15 Voten zu 15 Jahren Fristenregelung

Im Juni 2002 wurde die Fristenregelung vom Volk angenommen. Sie ermöglicht Schweizer Frauen den straflosen Schwangerschaftsabbruch bis in die 12. Woche. Noch heute polarisiert das Thema Abtreibungen in allen Bereichen der Gesellschaft. 

Rebecca Djuric war selbst noch ein Kind, als sie ungewollt schwanger wurde. Den Schwangerschaftstest machte sie mit 15 auf der Schultoilette. Ihre Ärztin erwähnte die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs nur am Rande, ihre Pflegemutter redete ihr ein, Abtreibung sei Mord, und ihre leibliche Mutter liess sie mit der Entscheidung allein. Das ist jetzt acht Jahre her.

«Die Abtreibung war schlimm, doch das Jahr danach war die Hölle», erzählt die inzwischen 22-Jährige. Ihr Umfeld machte Rebecca ein derart schlechtes Gewissen, dass sie sogar versuchte, sich das Leben zu nehmen. Heute weiss sie, dass sie sich richtig entschieden hat. Doch die Stigmatisierung war lange sehr gross. 

1998 hörte man ähnlich heftige Töne: Der «juristisch legitimierte Kindermord» mache aus Spitälern wahre Schlachthäuser und der Holocaust sei «klein, gemessen an dem Selbstmord, den das Schweizervolk zu begehen im Begriff» sei. So argumentierte der Luchsinger EDU-Gemeinderat Heinz Hürzeler (71) gegen die Fristenregelung. Die parlamentarische Initiative zur Fristenregelung sei ein «Todesschatten, der unser Volk bedroht». 

Im selben Jahr lancierten Abtreibungsgegner die Initiative «Für Mutter und Kind», die das ungeborene Leben schützen sollte. 2002 kamen beide Vorlagen vors Volk. Die Fristenregelung wurde im Juni mit 72,2 Prozent angenommen; die Verbotsinitiative mit 81,8 Prozent abgelehnt. 

«Unsere kühnsten Hoffnungen wurden übertroffen», schreibt Anne-­Marie Rey (1937–2016) dazu in ihren Memoiren «Die Erzengelmacherin». Die Burgdorferin kämpfte 30 Jahre lang für eine Fristenregelung und war Gründungsmitglied der Schweizerischen Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS). Die klaren Voten setzten einen Schlusspunkt hinter ein jahrzehntelanges gesellschaftspolitisches Ringen.

Ein hundertjähriger Kampf 

Das Recht auf Abtreibung zählt zu den grossen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Als einer der Ersten setzte sich der Zürcher Arzt Fritz Brupbacher 1903 dafür ein. Die Situation damals war prekär: Verzweifelte Frauen stocherten so lange mit einer Stricknadel in ihrer Gebärmutter herum, bis die Fruchtblase platzte. Oft starben sie an den Verletzungen. Andere liessen sich von Dritten in den Bauch treten, um einen Frühabort herbeizuführen. «Viele Frauen haben ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt und wurden gesellschaftlich ausgeschlossen. Da gingen viele Leben kaputt», sagt die Psychologin Eva Zimmermann (57). Sie betreut in ihrer Praxis Frauen nach einem Abbruch. 

Als das Strafgesetzbuch 1942 in Kraft trat, wurde der Schwangerschaftsabbruch erstmals national geregelt. Er war nur dann straflos, wenn für die Frau «eine grosse Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit» besteht. Zwei vom Kanton bestimmte Ärzte hatten diese Gefahr zu bescheinigen. Die Frau musste zudem eine schriftliche Zustimmung unterschreiben. 

Mit Inkrafttreten der Fristenregelung vor 15 Jahren erhielten Schwangere mehr Rechte: In den ersten 12 Wochen einer Schwangerschaft liegt der Entscheid über den Abbruch bei der Frau. Sie kann ein schriftliches Gesuch zuhanden eines Arztes stellen mit der Begründung, dass sie sich in einer Notlage befinde. Nach Ablauf der Frist wird ein ärztliches Urteil verlangt. Dieses muss eine schwere seelische Notlage oder die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung attestieren.

Harte Fronten auch heute noch

Kritik am Schwangerschaftsabbruch ist allerdings noch immer laut: Der «Marsch fürs Läbe» mobilisiert jeden Herbst Tausende Abtreibungsgegner. «Freunde des Lebens werden niemals akzeptieren, dass man Kinder im Mutterleib tötet», lautet die Botschaft. Die Märsche finden auch in Deutschland und den USA statt. Begleitet werden sie jeweils von heftigen Gegendemonstrationen.

Du sollst nicht töten, heisst es in der Bibel – doch wann fängt das menschliche Leben eigentlich genau an? Über diese Frage sind sich Ethiker, Mediziner und Theologen uneinig. «Bei der Empfängnis», sagt Bischof Charles Morerod (55). «Beim ersten Atemzug», finden andere. Aus theologischer Sicht wird oft damit argumentiert, dass Frauen ihren Entscheid später bereuen würden. Eine im letzten Jahr erschienene Studie der University of California spricht dagegen: Von 667 befragten Frauen gaben nur fünf Prozent an, ihren Entscheid bereut zu haben. Die Befragung fand drei Jahre nach der Abtreibung statt.

Die Debatte geht weiter

In der Schweiz entscheiden sich jährlich rund 10 000 Frauen für eine Abtreibung – eine Zahl, die seit zehn Jahren konstant ist. 2010 wurde die Fristenregelung erneut zum Politikum. Damals lancierte der Verein Mamma die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache», die die Kosten aus der obligatorischen Grundversorgung streichen wollte. 2014 wurde die Initiative mit 69,8 Prozent abgelehnt. 

