Doris Leuthard im Interview

Bundesrätin Doris Leuthard (52, CVP) kämpft für einen zweiten Strassentunnel durch den Gotthard. Der Alpenschutz sei durch das Projekt nicht gefährdet.

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Doris Leuthard, welche Bedeutung hat der Gotthard für Sie ganz persönlich?
Als Kind verbrachte ich die Sommerferien jeweils bei Verwandten im Tessin. Einen Strassentunnel gab es damals noch nicht. Mit unserem alten Auto krochen wir die Passstrasse hinauf, es röchelte und zischte, und der Vater musste ständig Kühlwasser nachfüllen. Oben angekommen, war ich stets überwältigt von der Landschaft – es ist ein spezieller Berg für die Schweiz.

Ende Februar stimmen wir über den Bau einer zweiten Röhre ab. Weshalb ist diese Lösung zur Sanierung des bestehenden Strassentunnels die beste?
Weil wir die Strassenverbindung stets offen halten können und so auch für alle künftigen Sanierungen gewappnet sind. Technisch machbar wären auch Verladestationen, so würde aber die Strassenverbindung durch den Tunnel für drei bis vier Jahre gekappt. Für den Bau einer zweiten Röhre spricht zudem die Sicherheit. Bei richtungsgetrennten Tunnels passieren weniger Unfälle. Frontalkollisionen können verhindert werden. Deshalb ist diese Verkehrsführung für Strecken mit viel Verkehr inzwischen europäischer Standard.

Leitplanken im bestehenden Tunnel würden die Sicherheit ebenfalls verbessern.
Nein. Wer heute im Gotthard über die Mitte fährt, wird von sogenannten Rüttelstreifen gewarnt. Mit dem Einbau einer Leitplanke würde der Fahrstreifen noch schmäler, was die Gefahr von Kollisionen erhöht. Wenn wir die Sicherheit erhöhen und schwere Kollisionen vermeiden wollen, geht das nur mit einer zweiten Röhre.

Nur kommt diese Variante rund eine Milliarde teurer.
Sie bringt uns aber auch viel mehr! Die Gotthardverbindung bleibt offen, für künftige Sanierungen ist vorgesorgt, und schwere Unfälle können vermieden werden. Sonst müsste je ein Bahntransport für Autos und für Lastwagen erstellt werden. Und trotzdem könnten nur 600’000 Lastwagen pro Jahr den Gotthard auf Schienen queren, der Rest müsste über andere Alpenpässe ausweichen. Nach vier Jahren müsste man zudem die ganze Infrastruktur zurückbauen, weil die betroffenen Regionen keine permanenten Anlagen wollen. Die Investitionen wären verloren – und in 30 bis 40 Jahren müssten wir wieder über die gleichen Fragen diskutieren. Auf Dauer ergibt die Lösung mit der zweiten Röhre darum auch finanziell mehr Sinn. Sie ist schlicht nachhaltiger.

Ein Bericht des Astra kommt zum Schluss, dass die Tunneldecke in besserem Zustand ist als bisher angenommen, eine Sanierung deshalb nicht vor 2035 notwendig ist. Zeit wäre also vorhanden. Weshalb wartet man nicht zu, bis Erfahrungen mit dem neuen Basistunnel in die Überlegungen einfliessen können?
Der Bericht zeigt, dass die Korrosion der Zwischendecke langsamer verläuft als ursprünglich angenommen. Unseren Fachleuten ist es gelungen, mit einer Schutzschicht den Zerfall zu bremsen. Das ändert aber nichts daran, dass der Tunnel umfassend saniert und deswegen für längere Zeit vollständig gesperrt werden muss. Die Kritiker ziehen unverantwortliche Schlüsse aus dem Bericht. Wer die Sanierung hinauszögert, spielt mit der Sicherheit! Wir müssen sicherstellen, dass die Tunneldecke nicht einstürzt.

Mehr Strassen führen zu mehr Verkehr – weshalb soll das am Gotthard nicht zutreffen?
Auf den Nationalstrassen, da sind sich alle Prognosen einig, wird es sowohl bei den Personen als auch bei den Gütern einen Zuwachs geben. Beim Gotthard jedoch sind die Zahlen seit Jahren stabil. Wir sprechen von rund sechs Millionen Fahrzeugen im Jahr. Die Verlagerungspolitik greift. Der 2001 eingeführte Tropfenzähler am Gotthard, der für einen Abstand von 150 Metern zwischen zwei Lastwagen sorgt, liesse mehr Verkehr zu. Doch diese Kapazität wird gar nicht ausgeschöpft. Weshalb sollte sich das plötzlich ändern?

