Sind wir Handy-Zombies geworden? Machen uns soziale Medien asozial? Gary Turk behauptet genau das in seinem viralen Hitvideo «Look Up». Ein Einspruch.
Ich verbringe gerade einen Frühling in einem französischen Schloss. Ohne Strom, ohne WhatsApp-Kumpel, ohne Facebook-Selbstdarstellung, ohne zuverlässige WiFi-Verbindung. Und als Prototyp der Generation-Y hatte ich natürlich schon nach kurzer Zeit eine dieser wahnsinnig tiefgründigen Erleuchtungen. Ich schrieb meinen Eltern und Freunden Zuhause Hipsterkacke wie «weisst du, die Gespräche sind eben alle so echt hier» und «auch die Natur ist so schön, sie erdet einen richtig».
Daheim in meinem Yuppie-Leben habe ich 1500 Facebook-Freunde. Wenn ich ins Tram steige, schaue ich nach, ob mir jemand auf WhatsApp geschrieben hat. Und wenn meine innere Attention Whore mal wieder Überhand nimmt, poste ich ein Selfie auf Instagram und möble mein Selbstwertgefühl mit jedem Herzchen auf.
Diverse Gruppen kriegen bei solchen Worten einen regelrechten Herzinfarkt. Das sei doch «wahnsinnig» wie diese Jungen nur noch an ihrem Handy kleben. Gerade die Social-Media-Verweigerer klugscheissen bei solchen Sätzen um die Wette. Es gibt den Satz «ever wondered if somebody is a vegetarian? Don’t worry, they’ll fucking tell you». Etwa gleich verhält es sich bei Facebook-Abstinenten, die das Ganze eben «nicht nötig haben».
Auch sogenannte Social-Media-Experten Mitte 40 (kleine Bemerkung am Rande: als die jung waren, gabs noch nicht mal Internet. Sie wurden nicht im digitalen Zeitalter sozialisiert. Zudem kann ich keinen, der nicht schon einmal die Folgen von drunk-posting zu spüren bekam, als Experten wirklich ernst nehmen) oder Timeline-Besserwisser finde ich mühsam. Letztere posten dann Dinge wie das sentimental-heuchlerische «Look Up»-Video – was meiner Meinung nach an Ironie kaum zu überbieten ist (obschon es dort fairerweise die Leute erreicht, dies betrifft). Du hast 422 Freunde und fühlst dich trotzdem allein? Daran ist nicht Facebook schuld, sondern womöglich deine fragwürdige Prioritäten-Setzung. Oder dein Charakter.
Dazu kommen Medien wie die Huffington Post, die meiner Generation ewiges Unglück prophezeien, wenn wir uns bloss mit uns selber beschäftigen. Ich beobachte und kriege in vielen Gesprächen mit, dass dieses ewige Verteufeln von Facebook manche «Betroffene» wahnsinnig nervös macht. Sie kriegen Panik, wenn sie herausfinden, wie viel Zeit sie online verbringen und machen hysterische Social-Media-Detox-Ausflüge irgendwo in die Berge, wo’s dann jaaaa keinen Empfang hat.
Meine Botschaft? Beruhigende Worte aus dem Exil. Ich lebe seit zwei Monaten mit haufenweise alternativen Menschen in einer Hippie-Gross-WG zusammen. Und ich rede hier nicht von Biojoghurt-alternativ. Ich rede von Selbstversorger-alternativ. Ich durfte vieles von diesen grossartigen Menschen lernen. Zum Beispiel, dass Malen manchmal zum Abreagieren hilft. Oder wie man ein Huhn schlachtet. Aber was ich eben auch gelernt habe ist, dass sogar Menschen, die mit sich selbst, der Natur und der Welt im Allgemeinen total im Reinen sind, ihren Scheiss manchmal genauso wenig auf die Reihe kriegen wie wir «Zivilisationsgeschädigten». Die, die selber als Paartherapeuten tätig sind, setzen auch jede zweite Ehe in den Sand. Die, die noch nie was von sich gepostet haben, sind bei Konversationen im echten Leben manchmal auch Nieten. Und Oversharing ist in echt noch viel schlimmer.
Darum: keep calm and stay online. Eure echten Freunde rennen euch nicht davon, sobald die digitalen Freundschaften die Tausendermarke knacken. Auch Yolo-Kinder können anständige Bewerbungen schreiben. Wenn jemand vier Stunden im Chat verbringt, muss dieser Abend nicht zwingend verschwendet sein. Ich hatte auf diese Weise etliche wahnsinnig bereichernde Konversationen. Im Schneidersitz auf meinem Bett, mit guter Musik in den Ohren und einer Tasse Tee in der Hand. Waren diese Stunden verschwendet? Keineswegs. Wars dann schräg, diese Menschen nach gegenseitigen Seelenstrips durch den digitalen Äther persönlich zu treffen? Manchmal – aber auch immer lustig und spannend.
Ich sage nicht, dass man das alles so hinnehmen soll. Es ist wichtig, dass eine Generation ihre Eigenschaften hinterfragt. Diskussionen über das Konversationsverhalten einer Kohorte können sehr aufschlussreich sein: Ich finds auch asozial, wenn jemand beim Essen telefoniert oder Nachrichten schreibt. Das hat aber weniger mit Internetsucht zu tun, sondern vielmehr mit Anstand und mit einer 24h-Gesellschaft. Ich finde es schlimm, wie manche Leute ihre Feinde «hate-followen». Klar hat erst Facebook das so einfach gemacht, doch Stalker gabs schon immer. Menschen, die herumhaten, haben zudem in erster Linie mit sich selbst ein Problem und nicht mit ihrer Webpräsenz. Mich beunruhigt, wie einfach Asi-Promis durch neue Medien berühmt werden. Doch Marilyn Monroe war damals auch nicht wirklich ein gutes Vorbild für junge Frauen. Mich machts traurig, wenn ich meine BFFs teilweise wochenlang nur höre, statt sehe. Aber das hat primär damit zu tun, dass wir alle viel zu viel arbeiten.
Ich finde es schön, geliebte Menschen immerhin online zu sehen. Ich hab meine Freundinnen immer bei mir in der Handtasche. Irgendjemand nimmt auch Mitten in der Nacht das iPhone ab, wenn ich über Gott und die Welt reden muss. Meine Mutter kann mich stalken, wenn ich mal zwei Wochen nicht anrufe und weiss, obs mir gut geht oder nicht. Willkürliche Facebook-Anfragen wurden bei mir zu Freundschaften fürs echte und digitale Leben. Eine eifrig postende Bekannte aus England nimmt mich sogar mit auf ihre Weltreise, sobald ich ihr Profil anklicke. Social Media hat zudem viele relevante Dinge erst möglich gemacht (Arabischer Frühling anyone?).
Solange man sich doch noch ab und zu unter Leute mischt, solange man sich nicht nur über Likes definiert und solange man Mama dann doch mal wieder anruft, ist alles okay.
In dem Sinne: möge euer aller Leben so toll sein, wie ihr es immer postet.
(Erstmals publiziert auf meinem alten Blog, Mai 2014)
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Digitale Freunde sind wie Geld aus dem Spiel „Monopoly“