Nicht nur in der Schweiz, auch im Ausland geht der Kampf weiter. Im Oktober 2016 demonstrierten in Polen Zehntausende erfolgreich gegen die geplante Verschärfung des ohnehin schon strengen Abtreibungsgesetzes, das polnische Frauen oft dazu zwingt, für einen Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu fahren.

In den USA fürchten viele Frauen nach Trumps Wahlsieg, dass während seiner Präsidentschaft Verhütungsmittel schwerer zugänglich und Abtreibungen verboten werden könnten.

 

Die Pfarrerin: Sibylle Forrer (37), was sagt eigentlich die Bibel?

«Die Bibel sagt nichts zu Abtreibung, obwohl diese schon zu jener Zeit praktiziert wurde. Zudem hat sie ein ambivalentes Verhältnis zum Töten. Im Alten Testament gibt es eine Stelle, in der zwei Männer miteinander raufen. Dabei kommen eine Mutter und ein Kind zu Schaden. Wenn das Kind starb, musste der Verlust dem Mann vergütet werden. Starb die Mutter, galt ein Tötungsbefehl. Die beiden Leben waren also nicht gleichwertig.» 

Der Aktivist: Pascal Wacker (25), warum demonstrieren Sie heute noch?

«Ich verstehe bis heute nicht, was es andere Menschen angeht, ob jemand abtreibt oder nicht. Es gibt Frauen, die ungewollt schwanger werden, Komplikationen haben, noch nicht bereit sind oder vergewaltigt wurden. In einer aufgeklärten Gesellschaft darf niemand zu einem Kind gezwungen werden. Wenn religiösen Fundamentalisten das Recht auf Leben so heilig ist, sollten sie sich konsequenterweise vegan ernähren und Geflüchtete sowie Arme unterstützen. Für mich ist der «Marsch fürs Läbe» keine Meinung, sondern ein Gewaltaufruf gegen Frauen.»

Die Seite der SHMK: Dominik Müggler (58), was stört Sie an der Fristenregelung?

«Die Fristenlösung ist die derzeit grösste Schwachstelle in unserem Rechtsstaat. Das ungeborene Kind ist ein Vertreter der Gattung Mensch und Träger der Menschenwürde. Es darf nicht getötet werden, ohne dass dadurch eine Bestrafung ausgelöst wird. Ansonsten wird es zum «Nicht-Menschen» degradiert. Wir beraten bei der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) derzeit rund 1300 Hilfesuchende. Wer sich im Schwangerschaftskonflikt befindet und weder weiss, dass es Hilfe gibt, noch solche angeboten erhält, hat im Grunde keine Wahl. Das wollen wir verhindern.»

Die Politikerin: Barbara Haering (63), wie war es, die parlamentarische Initiative einzureichen?

«Nach den Wahlen 1991 erkannten Frauenorganisationen im Parlament eine neue Chance für die Fristenregelung. Mit der SP vertrat ich die grösste Fraktion, die sich im Wahlkampf dafür ausgesprochen hatte, und reichte deshalb den Vorstoss ein. Es folgten ein neunjähriges parlamentarisches Verfahren und anschliessend ein harter Abstimmungskampf; mehrmals erhielt ich Morddrohungen. Die 90er-Jahre waren eine intensive Zeit, doch Anne-Marie Rey stand mehr im Mittelpunkt als ich. Ungeduldig wurde ich nie, denn die Zeit und die intensiven Diskussionen arbeiteten für uns.»

Die Psychologin: Eva Zimmermann (57), was beschäftigt Frauen nach einem Abbruch?

«Meine Patientinnen kommen in unterschiedlichen Momenten. Vor der Abtreibung, im jungen Alter oder Jahrzehnte nach einer Abtreibung. Unter den Frauen mit offenem Kinderwunsch gibt es immer auch solche, die einmal abgetrieben haben. Oft fragen sie sich dann, ob die Infertilität nun die Strafe sei. Dieses Denken und ein schlechtes Gewissen sind oft tief verankert. Ich helfe den Frauen, sich von ihren Schuldgefühlen zu befreien.»

Der «Marsch fürs Läbe»-Präsident: Daniel Regli (59), warum sind Sie dagegen?

«Wir finden, dass jedes Kind ein Recht auf Leben hat. Es gibt Berichte, dass sich das Kind während der Abtreibung gegen die Kanülen gewehrt hat. Da ist also ein Überlebenswille da. Natürlich gehört der Bauch der Frau, doch das Kind darin ist aus unserer Sicht eine eigene Rechtsperson und sollte geschützt werden. Verständnis habe ich für eine Frau, die nach einer Vergewaltigung die «Pille danach» nimmt. Auch wenn das Leben der Schwangeren bedroht ist, ist eine Ab­treibung für mich nachvollziehbar.» 

Die Betroffene: Rebecca Djuric (22), warum haben Sie anfangs mit Ihrer Abtreibung gehadert?

«Ich war 15 Jahre alt und lebte in einer Pflegefamilie, als ich schwanger wurde. Den Test habe ich auf der Schultoilette gemacht. Unterstützung erhielt ich keine. Die Ärztin wies mich nur nebenbei auf die Möglichkeit einer Abtreibung hin. Meine Pflegemutter warf mir vor, dass ich eine Mörderin sei, wenn ich abtreiben würde, und fragte, ob ich das verantworten könne. Meine Mutter fand, ich müsse darüber selbst entscheiden. Doch wie? Ich mochte Kinder immer, war damals aber selbst noch eins. Die Abtreibung war schlimm. Ich hatte mehrstündige Wehen; die Reste musste man auskratzen. Danach habe ich es kaum noch ausgehalten. Meine Gedanken kreisten um das Baby. Mit 16 folgten zwei Selbstmordversuche. Die Schuldgefühle, die man mir gemacht hat, und die negativen Einflüsse meines Umfelds waren zu gross. Heute weiss ich, dass ich mich richtig entschieden habe. Doch wenn einem ständig eingeredet wird, dass man etwas Schlimmes getan hat, glaubt man irgendwann selbst daran. Ich bereue meinen Entscheid nicht mehr. Frauen, die abgetrieben haben, sind keine schlechten Menschen und verdienen Unterstützung.» 

