Königinnen der Nacht

 

Tagsüber sind sie Kunststudent und Kindergärtner. Bei Anbruch der Dunkelheit verwandeln sich Effi Meister und Leon Schneider in Drag Queens. Eine Nacht in ihrer Welt aus Kunst und Glitzer – und ein Blick hinter die Kulissen aus Selbstverwirklichung und Provokation.

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Badischer Bahnhof, Samstagnachmittag. Kinder starren mit grossen Augen und verstecken sich hinter ihren Müttern. Eine Gruppe älterer Herren mit Hosenträgern fragt in Basler Dialekt, ob schon wieder Fasnacht sei; der Unterton hat etwas Pöbelndes. Kein einziger Kopf, der sich nicht nach Effi Meister und Leon Schneider umdreht. Die 26-jährigen Basler sind sogenannte Drag Queens, sie haben sich als weibliche Figuren verkleidet. Meister hat sich falsche Dreadlocks auf den Kopf gebunden. Unter seinem schwarzen Kimono blitzt eine Corsage hervor. Den Büstenhalter hat er sich mit orangen Robidog-Säckchen ausgestopft, die er später auf der Bühne des Theater Neumarkt in Zürich unter tosendem Applaus herauszupfen wird. Dort wird heute Abend die «Miss Heaven», die Königin der Drag Queens, gekürt. Meister und Schneider werden als Showact auftreten.

Schneider hat sich für Jessie, eine Comicfigur aus der Pokémon-Serie, entschieden: falsche Brüste aus Plastik, ein praller Hintern aus Schaumstoff, enge Strumpfhosen und Stiefel mit zentimeterhohen Absätzen. Doch Drag ist mehr als Verkleiden, mehr als Fasnacht. Drag schmerzt. Drag braucht Hingabe. Das wird spätestens dann klar, wenn man Schneiders geschwollene Füsse am Ende des Abends anschaut. Warum tut sich einer so etwas an? «Drag ist für mich ein Ventil». Als offen schwuler Mann erlebt er im Alltag oft Anfeindungen, wird als «Schwuchtel» und «Tunte» beschimpft oder angespuckt. «All den Dreck, den ich fressen muss, sauge ich auf wie ein Schwamm. Auf der Bühne wird dieser ausgewrungen.»

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Bis dahin dauert es noch ein paar Stunden. In Schneiders WG in Basel bereiten sich die Drag Queens zunächst auf ihre grosse Nacht vor. «Aufdragen» nennen sie den Prozess der Verwandlung. Meister ist verspätet, weil er sich noch «eine neue Pussy» kaufen musste. Als er die Räume betritt, präsentiert er grinsend eine Plüschkatze. Er werde sie während seiner Show zu den Zeilen «I worked my pussy off» aus der Hose ziehen. Effi ist eine androgyne Person. Die Seiten am Kopf hat er sich wegrasiert, übrig blieb ein Schopf aus dunkelblondem Haar. Auf seinem Gesicht sind meist Farbkleckser oder Spuren von Glitzer zu sehen – ein Vergissmeinnicht der letzten Kunstaktion. Auch Leon Schneider sticht heraus: Die Haare des Kindergärtners sind platinblond gebleicht, sein Teint hat die Farbe von Porzellan, die Beine stecken in getigerten Skinny-Jeans.

Für die nächsten Stunden versinkt das Badezimmer der Wohngemeinschaft in ein Chaos aus Pinseln, Schminkpaletten und Haarteilen. Am Spiegel prangt ein Kleber mit der Aufschrift «Steh zu dir!». Schneider presst seine Augenbrauen mit Spezialleim an die Stirn. «Man muss das alte Gesicht erst wegschminken, bevor man ein neues malt», erklärt er. Es wird still. «Die Verwandlung hat etwas Meditatives, man ist mit sich selbst konfrontiert», sagt Meister. Anecken wolle er nicht immer. Manchmal sei Drag für ihn wie ein Superheldenkostüm: «Ich hinterlasse einen bleibenden Eindruck, kriege Aufmerksamkeit. Und ich kann etwas Distanz zu meinem privaten Ich haben.»

