Girl vs. Globe

Ich habe noch 19 Prozent Akku auf meinen Laptop. Es ist Mitternacht und ich liege im Nachzug zwischen Hanoi und den Reisfeldern Sapas. 

Ich habe soeben «The Handmaid’s Tale» fertiggelesen und den totalen Brainfuck deswegen. Gestern habe ich mir für vier Dollar die Haare abschneiden lassen. Im Bett unter mir liegt ein Mädchen namens Taylor. Taylor – wie eine meine besten Freundinnen. Taylor – wie Swift, mein Spirit Animal.

Wenn mich Leute fragen, wie ich mich beschreiben würde, sage ich: furchtlos. Ich habe wirklich vor wenig Angst. Vor allem nicht vor den Dingen, über die viele Menschen schon nur ungerne sprechen. Nähe, zum Beispiel. Emotionen. Der Konfrontation mit sich selbst. Menschliche Abgründe. Schwächen.

Ich habe höchstens vor Schlangen Angst. Wenn ich nervös bin, träume ich von ihnen. Dann wache ich auf und habe das Gefühl, dass sie in meinem Bett sind. Laut Traumdeutung stehen sie für Verrat, für Veränderung.

Das chinesische Mädchen neben mir spricht im Schlaf.

Mein Laptop zeigt die Schweizer Zeit an und scheint noch nicht begriffen zu haben, dass wir in Vietnam sind. Ich habe eine emotionale Beziehung zu meinem Laptop. Auf ihm habe ich alle wichtigen Texte geschrieben – er ist mein Horkrux. Letzten Sommer hat er ein Glas Prosecco getrunken und danach für drei Tage die Arbeit verweigert. Und jetzt verleugnet er einfach die Tatsache, dass wir am anderen Ende der Welt sind – ganz die Mama.

Der Zug ruckelt. Er erinnert an den Orient Express aus den Filmen. Er hat etwas glamouröses, obschon er alt und schmuddelig ist. Er riecht nach Gewürzen, Seife, Pisse – wie die Pariser Metro im Norden. Die Vorhänge sind rot, die Wände aus glänzendem, klebrigen Holz, die Tischchen mit Gold verziert. 31 Dollar für eine schlaflose Nacht.

Vorhin habe ich das Badezimmer überschwemmt, weil das Brünneli verstopft war. Ich habe mit Leitungswasser Zähne geputzt – ein bisschen Furchtlosigkeit steckt doch noch in mir.

Ein bisschen. Den Rest habe ich zuhause gelassen.

Ich dachte immer, ich hätte vor nichts Angst. Seit ein paar Tagen weiss ich, dass mir Reisen eine Scheissangst macht. Ich scheitere hier gerade an meinem eigenen Traum vom Abenteuer im fernen Asien. Ich scheitere am Laufmeter. Ich scheitere an meinem Rucksack, den ich nicht mal für zehn Minuten ohne Schmerzen tragen kann. Ich scheitere an mir selbst, an meinem Ehrgeiz, an der Erschöpfung. An den letzten zwei Jahren, die ich quasi durchgearbeitet habe. Letztes Jahr hatte ich genau sechs Tage Ferien. Die restlichen Freitage habe ich bezogen, um an anderen Projekten zu arbeiten.

Das letzte Mal entspannt war ich im Frühling 2014. Loslassen, abschalten – sowas kann ich nicht. Ich verspüre auch hier einen Erfolgsdruck. Den, der perfekten Instagram-Bilder. Den, der Erleuchtung. Den, der tollen Geschichten, die ich dann mal erzählen soll. Eat! Pray! Love! Ich bin noch dermassen im Hamsterrad, dass mir schwindlig wird.

Hier kann ich mich mit niemandem messen, muss nichts verändern, nichts bestehen, nichts durchhalten oder durchboxen. Ich bin kampflos. Das kenne ich nicht

Ich bin ein Arbeitstier. Ich verhandle Gehälter mit dem übersteigerten Selbstbewusstsein eines weissen, mittelmässigen, heterosexuellen Mannes. Ich rackere meine To-Do-Listen in einem Tempo ab, von dem anderen schwindlig wird. Ich habe gerade in acht Wochen ein Buch geschrieben. Getippt, als wäre ich von Kerouac besessen. Ich weiss, was ich will. Immer.