Der Partner: Dominik Steiner (32), wie war das, als Ihre damalige Partnerin abgetrieben hat?

«Ich war 26, und mir wurde irgendwann klar, dass es besser für uns ist, wenn wir das Kind nicht austragen. Mit meiner Meinung hielt ich mich jedoch zurück – ich hätte es als ­übergriffig empfunden, meiner Partnerin diese Haltung aufzudrücken. Schliesslich kam auch bei ihr die Option der Abtreibung auf den Tisch. Wir hatten das Glück, dass wir uns einig waren. Ich wäre aber so oder so hinter ihr gestanden. Eine Abtreibung verändert dich als Mann. Die Möglichkeit der Vaterschaft ist seither beim Geschlechtsverkehr viel präsenter.»

Die Seite der SVSS: Doris Cohen-Dumani (70), warum haben Sie sich damals engagiert?

«Gleichstellung war mir immer ein grosses Anliegen. 1980 hatte mich Anne-Marie Rey gefragt, ob ich mich engagieren wolle. Von 1984 bis 1987 übernahm ich gemeinsam mit ihr das Co-Präsidium der Schweizerischen Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS). Dass die Frau von einer medizinischen Kontrolle abhängig war, empfand ich als grosse Ungerechtigkeit. Sie konnte nicht über ihren eigenen Körper entscheiden.»

Der Ethiker: Torbjörn Tännsjö (70), wann beginnt ein menschliches Leben?

«Aus ethischer Sicht ist ein Fötus noch keine eigenständige Person mit Plänen und Wünschen. Aber es ist ein menschliches Leben. Viele Philosophen sind sich einig, dass das menschliche Leben bei der Empfängnis entsteht. Dass der Embryo schon eine Person ist, ist eine Haltung, die vor allem die katholische Kirche propagiert.» 

Die Frauenärztin: Theres Blöchlinger (70), wie verläuft ein Abbruch?

«Es gibt zwei Möglichkeiten für den Schwangerschaftsabbruch. Wenn er medikamentös erfolgen soll, wirkt Chemie in zwei Schritten. Über Stunden nach der Einnahme der ersten Substanz wird das Wachstum der Schwangerschaft blockiert. Mit dem zweiten in den Stoffwechsel eingebrachten Medikament wird die Muskelschicht der Gebärmutter angeregt, bis die Schwangerschaft ausgestossen ist. Beim chirurgischen Abbruch wird der Muttermund medikamentös aufgeweicht. Die örtliche Schmerzbekämpfung erlaubt dann die Erweiterung des Kanals in diesem Organteil mithilfe von sogenannten Hegarstiften. Ein mit einer Pumpe verbundenes Röhrchen saugt die Schwangerschaft zusammen mit der Hülle und Schleimhaut ab. Dieser Vorgang dauert mit der Vorbereitung etwa eine Dreiviertelstunde.» 

Der Männeraktivist: Markus Theunert (43), welche Rolle spielen die Männer?

«Der männliche Beitrag ist mehr als Zeugen und Zahlen. Männer sollten informiert und ihre Meinung angehört werden. Die Entscheidung liegt aber bei der Frau. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass sich Männer mit dem Thema auseinandersetzen – auch für ihre emotionale Nachbearbeitung. Was passiert, wenn ihnen das ungeborene Kind im Traum erscheint? Wie umgehen mit Ohnmacht, Wut, Trauer?»

Die Betroffene: Tanja Walliser (30), was hat Ihnen geholfen?

«Als ich schwanger wurde, waren mein damaliger Freund und ich noch im Studium. Er stand immer hinter mir, das war hilfreich. Lange war ich unentschlossen. Nach einem Dok-Film über Abtreibungen wusste ich, dass ich das wollte. Auch die politischen Diskussionen um das Thema waren mir sehr präsent. Mir war klar, dass ich nichts Verwerfliches mache. Frauen sollen ihrem Gefühl folgen, ohne dafür verurteilt zu werden. Neutrale Beratungsstellen sind wichtig. Egal, ob ich ohne Zweifel eine Schwangerschaft abbreche oder mich Gewissensbisse plagen, beides sollte akzeptiert werden. Inzwischen bin ich wieder schwanger, mit einem Wunschkind.»

Der Medizinhistoriker: Flurin Condrau (51), seit wann wird abgetrieben?

«Versuche, Schwangerschaften vorzeitig zu beenden, sind historisch seit der Antike nachweisbar. Zwischen der gesetzlichen Regelung und der volksmedizinischen Praxis bestand ein Graben. Die wissenschaftliche Medizin entdeckte den Frauenkörper im 19. Jahrhundert als Forschungsgegenstand. Erst die jüngere Frauenbewegung brachte endgültig Schwung in den Gesetzgebungsprozess. Der Schweizer Weg unterscheidet sich dabei nicht grundsätzlich von dem anderer europäischer Länder.» 

Der Bischof: Charles Morerod (55), sollte man nicht auch das Leben der Frau schützen? 

«Es ist nie nur eine Sache der Mutter: Beide Leben müssen geschützt werden. Manchmal ist gewiss, dass nur eine der beiden Personen gerettet werden kann, und dann muss man das tun. Wen wählt man aber, wenn man entweder die Mutter oder das Kind retten kann? 1962 hat die heilig gesprochene Italienerin Gianna Beretta Molla ihre Tochter bevorzugt. Diese ist heute noch dankbar, auch weil in diesem Fall Mutter und Tochter an das ewige Leben glauben.»