Um 17 Uhr hocken die beiden im Zug. Man erkennt sie in ihren Outfits nicht wieder. Meister schenkt drei beeindruckten Schulkindern ein Lächeln, das erwidert wird: «In ihren Augen bin ich ein Monsterchen oder Gespenst. Aber nicht etwas, das man nicht sein darf», sagt er. Erwachsene reagieren anders: meist schockiert, gar angewidert, teilweise fasziniert. Eine Stunde später rollt der Zug in Zürich ein. In der Bahnhofshalle findet die «Züri Wiesn» statt; die Besucher grölen ihre Schlager so laut, dass man sie bis zu den Geleisen hört. Die Drag Queens stolzieren durch die Menge. «Ich glaube, ich bin im falschen Film!», sagt ausgerechnet eine angeheiterte Oktoberfestlerin, die mitten im Bahnhof dirndlbekleidet neben einem Wiesn-Zelt steht. «Ui, diese Farben!», sagt eine ratlose junge Frau in Schwarz. Es braucht wenig, um in der Schweiz zu schockieren. «Als schwuler Mann wirst du vielleicht toleriert, also geduldet. Aber nicht akzeptiert. Drag deckt das auf», erklärt Schneider. «Du hältst diesen Menschen den Spiegel vor. Wenn sie dich scheisse finden, sagen sie dir das auch. Und wenn sie offen sind, merkst du ihr Interesse.»

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Drag als politisches Statement? Als Provokation gar? Nicht nur. Bei Schneider hat man das Gefühl, es sei auch eine Art Selbstfindung. Er wuchs auf dem Land auf. Sein Vater versteht die Drag-Welt nicht: «Als ich klein war, fand er mein Schauspielern noch herzig. Jetzt, da ich erwachsen bin und es mir ernst ist, hat er viele Vorurteile», sagt Schneider. Sein Alter Ego, Klaudia Alles, erblickte vor zwei Jahren am «Tuntenball» in der Basler Bar Hirscheneck das Licht der Drag-Welt. «Ich hatte nie das Bedürfnis, mich als Frau zu verkleiden. Das erste Mal war unglaublich. Ich war wie verzaubert.» Seither schlüpft er regelmässig in Klaudias Rolle. Eines seiner Vorbilder ist Divine, die amerikanische «Queen of Filth», die in einem Film Hundekot verspeist. «Die schönen, netten, politischen korrekten Drags interessieren mich nicht. Ich mag die verwirrten, bösen.» Drum sei auch Klaudia dumm, frech – und ein richtiges Wrack.

Für Effi Meister ist Drag keine Verwandlung, sondern eine weitere Seite von ihm. Er ist der Spross einer jüdischen Grossfamilie. In Basel absolvierte er den Bachelor of Fine Arts. Als Kind spielte er mit Barbies, verkleidete sich, zeichnete Figuren. «Die Leute sollen nicht wissen, ob ich Mann, Frau oder Trans bin. Ich lade sie gerne in diese Grauzone ein», sagt er. Die Looks des Kunststudenten bedienen nicht das gängige Klischee der glamourösen Drag Queen. Um Sexyness oder Schönheit geht es ihm nicht. Er wirkt eher wie ein Fabelwesen. «Mein Körper ist eine Leinwand. Wenn ich mich für Shows vorbereite, lote ich die Grenzen von dem, was ich sein kann, aus.» Er bezeichnet sich als genderfluid – also als etwas zwischen den Geschlechtern. In Zeiten, in denen man auf Facebook zwischen über 50 Geschlechtsidentitäten auswählen kann, überrascht diese Aussage wenig. Einige seiner Freunde sprechen ihn mit weiblichen Pronomen an. «Wenn ich auf ihn sauer bin, kriegt er männliche Pronomen», sagt Schneider.

Man fragt sich, ob Meisters Botschaften seinem Publikum nicht etwas viel abverlangen. In einem Land, in dem das Sternchen der SP Frauen* bereits als hysterischer Akt übertriebener politischer Korrektheit angesehen wird? Einem Land, das sich mit Menschen jenseits von Heteronormativität immer noch schwer tut? In dem sich der SRF-Ombudsmann etwas hilflos mit der Frage auseinandersetzt, ob Viktor Giacobbo in seiner Sendung noch von «Transen» reden darf? Keine Ahnung. In Schneider und Meisters Umfeld ist die Toleranz hingegen gross. Getragen werden sie von aufgeschlossenen Arbeitgebern, offenen Mitstudenten, einem bunten Freundeskreis und ihren Partnern.

