Fürs Leben

Nicht jede Abtreibung ist schwierig oder schmerzhaft: Warum unser Nein zum Baby die lebensbejahendste Entscheidung meines Lebens war.

Herausgefunden habe ich es an einem zu frühen Mittwochmorgen Ende Januar auf meinem Badezimmerboden. Als sich das Strichlein des Schwangerschaftstests langsam Rot färbte, sagte alles in mir ein so deutliches Nein, wie ich es noch nie in meinem Leben verspürt hatte. Und das, obschon ich allen erzählte, ich wolle dann bald mal Mutter werden. Ich bin 30, bei mir angekommen, ich könnte einem Kind geben, was es braucht. Ich nahm jedoch mein Handy und schrieb um halb sieben einer wundervollen Frauenärztin, mit der ich mal beruflich zu tun hatte, dass ich sie nun selber brauche.

Danach weckte ich meinen Partner mit den Worten, ich sei noch nicht bereit und hätte schon alles organisiert. Mein Körper, meine Entscheidung. Dennoch musste der Entscheid gemeinsam gefällt werden und Boden haben. Wir kannten uns erst zwei Monate und mussten uns nun überlegen, ob wir uns vorstellen könnten, miteinander eine Familie zu gründen.

Man sagt, eine Abtreibung zerstört eine Beziehung oder bringt sie näher zusammen. Als er mir in meinem einzigen «aber was, wenn doch»-Moment sagte «Wenn du dieses Baby willst, dann machen wir das», wusste ich, dass ich mir eine Zukunft mit ihm vorstellen kann.

Es ist nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, wie viel Klarheit, Dankbarkeit und Liebe dieser Entscheid in mein Leben gebracht hat. In erster Linie war ich all den Frauen dankbar, die mir ihre Geschichte erzählt hatten. Durch diese Auseinandersetzung mit dem Thema konnte ich zu einer eigenen Haltung gelangen. Ich wusste genau, in welche Praxis ich gehen wollte, und habe am selben Nachmittag einen Termin gekriegt: An den Wänden hingen Frauenstreik-Poster, der Parkettboden knarzte, die Frauen trugen bunte Kleider, sie gaben uns beiden Bachblütentropfen, wir fühlten uns zuhause.

Ich war dankbar, dass ich in Zürich lebe, wo solche Orte einfach aufzufinden sind. Ich war dankbar für meinen Lohn, da uns das ganze Vorgehen am Ende 1200 Franken gekostet hat – unsere Selbstbehalte liegen bei 2500 Franken. Ich war dankbar für mein Alter, da ich mich Anfang 20 für einen derart klaren Entscheid noch nicht gut genug gespürt hätte. Ich war dankbar für unser politisches System, das mir das Recht über meinen eigenen Körper gibt.

Und ich war dankbar, dass ich einen Mann an meiner Seite hatte, der das einzig Richtige tat: seinen Mann stehen.

Ich merkte, dass unser Nein der lebensbejahendste Entscheid meines Lebens war. Es war ein Ja zu unserer Beziehung, die mir so wertvoll ist, dass ich uns zumindest noch einen ersten gemeinsamen Frühling zu zweit geben wollte. Es war ein Ja zu mir selbst, da ich mich nicht schon wieder in die nächste Herausforderung stürzen wollte. Und es war ein Ja zum künftigen Leben unseres Babys. Ein Kind verdient ein klares Ja. Kein «ja gut, dann machen wir das halt», sondern ein «ja, wir wollen dich».

Also machte ich, was (potentielle) Mütter so tun: das Beste für ihr Kind. Ich schickte unser Baby ins Universum zurück, wo es noch ein paar Runden drehen sollte bis wir dann wirklich vielleicht einmal bereit dafür sind. Wir liessen uns noch eine Woche Bedenkzeit, in der wir jede Sekunde zusammen verbracht haben. Wir haben zusammen geweint, aber nie aus Zweifel. Denn selbst wenn es ein klarer Entscheid war, war es ein grosser Entscheid für zwei Frischverknallte.

An einem Dienstagnachmittag im Februar schluckte ich drei Tabletten Mifegyne, die dazu führen, dass der Körper das Gewebe abstösst. Zwei Tage später hätte der nächste Termin folgen sollen, bei dem ich ein Medikament kriegen würde, das Wehen auslöst und somit den Inhalt der Gebärmutter ausstösst. Was ich damals noch nicht wusste: Ich gehörte zu den glücklichen drei Prozent, bei denen das erste Medikament reichte. Das hing auch damit zusammen, dass ich nur etwa erst sechs Wochen schwanger war.