Chronologie der Ereignisse

1919 debattiert der Grossrat in Basel über eine Fristenlösung für die ersten drei Monate ohne Gutachten. Der Vorschlag wird abgelehnt.
1942 tritt das erste Bundesgesetz in Kraft, das den Schwangerschaftsabbruch verbietet und unter Strafe stellt
1971 kommt die Volksinitiative «Für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs» zustande.
1973 schliesst sich die Initiantengruppe zur Schweizerischen Vereinigung für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS) zusammen
1976 wird die Initiative «Für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs» zugunsten der Initiative «Für die Fristenlösung» zurückgezogen
1977 wird die Fristenlösungsinitiative mit 51,7 Prozent abgelehnt
1980 wird die Initiative «Recht auf Leben» eingereicht
1985 lehnen Volk und Stände die Initiative mit 69 Prozent ab
1993 reicht SP-Nationalrätin Barbara Haering eine parlamentarische Initiative ein, die verlangt, dass der Schwangerschaftsabbruch während der ersten Monate der Schwangerschaft nicht strafbar ist
1998 lancierten Abtreibungsgegner die Initiative «für Mutter und Kind», die den Schwangerschaftsabbruch verbieten will
2001 wird die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) gegründet, die sich bis heute für die Unterstützung der Mütter einsetzt. Im März heisst die Bundesversammlung die Fristenregelung gut, doch im Juli reichen Vertreter der CVP mithilfe von Abtreibungsgegnern das Referendum ein
2002 wird die Fristenregelung mit 72,2 Prozent angenommen; die Verbots-Initiative mit 81,8 Prozent abgelehnt
2010 lanciert der Verein Mamma zusammen mit einer Gruppe Parlamentariern die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache», die die Kosten aus der Grundversorgung streichen will
2014 wird diese Initiative mit 69,8 Prozent abgelehnt

Quellen: Broschüre «Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz» (SGRA, 1995) und svss-upda.ch

Mehr zum Thema

Mein Körper – Meine Entscheidung: Im Gespräch erzählt Juso-Präsidentin Tamara Funiciello (26) von ihrem Einsatz für die Kostenübernahme durch Krankenkassen bei Abtreibungen und erklärt, warum die Fristenregelung noch heute verteidigt werden muss.

Der Alltag in der Praxis: Theres Blöchlinger (70) vom Frauenambulatorium Zürich über ihre Arbeit, Abtreibungen und die Wichtigkeit der Fristenregelung.

(Publiziert am 3. Januar 2016 im Migros-Magazin / Bilder: Vera Hartmann und zVg / Audiovisuelles: Anne-Sophie Keller)

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Eine nachträgliche Plattenkritik aus lauter Nostalgie

Die Welt ist grau, diese Musik ist es nicht: Regina Spektor war 32 Jahre alt, als sie «What We Saw from the Cheap Seats» veröffentlichte. Das war 2012.

Was bringt ein Review fünf Jahre danach? Jede Menge. Denn: In Tagen wie diesen, in denen nicht nur das meteorologische, sondern auch das politische und gesellschaftliche Klima jegliche Wärme verloren haben, wirkt die Platte wie Antidepressiva. Eine Packungsbeilage dazu:

«Wie kann ich ohne dich leben», singt die Russin mit ihrer mädchenhaften Stimme im ersten Lied. Es folgen elf Stücke, die einen in eine andere Welt entführen. Spektors Folk ist mal verträumt, mal poppig, mal lieblich, mal schrullig. Es klingt, als wäre die Serie «New Girl» vertont worden. Zooey Deschanel hätte ihre helle Freude daran.

Und es klingt wie ein Zirkusbesuch: «Firewood» beginnt als zuckersüsses Schlafliedchen und endet in Funken. «Patron Saint» erinnert an 20er-Swing, an Flappergirls, Champagnerbecken, kurze Nächte, an Fitzgeralds grossen Gatsby. Stellenweise hört man Emiliana Torrinis «Jungle Drum» – etwa wenn Spektor am Ende von «Oh Marcello» Trommelgeräusche ins Mikrofon gurrt. 

Regina Spektor nimmt sich selbst nicht ernst, aber sie nimmt ihre Zuhörer ernst. Sie lässt nicht zu, dass sie es sich allzu bequem machen, und fordert sie mit abwechslungsreichen Nummern heraus. Den roten Faden muss man in diesem bunten Mischmasch selber suchen. Spektor garantiert auf ihrer Achterbahnfahrt für nichts und singt sich plan- und furchtlos durch 37 Albumminuten. Die Risiken und Nebenwirkungen: So leicht kommt man danach nicht mehr in den Alltag zurück.

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Frauen helfen Frauen

Kriege, Flüchtlingskrise, Wasserknappheit: Hilfe wird zurzeit auf der ganzen Welt benötigt. Doch wer geht dafür schon zu den Krisenorten? Zum Beispiel die Zürcherin Raquel Herzog vom Schweizer Hilfswerk «SAO Association». 

Europa, diese Tage: Menschen auf der Flucht schlafen in Eiseskälte unter freiem Himmel oder in Zeltlagern, sind unterernährt, haben keine Rechte und nur selten medizinische Versorgung. Frauen sind dabei besonders gefährdet: Sie sind schlechter ausgebildet, körperlich verletzlich, teilweise schwanger und müssen in desolaten Zuständen ihre Monatshygiene verrichten. Die Zürcher Eventmanagerin Raquel Herzog (53) hat diese Probleme erkannt und im Februar 2016 das Hilfswerk «SAO Association, Frauen für Frauen auf der Flucht» mitgegründet.