Im Sommer oder an Ostern sind Staus vor dem Gotthard die Regel. Die Versuchung, die zusätzlichen Spuren zu öffnen, wird gross sein.
Das ist ausgeschlossen. Es gibt zum einen den Alpenschutzartikel in der Verfassung, der das verbietet. Zum anderen die im Gesetz neu verankerte Schranke, die den Einspurbetrieb vorschreibt. Ich verstehe die Ängste, aber es gibt keinen rationalen Grund, diesem doppelten Schutz zu misstrauen. Noch einmal: Um die Kapazität am Gotthard zu erhöhen, bräuchte es eine Verfassungsänderung, die Zustimmung von Volk und Ständen. Es reicht nicht, mir einen bösen Brief zu schreiben.

Verfassung und Gesetz sind nicht in Stein gemeisselt. Was, wenn die EU plötzlich Druck macht? Es ergibt doch keinen Sinn, bestehende Kapazitäten nicht zu nutzen.
Das Argument sticht nicht. Die Verfassung ist zwar veränderbar, und so könnte jemand theoretisch auch fordern, die Kantone abzuschaffen. Es gibt keine Garantien für alle Ewigkeit. Jede Generation soll gewisse Fragen für sich beantworten können. Fakt ist aber: Der Alpenschutz ist doppelt gesichert. Weder der Bundesrat noch das Parlament oder die Kantone sind für eine Änderung zu haben. Da sind wir sauber unterwegs – und auch die EU akzeptiert unsere Verlagerungspolitik. Beim Fréjus-Tunnel zwischen Frankreich und Italien macht man im Übrigen genau das Gleiche, wie bei uns geplant ist: Es gibt bald eine zweite Röhre und danach wird der Verkehr richtungsgetrennt einspurig durch den Tunnel geführt.

Ihr Vorgänger Moritz Leuenberger schiesst in einem Interview scharf gegen Ihre Pläne am Gotthard. Ärgert Sie das?
Ich habe mich mehr gewundert als geärgert, wich er doch bei der Kernfrage, wie der Verkehr während der Tunnelsperrung denn sonst bewältigt werden soll, einfach aus. Ohne zweite Röhre müssten im Urnerland und im Tessin riesige Verladestationen für den Transport der Lastwagen auf die Bahn gebaut werden, mit grossen Beeinträchtigungen vor Ort. Langjährige Unterstützer der Alpeninitiative wie Clown Dimitri oder Gewerkschafter Renzo Ambrosetti setzen sich darum für eine zweite Röhre ein.

Was passiert bei einem Nein zur zweiten Röhre?
Dann bliebe der Tunnel für drei bis vier Jahre zu und es bräuchte einen Bahnverlad für fünf Millionen Autos. Dazu müssten die alten Einrichtungen in Göschenen und Airolo reaktiviert werden. Die Belastung wäre gross, im Vergleich zu den Lastwagen aber noch der einfachere Teil. Für die Lastwagen müsste man in Erstfeld und Biasca eine neue Verladeinfrastruktur aufbauen. Das benötigte viel Platz und zu allem her auch noch eine Lockerung des Nachtfahrverbots. Die Folgen wären grosser Landverschleiss, viel Lärm und steigende Emissionen. Deshalb verstehe ich die ablehnende Haltung der Umweltverbände nicht ganz.

Apropos Umwelt: Die Klimakonferenz Ende 2015 war ein Erfolg. Hat die Schweiz ihre Ziele erreicht?
Nicht vollumfänglich. Wir sind aber auch mit hohen Ambitionen angereist. Unser Hauptziel war ein Vertrag, der nicht nur die Industriestaaten in die Pflicht nimmt. Das haben wir erreicht. Auch die Entwicklungsländer müssen nun Reduktionsziele einreichen. Dass ein kleiner Inselstaat, der vom steigenden Meeresspiegel in seiner Existenz bedroht ist, eine andere Agenda verfolgt als etwa China oder Indien, ist klar.

Die Industriestaaten sind an der Situation in China ja nicht ganz unschuldig.
Natürlich gibt es eine historische Verantwortung der Industriestaaten. Darum sind wir auch bereit, tiefer in die Tasche zu greifen als andere. Irgendwann ist diese Schuld aber beglichen. Europa ist heute für 13 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, die Entwicklungsländer für über 50 Prozent. Indien und China gehören zu den grössten Sündern. Auch die Schweiz hat noch Verbesserungspotenzial – aber auf einem viel tieferen Niveau.