Im Theater Neumarkt angekommen, ist es Zeit für die Hauptprobe. Vicky Goldfinger, die amtierende Miss Heaven, peitscht ihre Nachfolgerinnen durch die Routine. Schneider und Meister, hier schon beinahe alte Hasen, sind nicht nervös. Ihre Nummern sitzen. Wenig später füllen sich die 160 ausverkauften Plätze. Im Vorraum werden Cüpli und Gin Tonics gebechert; Backstage erschweren ein Nebel aus Haarspray und ein Aschenbecher voller lippenstiftverschmierter Zigarettenstummel das Atmen.

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Showtime. Als die Berliner Drag Queen Melli Magic den Abend eröffnet, wird sie mit frenetischem Applaus begrüsst. «Ich liebe euch, meine Hübschen!», ruft sie theatralisch. Mit den Kandidatinnen geht sie unzimperlich um: «Kriegst du für das Beantworten meiner Frage drei Hirnzellen hin?» fragt sie. Als ein Gast zu geschwätzig ist, unterbricht sie ihn mit den Worten «Wenn du weiterredest, mach ichs mit deiner Schwester – oder wer auch immer die Bitch neben dir ist». Tosender Applaus. Während den Darbietungen fliegen Pelzmäntel, Konfettischnipsel, Rosen und Haarteile herum. «Hätte ich nicht so viel Botox gespritzt, würde man jetzt mein Strahlen sehen», so die Moderatorin. Viel Raum für Ernsthaftigkeit bleibt an diesem Abend nicht, doch man findet sie zwischen den Zeilen. Bei einer Kandidatin, die zu den Zeilen «I won’t give up, I’m free to be the greatest, I’m alive» tanzt. Der Song der australischen Sängerin Sia ist eine Hymne an die Opfer des Orlando-Massakers. Dort starben diesen Juni 49 Menschen bei einer Schiesserei in einem Schwulenclub. Man findet die Ernsthaftigkeit auch dann, wenn Melli Magic die Drag Queens als Botschafterinnen der Stonewall-Aufstände anpreist. Das Stonewall Inn war ein New Yorker Schwulenbar. Im Lokal an der Christopher Street entflammten in den 60ern regelmässig Konflikte mit Polizeibeamten. Es war die Geburtsstunde des Christopher Street Day, der heutigen Gay Pride.

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Als Meister und Schneider auf der Bühne stehen, dröhnen die Hymnen von Drag-Ikone Alaska Thunderfuck und Popwunder Lady Gaga durch den Raum. Meister singt die Zeilen «Haters gonna hate» als Playback; Schneider reisst die Augen auf, singt «I live for the applause, live for the way that you cheer and scream for me» und kriegt genau das. Nach bloss 90 Sekunden sind ihre Auftritte vorbei. Kurz nach 23 Uhr wird die Baslerin Odette Hella’Grand zur neuen Miss Heaven gekürt. Das Publikum, das während dreier Stunden ein Teil der Drag-Szene war, applaudiert und verteilt sich wieder in der Nacht. Die Begegnungen im Foyer, wo Fans ihre Königinnen anhimmeln, sind von kurzer Dauer.

Bei Sonnenaufgang ist der Zauber vorbei und das Make-up verschmiert. Im Zug nach Hause setzen sich die Drag Queens wieder dem Starren von Passanten aus. «Was diese Begegnung mit denen macht, können wir nicht beeinflussen. Im besten Fall bewegt sie sie zu etwas Selbstreflexion», so Meister. Und weiter: «Dass wir polarisieren, lässt sich nicht vermeiden und ist immer noch besser, als in Gleichgültigkeit zu versinken.» Die Blicke sind nicht immer angenehm. Auf der anderen Seite, so Schneider, rechtfertigen sie Drag als Kunstform: «Drag zeigt Missstände auf. Wenn es diese nicht mehr gibt, gibt es auch Drag nicht mehr.» Gäbe es eine absolut tolerante Gesellschaft, könnte man nicht mehr anecken.

20 Stunden waren Leon Schneider und Effi Meister unterwegs. Für 90 Sekunden auf der Bühne und die Botschaft, dass jenseits von Mann und Frau eine ganze Welt liegt: Ein Kosmos irgendwo zwischen Selbstfindung und Provokation, Chaos und Glitzer.

(Erstmals publiziert in DIE ZEIT, September 2016. Bilder: Christian Bobst)

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