«Die nachhaltige Hilfe kommt bei Frauen an. Sie schauen auch für ihre Kinder. Männer sind weniger verletzlich, können sich einfacher alleine durchschlagen und müssen in der Regel auch weniger sprachliche Hindernisse meistern», erklärt Raquel Herzog. Seit Dezember 2015 ist sie vor allem auf der griechischen Insel Lesbos im Einsatz. Dort betreibt SAO das Lagerhaus Attika, in dem Warenspenden aus der ganzen Welt sortiert und an Flüchtlinge sowie andere NGOs weitergegeben werden. Raquel Herzog: «Im Lager arbeiten viele junge Männer, die im Flüchtlingslager Moria wohnen. Diese Aufgabe gibt ihnen eine gewisse Tagesstruktur, denn die Lethargie ist lähmend.»

Hintergrund ist eine im März beschlossene Absichtserklärung der EU und der Türkei. Alle, die nach diesem Entscheid in Moria ankamen, wurden kriminalisiert, das Registrierungshauptcamp wurde zum Internierungslager. «Neuankömmlinge werden zunächst 25 Tage lang eingesperrt. Das Lager hat eine Maximalkapazität von 1200 Personen, momentan leben jedoch fast 5000 dort», berichtet Raquel Herzog. Das bedeute unter anderem, dass aktuell rund 800 Kinder unter zehn Jahren quasi in Haft leben.

Neben dem Lagerhaus Attika soll in Griechenland nun auch ein Zentrum für Mütterberatung entstehen. Mit dem Fonds «Back on track» möchte SAO weiblichen Geflüchteten im Ankunftsland das Fortsetzen des Studiums ermöglichen. Raquel Herzog: «Für uns haben die Menschenrechte die höchste Priorität. Unabhängig davon, ob jemand ein Kriegsflüchtling ist oder andere Beweggründe hat. Jeder hat das Recht auf Obdach, Essen und Schutz.»

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Königinnen der Nacht

 

Tagsüber sind sie Kunststudent und Kindergärtner. Bei Anbruch der Dunkelheit verwandeln sich Effi Meister und Leon Schneider in Drag Queens. Eine Nacht in ihrer Welt aus Kunst und Glitzer – und ein Blick hinter die Kulissen aus Selbstverwirklichung und Provokation.

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Badischer Bahnhof, Samstagnachmittag. Kinder starren mit grossen Augen und verstecken sich hinter ihren Müttern. Eine Gruppe älterer Herren mit Hosenträgern fragt in Basler Dialekt, ob schon wieder Fasnacht sei; der Unterton hat etwas Pöbelndes. Kein einziger Kopf, der sich nicht nach Effi Meister und Leon Schneider umdreht. Die 26-jährigen Basler sind sogenannte Drag Queens, sie haben sich als weibliche Figuren verkleidet. Meister hat sich falsche Dreadlocks auf den Kopf gebunden. Unter seinem schwarzen Kimono blitzt eine Corsage hervor. Den Büstenhalter hat er sich mit orangen Robidog-Säckchen ausgestopft, die er später auf der Bühne des Theater Neumarkt in Zürich unter tosendem Applaus herauszupfen wird. Dort wird heute Abend die «Miss Heaven», die Königin der Drag Queens, gekürt. Meister und Schneider werden als Showact auftreten.

Schneider hat sich für Jessie, eine Comicfigur aus der Pokémon-Serie, entschieden: falsche Brüste aus Plastik, ein praller Hintern aus Schaumstoff, enge Strumpfhosen und Stiefel mit zentimeterhohen Absätzen. Doch Drag ist mehr als Verkleiden, mehr als Fasnacht. Drag schmerzt. Drag braucht Hingabe. Das wird spätestens dann klar, wenn man Schneiders geschwollene Füsse am Ende des Abends anschaut. Warum tut sich einer so etwas an? «Drag ist für mich ein Ventil». Als offen schwuler Mann erlebt er im Alltag oft Anfeindungen, wird als «Schwuchtel» und «Tunte» beschimpft oder angespuckt. «All den Dreck, den ich fressen muss, sauge ich auf wie ein Schwamm. Auf der Bühne wird dieser ausgewrungen.»

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Bis dahin dauert es noch ein paar Stunden. In Schneiders WG in Basel bereiten sich die Drag Queens zunächst auf ihre grosse Nacht vor. «Aufdragen» nennen sie den Prozess der Verwandlung. Meister ist verspätet, weil er sich noch «eine neue Pussy» kaufen musste. Als er die Räume betritt, präsentiert er grinsend eine Plüschkatze. Er werde sie während seiner Show zu den Zeilen «I worked my pussy off» aus der Hose ziehen. Effi ist eine androgyne Person. Die Seiten am Kopf hat er sich wegrasiert, übrig blieb ein Schopf aus dunkelblondem Haar. Auf seinem Gesicht sind meist Farbkleckser oder Spuren von Glitzer zu sehen – ein Vergissmeinnicht der letzten Kunstaktion. Auch Leon Schneider sticht heraus: Die Haare des Kindergärtners sind platinblond gebleicht, sein Teint hat die Farbe von Porzellan, die Beine stecken in getigerten Skinny-Jeans.

Für die nächsten Stunden versinkt das Badezimmer der Wohngemeinschaft in ein Chaos aus Pinseln, Schminkpaletten und Haarteilen. Am Spiegel prangt ein Kleber mit der Aufschrift «Steh zu dir!». Schneider presst seine Augenbrauen mit Spezialleim an die Stirn. «Man muss das alte Gesicht erst wegschminken, bevor man ein neues malt», erklärt er. Es wird still. «Die Verwandlung hat etwas Meditatives, man ist mit sich selbst konfrontiert», sagt Meister. Anecken wolle er nicht immer. Manchmal sei Drag für ihn wie ein Superheldenkostüm: «Ich hinterlasse einen bleibenden Eindruck, kriege Aufmerksamkeit. Und ich kann etwas Distanz zu meinem privaten Ich haben.»