Bis jetzt. Ich habe keine Ahnung, was ich hier mache. Draussen zieht die Landschaft an mir vorbei und ich rede mir ein, dass ich in einem SBB-Wagen sitze. Dass die Bäume, von denen ich praktischerweise nur die Umrisse sehe, jene zwischen Zürich und Bern sind.

Ich habe eine Deadline. Nächsten Mittwoch. Wenn ich es bis dann immer noch nicht auf die Reihe kriege, mit einem Leben ohne Erwartungen klar zu kommen, komme ich zurück.

Zurück zu dem, wovon ich weglaufen wollte. Zurück zum Alltag, zum Kapitalismus, zu Selbstoptimierung, zur Leistungsgesellschaft, zu Anything Goes und zum unmenschlichen System, in dem du dir deinen Wert als Mensch durch Arbeit abverdienst.

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12 Kommentare

  1. Falls es dir dann doch irgendwann gelingen sollte, etwas abzuschalten – Eco Palm House südlich Sapas ist sehr empfehlenswert!

  2. Warum um Himmels Willen setzt du dir so eine Deadline? Loslassen geht nicht auf Knopfdruck – das passiert (früher oder später) ganz von selbst! Du machst dich selber zum Hamster (sorry, zur Hamsterin). Also: stell nicht etwa die Uhr deines Laptops um, sondern ihn ganz aus. Und guck solang aus dem Zugfenster raus, bis auch deine Seele im Laosngekommen ist. Und nicht nur dein Körper! Habe fertig! 😉

    1. Weil ich nicht nach zwei Tagen aufgebe. Acht Tage sind eine gute Zeit. Der Laptop bleibt an, weil ich eine Kolumne und zwei Blogs habe und Texte wie den hier schreiben will. Küss Monyvette von mir, ja? x

  3. Drei Dinge:

    Du bist grossartig!
    Furcht haben (zu erkennen) ist auch grossartig. Vielleicht versuchst du deine Gefühle von deinen Gedanken zu trennen?

    Deadline ist super.
    Setz dir unbedingt immer mal wieder eine neue! *zwinker

    Du brauchst einen Notfallbrief!
    Bitte eine Freundin dir einen zu schreiben (physisch ist super, aber geht auch per Mail), den kannst du im Hinterkopf behalten und dann lesen, wenn du das Gefühl hast, dass es jetzt nicht mehr geht.

  4. Verpflichtungen absagen. Laptop ausschalten. Fenster zur bekannten Welt schliessen. Aufblicken. Das Fenster zur unbekannten Welt. Schauen. Nur schauen. Deine Spiegelung im Fenster, und die Welt dahinter. Kannst Du hineintreten oder brauchst Du Deine Spiegelung im Laptop. Wie wäre es mit einer Spiegelung im Schreibheft.

  5. Sehr lebhaft beschrieben und die Situation kommt mir nicht ganz unbekannt vor. Und ist vielleicht einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt um loszulassen. Halb so schlimm. 8-14 Tagen ist ja schon mal ein realistischer Zeitrahme um das rauszufinden.

  6. Sehr lebhaft beschrieben und die Situation kommt mir nicht ganz unbekannt vor. Und ist vielleicht einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt um loszulassen. Halb so schlimm. 8-14 Tagen ist ja schon mal ein realistischer Zeitrahmen um das rauszufinden.

  7. Keine Erwartungen haben und nicht zu wissen, was man will, sind zwei verschiedene Dinge. Wenn Sie nicht wissen, ob Sie keine Erwartungen haben wollen, sind sie auf einer Reise wohl tatsächlich am falschen Ort. Und dann gleich Vietnam?
    Furchtlosigkeit und Tollkühnheit (Ueli-Steckismus) sind auch zwei verschiedene Dinge.

  8. Vielleicht hilft es, irgendwo da drüben mal ne Weile zu verweilen. Acht Kaffees am gleichen Ort trinken. Die Strasse so oft rauf laufen, bis die Apothekerin winkt. Fünf neue Menschen beim Namen kennen.

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