Welcher Kompromiss schmerzt Sie am meisten?
Bei der Finanzierung hätte ich gern mehr Staaten in die Pflicht genommen. Singapur, Kuwait und Saudi-Arabien gelten immer noch als Entwicklungsländer. Obwohl die Menschen dort ein ziemlich hohes Einkommen haben und so auch mehr Verantwortung übernehmen können. China ist finanzkräftig und tätigt ja auch in hohem Masse Investitionen in Afrika, um seinen massiven Energiebedarf abzudecken. Als Mitglied der G-20 gehört man nicht nur zu den Mächtigen der Welt, man hat auch eine finanzielle Verantwortung.

In drei Jahren gibt es die erste Zeugnisvergabe, die nationalen Klimaprogramme werden überprüft. Mit welchen Noten rechnen Sie?
Die Schweiz wird sich nicht verstecken müssen. Mit 6,3 Tonnen CO2 pro Person und Jahr sind wir schon heute ein tiefer Emittent. In der EU sind es 8,7 Tonnen.

Klimaverträglich wäre eine Tonne.
Das ist ein ambitiöses Fernziel unter der Voraussetzung, dass sich alle auf diesem Level einpendeln. Bei den Emissionen pro Kopf haben wir in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Weniger gut sind wir beim Verkehr. Unsere Nahrungsmittel legen zu grosse Distanzen zurück. Wenn die Leute häufiger das essen würden, was in der Schweiz produziert wird, wäre das ein Fortschritt. Da braucht es eine Sensibilisierung: Wir müssen unser Konsum- und Mobilitätsverhalten hinterfragen. In der Energiepolitik wollen wir weg von Öl, Gas und Kohle und setzen auf Erneuerbare. Die Ziele lauten: Verbrauch reduzieren und mehr Effizienz.

Bisher fällt die Bilanz ernüchternd aus. Gerade ist die Schweiz in einem Klima-Rating aus den Top Ten gefallen. Hat der Klimaschutz hierzulande an Stellenwert verloren?
Bei dem Rating, das Sie ansprechen, wurde die Finanzierung sehr stark gewichtet. Andere Ranglisten führen wir an. Entscheidend sind im Übrigen nicht Ankündigungen, sondern was wirklich getan wird. In der Schweiz können Sie darauf zählen, dass wir machen, was wir ankündigen. Und zwar relativ schnell und korrekt. Ich werde dem Parlament eine Vorlage unterbreiten, was es bis 2030 anzupacken gilt.

Das neue Parlament hat eine bürgerliche Mehrheit. Ihnen stehen harte Zeiten bevor.
In Paris hat US-Aussenminister John Kerry für das riesige Potenzial geworben, das in grünen Innovationen steckt. Manchen in der Schweiz ist noch zu wenig bewusst, dass sich da eine riesige Chance bietet. Die Welt verändert sich, ob man das mag oder nicht. Dekarbonisierung und Erneuerbare – diese Entwicklung ist nicht zu stoppen. Wenn wir das verschlafen, gehören wir auf lange Sicht zu den Verlierern.

Was unternehmen Sie, damit das nicht eintrifft?
Seit 2008 macht sich der Bundesrat stark für umweltfreundliche Technologien. Momentan mag der Ölpreis tief sein und kaum Anreize bieten, alternative Energiequellen zu forcieren. Wir wissen aber, dass sich das wieder ändern wird. Unsere Unternehmen haben sich bisher immer dadurch ausgezeichnet, Trends frühzeitig erkannt und auf Innovationen gesetzt zu haben. Paris hat die Stossrichtung aufgezeigt: Das Geld wird umgeschichtet von braun auf grün.

Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat bisher wenig Verständnis für diese Stossrichtung gezeigt.
Das ist so. Ich verstehe, dass die Wirtschaft unter dem starken Franken leidet. Deshalb können wir aber nicht die nächsten fünf Jahre auf Reformen verzichten. Pharma- und Uhrenindustrie haben es vorgemacht: Wer Neues wagt, verschafft sich dadurch oft einen Vorsprung und kann höhere Preise verlangen. Dann ziehen die anderen nach, und man muss abermals besser werden.

Momentan prägen die Konflikte im Nahen Osten und die damit verbundenen Folgen die Debatte. Hat Klimapolitik überhaupt noch Platz in der politischen Agenda?
Wir haben ein Abkommen erreicht. Trotz der extrem schwierigen Fragen, die mit den grossen Migrationsströmen, den hohen Arbeitslosenquoten und schlechten Wachstumszahlen in vielen Ländern zusammenhängen. Das ist eine Riesenleistung. Die Einsicht ist da, dass wir so nicht mehr weitermachen können. Die Probleme liegen auf dem Tisch. Jetzt geht es darum, Verantwortung zu übernehmen.