Um 17 Uhr hocken die beiden im Zug. Man erkennt sie in ihren Outfits nicht wieder. Meister schenkt drei beeindruckten Schulkindern ein Lächeln, das erwidert wird: «In ihren Augen bin ich ein Monsterchen oder Gespenst. Aber nicht etwas, das man nicht sein darf», sagt er. Erwachsene reagieren anders: meist schockiert, gar angewidert, teilweise fasziniert. Eine Stunde später rollt der Zug in Zürich ein. In der Bahnhofshalle findet die «Züri Wiesn» statt; die Besucher grölen ihre Schlager so laut, dass man sie bis zu den Geleisen hört. Die Drag Queens stolzieren durch die Menge. «Ich glaube, ich bin im falschen Film!», sagt ausgerechnet eine angeheiterte Oktoberfestlerin, die mitten im Bahnhof dirndlbekleidet neben einem Wiesn-Zelt steht. «Ui, diese Farben!», sagt eine ratlose junge Frau in Schwarz. Es braucht wenig, um in der Schweiz zu schockieren. «Als schwuler Mann wirst du vielleicht toleriert, also geduldet. Aber nicht akzeptiert. Drag deckt das auf», erklärt Schneider. «Du hältst diesen Menschen den Spiegel vor. Wenn sie dich scheisse finden, sagen sie dir das auch. Und wenn sie offen sind, merkst du ihr Interesse.»

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Drag als politisches Statement? Als Provokation gar? Nicht nur. Bei Schneider hat man das Gefühl, es sei auch eine Art Selbstfindung. Er wuchs auf dem Land auf. Sein Vater versteht die Drag-Welt nicht: «Als ich klein war, fand er mein Schauspielern noch herzig. Jetzt, da ich erwachsen bin und es mir ernst ist, hat er viele Vorurteile», sagt Schneider. Sein Alter Ego, Klaudia Alles, erblickte vor zwei Jahren am «Tuntenball» in der Basler Bar Hirscheneck das Licht der Drag-Welt. «Ich hatte nie das Bedürfnis, mich als Frau zu verkleiden. Das erste Mal war unglaublich. Ich war wie verzaubert.» Seither schlüpft er regelmässig in Klaudias Rolle. Eines seiner Vorbilder ist Divine, die amerikanische «Queen of Filth», die in einem Film Hundekot verspeist. «Die schönen, netten, politischen korrekten Drags interessieren mich nicht. Ich mag die verwirrten, bösen.» Drum sei auch Klaudia dumm, frech – und ein richtiges Wrack.

Für Effi Meister ist Drag keine Verwandlung, sondern eine weitere Seite von ihm. Er ist der Spross einer jüdischen Grossfamilie. In Basel absolvierte er den Bachelor of Fine Arts. Als Kind spielte er mit Barbies, verkleidete sich, zeichnete Figuren. «Die Leute sollen nicht wissen, ob ich Mann, Frau oder Trans bin. Ich lade sie gerne in diese Grauzone ein», sagt er. Die Looks des Kunststudenten bedienen nicht das gängige Klischee der glamourösen Drag Queen. Um Sexyness oder Schönheit geht es ihm nicht. Er wirkt eher wie ein Fabelwesen. «Mein Körper ist eine Leinwand. Wenn ich mich für Shows vorbereite, lote ich die Grenzen von dem, was ich sein kann, aus.» Er bezeichnet sich als genderfluid – also als etwas zwischen den Geschlechtern. In Zeiten, in denen man auf Facebook zwischen über 50 Geschlechtsidentitäten auswählen kann, überrascht diese Aussage wenig. Einige seiner Freunde sprechen ihn mit weiblichen Pronomen an. «Wenn ich auf ihn sauer bin, kriegt er männliche Pronomen», sagt Schneider.

Man fragt sich, ob Meisters Botschaften seinem Publikum nicht etwas viel abverlangen. In einem Land, in dem das Sternchen der SP Frauen* bereits als hysterischer Akt übertriebener politischer Korrektheit angesehen wird? Einem Land, das sich mit Menschen jenseits von Heteronormativität immer noch schwer tut? In dem sich der SRF-Ombudsmann etwas hilflos mit der Frage auseinandersetzt, ob Viktor Giacobbo in seiner Sendung noch von «Transen» reden darf? Keine Ahnung. In Schneider und Meisters Umfeld ist die Toleranz hingegen gross. Getragen werden sie von aufgeschlossenen Arbeitgebern, offenen Mitstudenten, einem bunten Freundeskreis und ihren Partnern.

Im Theater Neumarkt angekommen, ist es Zeit für die Hauptprobe. Vicky Goldfinger, die amtierende Miss Heaven, peitscht ihre Nachfolgerinnen durch die Routine. Schneider und Meister, hier schon beinahe alte Hasen, sind nicht nervös. Ihre Nummern sitzen. Wenig später füllen sich die 160 ausverkauften Plätze. Im Vorraum werden Cüpli und Gin Tonics gebechert; Backstage erschweren ein Nebel aus Haarspray und ein Aschenbecher voller lippenstiftverschmierter Zigarettenstummel das Atmen.

