegeben und ist für Fr. 39.90 bei Ex Libris erhältlich.

(Erschienen im Migros-Magazin, Oktober 2015. Bilder von Herrn Groebli zur Verfügung gestellt, Porträtbild: Roland Tännler) 

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