Etwa 24 Stunden nach der Einnahme begann ich zu bluten. Beim Pinkeln musste ich alles, was dabei heraustropfen würde, mit einem Sieb auffangen und in einem mit Wasser gefüllten Konfitüreglas aufbewahren. Es kamen Fetzen aus geronnenem Blut heraus wie bei einer Menstruation. Und auch ein kleines Gewebeteil, das ich aufbewahren musste.

Am nächsten Tag machten wir uns mit Kissen, Decken, Büchern, Laptop, Essen, Tee und Schmerzmitteln bepackt auf in die Praxis. Uns erwartete der einzige Teil, vor dem wir Angst hatten: stundenlange Wehenschmerzen. Nach einem kurzen Vorgespräch, untersuchten die Frauen der Praxis das Konfitüreglas. Das Gewebeteil, das wars. Es war raus. Einfach so. Wir wurden wieder nach Hause geschickt.

Und es war vorbei. Ohne Widerstand. Ohne Schmerzen. Ein Fruchtsäckchen in der Grösse eines Fingernagels, darin für die Augen unsichtbar ein klitzekleines Embryo von zwei Millimetern Grösse. Wir erhielten es in einem Kartonböxli und entschieden uns, es mitzunehmen. Wir fanden, dass es einen schönen Abschied verdient hat. Zuhause erwartete uns Besuch von Freunden, die uns Blumen schickten und Kuchen mitbrachten.

Unter dem Besuch war eine schwangere Freundin. Und alles war genau so, wie es sein sollte.

Nicht jede Abtreibung ist schmerzhaft oder schwierig. Ich glaube, jede Frau spürt in dieser Situation, was zu tun ist – wenn ihr Umfeld sie lässt. Hätte ich das früher gewusst, hätte uns das viele Ängste erspart. Ein paar Tage später verbrannten wir das Böxli in meinem Lieblingspark, kleideten eine kleine Grube mit Rosenblättern aus und vergruben die Asche mit einem Citrinstein, damit es nicht so dunkel ist. Letzten Endes war es etwas, das wir gemeinsam erschaffen hatten, und somit etwas Wertvolles.

Ich veröffentliche diesen Text aus Dankbarkeit allen Frauen gegenüber, die sich mir mit ihren Geschichten geöffnet haben. Ohne euch wäre diese Zeit weniger klar gewesen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass uns Menschen nichts näher zusammenbringt, als wenn wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse offen miteinander teilen.

Ich finde, dass man das Leben mit all seinen Entscheidungen nicht alleine durchstehen muss. Und ich habe erfahren, dass ich nicht Mutter werden muss, um ein erfülltes Leben als Frau zu führen.

Unser Baby wäre letzten September gekommen. In dieser Zeit dachten wir ein paar Mal an unsere Entscheidung zurück – immer mit der Gewissheit, dass sie richtig war. Manchmal sahen wir superherzige, junge Familien. Wow, das könnten wir sein. Manchmal sahen wir superlaute, schreiende Babies und ihre Eltern im Tram. Wow, das könnten wir sein.

Aber das waren wir nicht. Wir haben für uns den anderen Weg gewählt und diese Entscheidung in keinem Moment hinterfragt, bis heute nicht. Das Schönste daran: Diese junge Familie, wir könnten das immer noch eines Tages sein. Wir sind zwei junge, fruchtbare Menschen, die sich lieben. Wir haben das Privileg, beide Optionen zu haben. Wie wunderschön.

Ich dachte immer, ich könnte niemals ein Kind abtreiben. Nichtsdestotrotz bin jahrelang für das Recht auf Abtreibung demonstrieren gegangen – es ist fundamental wichtig, dass wir diese Wahl haben.

Denn wie bei so vielem weiss man erst, was es heisst, wenn man selbst betroffen ist.

Kleiner Nachtrag: Wir waren beim Zürcher Frauenambi, das nach der Pensionierung von Dr. Theres Blöchlinger leider aufgelöst wurde. Kontakte findet man noch unter frauenambulatorium.fembit.ch Falls du nicht alleine zu deinem Termin hingehen willst: Nimm jemanden mit, dem du vertraust. Oder schreib mir. Wir finden eine Lösung. Alles kommt gut – versprochen.

16 Kommentare

  1. Wunderschöner Text. Tief berührende Erfahrung. Ich teile deine Erfahrung voll und ganz, dass uns Menschen nichts näher zusammenbringt, als wenn wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse offen miteinander teilen!
    Merci fürs Teilen! ♡

  2. merci vielmals für diesen wunderbaren text, auch fürs teilen von herzen danke. ich habe gerade gegoogelt, das frauenambi hat sich gemäss internetseite aufgelöst, aber man findet trotzdem einige kontakdaten auf der seite, nur zur info.