Das letzte Wort haben aber die Parlamente – und die setzen oft andere Prioritäten.
Deshalb braucht es gute Argumente. Die ganze Welt werden wir nicht in zwei Jahren verändern. Es ist ein Prozess. Zudem gilt es, die Kosten des Nichtstuns vor Augen zu halten. Unseren Enkeln drohen Überschwemmungen und Dürren – und dafür aufkommen wird der Steuerzahler, wenn wir nicht Gegensteuer geben. Sich zurückzulehnen, ist also keine gute Lösung. Jetzt ist der richtige Moment dafür da, das Blatt zu wenden.

Ein Atomausstieg würde das Blatt definitiv wenden. Aber der scheint nach den Wahlen in noch weitere Ferne gerückt.
Die SVP ist dagegen, bei der FDP weiss man es nicht so recht. Mit diesen Parteien müssen wir in dieser Sache das Gespräch suchen. Aber was wäre denn die Alternative?

Sagen Sie es uns.
Weiter wie bisher? Kernkraftwerke (KKW) gehen früher oder später vom Netz. Ich habe zwar immer noch drei Gesuche für neue KKWs in der Schublade, doch das rechnet sich nicht mehr. Keiner der Stromriesen ist daran interessiert. Die Kosten für den Bau neuer KKWs sind zu hoch und das Abfallproblem ist auch nach 40 Jahren immer noch nicht gelöst.

Die Initiative «Grüne Wirtschaft» und der Gegenvorschlag sind im Parlament abgestürzt. Welche Hoffnung für griffige Massnahmen bleibt Ihnen?
Die Initiative geht zu weit. Im heutigen Umweltschutzgesetz aus den Achtzigern finden Sie das Wort Ressourceneffizienz aber nicht. Damals fokussierte man auf den Gewässerschutz und den Waldschutz. Heute haben wir ganz andere Herausforderungen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: mehr Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz. Die vorgeschlagene Änderung fand nun zwar keine Mehrheit. Das Problem ist aber nicht aus der Welt. Wir müssen einen anderen Ansatz finden.

Wie könnte ein solcher aussehen?
Wir müssen die Gespräche mit den verschiedenen Branchen suchen und sie von den Vorteilen überzeugen, freiwillig auf Ressourceneffizienz zu setzen. Vielleicht helfen auch Standards.

Am 9. Dezember wurden Sie mit 215 Stimmen wiedergewählt. Was bedeutet Ihnen dieses Glanzresultat?
Ich bin auf jeden Fall zunächst einmal dankbar, dass es so herausgekommen ist. Die Parteien wollten sich am Wahltag nicht wehtun. Das ist gut für den Bundesrat. Wir sind ein Gremium, das gemeinsam die Probleme des Landes angehen muss.

Sie gelten als schlagfertige Strahlefrau mit den zufriedensten MitarbeiterInnen – was machen Sie besser als andere Bundesräte?
Sehr viele Bundesratsgeschäfte betreffen das UVEK. Das ist viel Arbeit. Da ich nicht überall Expertin sein kann, bin ich darauf angewiesen, dass mein Team die wichtigsten Dossiers gut vorbereitet – dann diskutieren wir. Ich lege Wert darauf, dass alle mitdenken. Sie müssen mich auf kritische Punkte hinweisen und Lösungen miterarbeiten. Ich will gestalten, nicht nur verwalten.

Vor vier Jahren gab es noch eine weibliche Mehrheit im Bundesrat, heute sind die Frauen nur noch zu zweit. Was wird anders?
Es ist kein Geheimnis, dass wir Frauen uns gut verstanden haben – obwohl wir unterschiedliche Persönlichkeiten und politisch unterschiedlich verankert sind. Es gibt Erfahrungen, die man nur als Frau macht, das verbindet. Jetzt sind wir halt nur noch zwei Frauen, die dann und wann gemeinsam ein Cüpli trinken gehen. An dem wird sich nichts ändern.

Seit fast zehn Jahren sind Sie jetzt Bundesrätin. 2017 könnten Sie noch einmal Bundespräsidentin werden. Was wollen Sie noch erreichen?
Jetzt bin ich für vier Jahre wiedergewählt. Die Energiepolitik liegt mir am Herzen, diese möchte ich weiter vorantreiben. Beim Verkehr steht nach der Gotthardabstimmung mit dem Strassenfonds das nächste Grossprojekt auf dem Programm. Weitere Stichworte sind der Service public, die Digitalisierung, die Europafrage. Sie sehen: Die Arbeit geht mir nicht aus.

(Erschienen im Migros-Magazin, Januar 2016. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Peter Aeschlimann. Bild: Beat Schweizer)

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