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Showtime. Als die Berliner Drag Queen Melli Magic den Abend eröffnet, wird sie mit frenetischem Applaus begrüsst. «Ich liebe euch, meine Hübschen!», ruft sie theatralisch. Mit den Kandidatinnen geht sie unzimperlich um: «Kriegst du für das Beantworten meiner Frage drei Hirnzellen hin?» fragt sie. Als ein Gast zu geschwätzig ist, unterbricht sie ihn mit den Worten «Wenn du weiterredest, mach ichs mit deiner Schwester – oder wer auch immer die Bitch neben dir ist». Tosender Applaus. Während den Darbietungen fliegen Pelzmäntel, Konfettischnipsel, Rosen und Haarteile herum. «Hätte ich nicht so viel Botox gespritzt, würde man jetzt mein Strahlen sehen», so die Moderatorin. Viel Raum für Ernsthaftigkeit bleibt an diesem Abend nicht, doch man findet sie zwischen den Zeilen. Bei einer Kandidatin, die zu den Zeilen «I won’t give up, I’m free to be the greatest, I’m alive» tanzt. Der Song der australischen Sängerin Sia ist eine Hymne an die Opfer des Orlando-Massakers. Dort starben diesen Juni 49 Menschen bei einer Schiesserei in einem Schwulenclub. Man findet die Ernsthaftigkeit auch dann, wenn Melli Magic die Drag Queens als Botschafterinnen der Stonewall-Aufstände anpreist. Das Stonewall Inn war ein New Yorker Schwulenbar. Im Lokal an der Christopher Street entflammten in den 60ern regelmässig Konflikte mit Polizeibeamten. Es war die Geburtsstunde des Christopher Street Day, der heutigen Gay Pride.

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Als Meister und Schneider auf der Bühne stehen, dröhnen die Hymnen von Drag-Ikone Alaska Thunderfuck und Popwunder Lady Gaga durch den Raum. Meister singt die Zeilen «Haters gonna hate» als Playback; Schneider reisst die Augen auf, singt «I live for the applause, live for the way that you cheer and scream for me» und kriegt genau das. Nach bloss 90 Sekunden sind ihre Auftritte vorbei. Kurz nach 23 Uhr wird die Baslerin Odette Hella’Grand zur neuen Miss Heaven gekürt. Das Publikum, das während dreier Stunden ein Teil der Drag-Szene war, applaudiert und verteilt sich wieder in der Nacht. Die Begegnungen im Foyer, wo Fans ihre Königinnen anhimmeln, sind von kurzer Dauer.

Bei Sonnenaufgang ist der Zauber vorbei und das Make-up verschmiert. Im Zug nach Hause setzen sich die Drag Queens wieder dem Starren von Passanten aus. «Was diese Begegnung mit denen macht, können wir nicht beeinflussen. Im besten Fall bewegt sie sie zu etwas Selbstreflexion», so Meister. Und weiter: «Dass wir polarisieren, lässt sich nicht vermeiden und ist immer noch besser, als in Gleichgültigkeit zu versinken.» Die Blicke sind nicht immer angenehm. Auf der anderen Seite, so Schneider, rechtfertigen sie Drag als Kunstform: «Drag zeigt Missstände auf. Wenn es diese nicht mehr gibt, gibt es auch Drag nicht mehr.» Gäbe es eine absolut tolerante Gesellschaft, könnte man nicht mehr anecken.

20 Stunden waren Leon Schneider und Effi Meister unterwegs. Für 90 Sekunden auf der Bühne und die Botschaft, dass jenseits von Mann und Frau eine ganze Welt liegt: Ein Kosmos irgendwo zwischen Selbstfindung und Provokation, Chaos und Glitzer.

(Erstmals publiziert in DIE ZEIT, September 2016. Bilder: Christian Bobst)

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Der Geschmack einer Kindheit

Eine Geschichte über Mina, Nostalgie und mein Festessen.

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Die Zutaten meiner Kindheit: Brot, Eier, Milch, Butter, Zimtzucker. Arme Ritter, nennt man das Gericht in Deutschland, Pain Perdu in Frankreich, Fotzelschnitten in der Küche meiner Grossmutter Mina.

Seit meiner Geburt bin ich unsterblich in diese alte Frau verliebt. Sie hat ein schmales Gesicht, eine winzige Nase, rosarote Lippen. Ihre grauen Augen schliesst sie, wenn sie etwas erzählt. Ihre Haut hat die Farbe von Porzellan; ihr Haar ist Watte. Sie riecht nach Lavendel. Wenn sie ihr altrosa Twinset oder die Bluse mit den Pünktchen trägt, sieht sie aristokratisch aus. Meine Eitelkeit habe ich von ihr geerbt. Meinen Perfektionismus, meine Kompliziertheit und meinen Stolz auch.

Als ich noch zur Schule ging, hat sie oft für mich und meine Schwester gekocht. Wie im Restaurant: mit weissen Servietten und einer ungeheuerlichen Pünktlichkeit. Anne-Sophie Catherine und Valerie Ruth speisten wie Prinzessinnen.

Manchmal ganz besonders. Dann, wenn drei Teller neben der Bratpfanne standen. Im ersten: acht dicke Scheiben Brot. Im zweiten: zwei Deziliter Milch. Im dritten: drei verquirlte Eier. Meine Grossmutter nahm das Brot mit ihren kräftigen Händen, tunkte es in der Milch, badete es in den Eiern und legte es in die Butter, die bereits in der Bratpfanne brutzelte. Sobald die Scheiben golden waren, legte Grosi sie auf eine weisse Platte und berieselte das duftende Türmchen mit Zimtzucker.

Ich habe zuhause in Zürich kein einziges Mal selber Fotzelschnitten gemacht. Brot, Eier, Milch, Butter und Zimtzucker. So wenig braucht es. Aber die wesentlichen Zutaten fehlen: Meine Grossmutter, ihre Schürze, ihr Duft, ihre Liebe, meine Kindheit.

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Heimat

Was ist Heimat? Ein Essay über einen umstrittenen Begriff.

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Heimat ist ein strapazierter Begriff in Zeiten von aggressivem SVP-Wahlkampf und hingenommener Flüchtlingskrise. Heimat in der Schweiz, das sind saubere Strassen, Berge wie aus dem Bilderbuch, klare Seen und funktionierende, politische Strukturen. Heimat, das sind Tell und Heidi.