  3. Als heute 75jährige Frau möchte ich Ihnen von ganzem Herzen beipflichten. Zu meiner Zeit war abtreiben, auch unter der 12. Woche, körperlich viel schmerzhafter, aber auch ich wusste damals, vor 50 Jahren, dass es richtig war, dieses Kind nicht zu bekommen. Sie sprechen es ganz richtig aus, mit einem klar JA ist es einfacher, mit dieser Entscheidung zu leben. Auch ich habe es nicht bereut.

  4. Eine sehr berührende Geschichte, danke fürs Veröffentlichen. Sehr achtsam geschrieben.
    Ich habe mich damals, ungewollt schwanger für den anderen Weg entschieden und sage rückwirkend ganz klar: Es stellt alles auf den Kopf, das Leben wird anstrengender, aber auch bunter. Im Rückblick habe ich keine Sekunde bereut und bin stolz auf meinen mittlerweile erwachsenen Sohn, den ich alleine grossgezogen habe. Jede Frau soll das für sich entscheiden dürfen und diesen Weg gehen. Alles Gute weiterhin!

  5. Vielen Dank für diese Worte
    Man ist froh wenn ich so was lese doch nicht alleine zu sein.
    Unterdessen bin ich verheiratet und Mama von einem 8jährigen.
    Aber von über 15jahre zurück war ich in dieser Entscheidung und habe mich gegen das Baby entschieden.
    Bewusst

  6. Liebe Anne-Sophie

    Danke für den Beitrag, dieser hat mir viel Mut gemacht.

    Ich habe Anfang dieses Jahres dieselbe Entscheidung getroffen. Bei der Frauenklinik Bern habe ich mich sehr gut aufgehoben gefühlt, dafür bin ich sehr dankbar, und ich denke, ich habe bei dieser Entscheidung auf mich und auf mein Glück, aber auch auf jenes des ungeborenen Kindes gehört. Ich war danach sehr erleichtert und bereue die Entscheidung nicht. Trotzdem tauchen bei mir manchmal wieder Gedanken daran auf, was wäre wohl gewesen wenns anders gekommen wäre..

    1. Ich glaube, diese Gedanken sind völlig normal und kommen bei jedem Entscheid. Danke fürs Teilen deiner Geschichte und alles Liebe!

  7. Liebe Anne-Sophie

    Ich habe deinen Text bereits letzes Jahr gelesen und bin heute dank dem Artikel im Beobachter wieder darauf gestossen.

    Vielen Dank für die berührenden Worte. Der Text spricht mir und sicherlich so mancher Frau, die ebenfalls diese Erfahrung gemacht hat, aus der Seele. Ich kann mich voll und ganz damit und vor allem mit der bewussten Entscheidung „für ein Kind“ identifizieren!

  8. Und es gibt auch uns. Auch ich habe vor einigen Jahren abgetrieben. War fest davon überzeugt die richtige Entscheidung zu treffen. Im Universitätsspital hat mich die Ärztin voll und ganz unterstützt. Mir gesagt, es sei doch schön, dass ich fruchtbar bin und auch später noch ein Kind haben kann. Damals haben mir diese Worte sehr geholfen. Die Zeit verging und ich habe mein Leben genossen. Und dann kam der errechnete Geburtstermin. Ich bin zusammengebrochen. Nichts ging mehr. Ich wollte nur noch mein Baby in den Armen halten. Es hat lange gedauert, mir selber zu verzeihen. Zum Glück hatte ich eine wundervolle Psychologin und konnte zusammen mit ihr diese Erfahrung verarbeiten. Für mich wird es aber immer eine Fehlentscheidung bleiben. Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich meinen Bekanntenkreis nicht die Einzige bin, die ihre Abtreibung im Nachhinein bereut. Manchmal kommen diese Gefühle auch erst Jahre später. Ich bin absolut dafür, dass jede Frau das Recht haben sollte, selber darüber zu entscheiden. Ich bin nicht gegen Abtreibung und jeder hat seine eigene Geschichte. Aber macht euch auch bewusst, dass sich Gefühle ändern können und man vielleicht nicht sein Leben lang gleich darüber denkt.

    1. Danke vielmals für deine Ehrlichkeit. Es gibt bestimmt auch andere Geschichten – nun liest man eben viel öfters davon. Drum wars mir so wichtig, auch mal die weniger gängige Haltung zu teilen. Ich wünsche dir alles Gute und dass du gut aufgehoben bist!

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