Heimat, das ist Nationalstolz. Auf ein 20. Jahrhundert ohne Krieg. Auf die Réduits und die beste Armee der Welt. Auf Frankenstärke, Wirtschaftswachstum und tiefe Arbeitslosenquote. Auf Jodelgesang, Sackmesser, Edelweisshemden. Auf das CERN, die ETH, die SBB.

Heimat ist mein schlechtes Gewissen. Weil ich eine dieser Gewinnerinnen bin. Weil ich bis auf das fehlende Y-Chromosom jeden Lottosechser gezogen habe, der ein Mensch auf dieser Welt nur ziehen kann. Als weisses Mädchen in der Schweiz. Gebildet, mit Lehrereltern, heterosexuell, gesund, krankenversichert und emanzipiert. Und der Erkenntnis, nichts davon verdient zu haben.

Heimat ist meine Melancholie. Eine Kindheit im Berner Oberland. Ein Quartier voller Kinder, Katzen, Kreidemalereien und Kirschbäumen. Ein Universum, das bis zum Ende der Strasse ging, weil weiter schon eine Welt anfing, die noch heute eigentlich zu gross ist. Riesige Sandkästen. Kaulquappen in Gonfigläsern. Mutproben auf gefrorenen Weihern. Margritli-Kränze und grüne Grasflecken. Weisse Weihnachten. Weite Horizonte.

Heimat ist mein Heimweh. Unterwegs sein und sich fehl am Platz fühlen. Sich furchtlos der Fremde und den Fremden hingeben und in alldem Geborgenheit suchen. Auf Reisen Leitungswasser trinken, das nach Chlor schmeckt. Von der Kraft des Meeres überwältigt werden und sich nach der Aare sehnen, die nach Steinen riecht. Ein Anruf der Mutter. Wie gehts dir, Tochter?

Es geht mir gut. Weil das meine Heimat ist.

Heimat ist: der Niesen

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Warum eure offene Beziehung scheitern wird

Beziehungsunfähig, egozentrisch und verwöhnt: Ihre Eigenart macht das Liebesleben der Generation-Y nicht einfacher. Das Modell «offene Beziehung» wird auch nicht funktionieren. Ein Kommentar. 

Über keine Kohorte wurde so viel geschrieben wie über die Generation-Y. Den Menschen, welche zwischen 1980 bis 1999 geboren wurden, eilt ein zweifelhafter Ruf voraus. Egozentrisch sollen die Millenials – so wird die Generation auch genannt – sein. Verwöhnt, opportunistisch, übersensibel, stetig verunsichert und unfähig, Verantwortung zu übernehmen.

Sie tingeln von einem Praktikum zum nächsten, gehen in Asien auf Selbstfindungssuche, nabeln sich mehr schlecht als Recht von den Eltern ab und sind ob der schieren Vielfalt an Möglichkeiten ständig verunsichert. Eine Generation, der die Welt offensteht, diese seit 9/11 und dem Stakkato aus Krieg, Krisen und Terror aber nur noch als einzige Gefahr sieht.

Die «anything goes»-Haltung spiegelt sich auch in den Partnerschaften wieder; das Modell «offene Beziehung» boomt. «Ich möchte mich nicht festlegen», «ich habe genug Liebe für mehrere Personen», «Monogamie ist veraltet», heisst es da. Das mag schön und gut sein. Es klingt, als würde das Freigeistige der 70er-Jahre wieder aufkeimen.

Doch dem ist nicht so. Diverse Studien zeigen, dass die Generation-Y so spiessig ist, wie noch nie. Angesichts der zu vielen Möglichkeiten sehnt sie sich nach Heirat, Einfamilienhaus, Kindersegen und festen Strukturen. Von der Hippiebewegung anno dazumal ist sie ideologisch meilenweit entfernt.

Die Flucht in die offene Beziehung ist bei genauerer Betrachtung nicht mehr und nicht weniger als der Egoismus und die Feigheit, sich auf eine andere Person einzulassen. Es erstaunt insofern auch nicht, dass die meisten dieser polygamen Konstrukte früher oder später in Tränen, gebrochenen Herzen und enttäuschten Erwartungen enden. 

Doch was nun? Wie räumen die Millenials ihren emotionalen Scherbenhaufen wieder auf? Mit der Erkenntnis, dass «anything goes» ein Mythos war, dass man im Leben nicht alles haben kann und dass ein bisschen Verbindlichkeit nötig ist. Weil der Hauptgewinn noch nie mit dem Mindesteinsatz kam.

 

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Die Rückkehr der Knutschkugel

Am diesjährigen Genfer Auto-Salon sorgte das kleine Elektroauto Microlino für Aufsehen. Sein Aussehen weckt Erinnerungen an die Isetta. Dahinter steckt Wim Ouboter mit seinem Familienbetrieb Micro, der auch das Kickboard erfunden hat.

Der Microlino war ursprünglich nur als Projekt mit zehn Studenten der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gedacht. Nach der Abschlusspräsentation schickte Wim Ouboter (56) den Studenten Pascal Studerus und seinen Sohn Merlin nach China, um einen Proto­typen zu bauen. Drei Monate später war das Elektrofahrzeug bereit für den Versand per Luftfracht in die Schweiz. Doch dann das: Am Zürcher Flughafen fiel das Gefährt seitwärts vom Gabelstapler zweieinhalb Meter in die Tiefe. Totalschaden. 

«Da mussten wir erst mal tief durchatmen», erzählt Ouboter. «Wir waren am Boden zerstört.» Schliesslich sollte der 400 Kilogramm leichte Microlino vier Wochen später an der Nürnberger Spielwarenmesse präsentiert werden. «Wir haben es dann einfach in der Messehalle mit der kaputten Seite an die Wand gestellt», sagt der Küsnachter Erfinder und lacht.

Produktion erst Ende 2017

Dass seine Firma Micro ein unkonventionelles Auto baut, machte schnell die Runde. Das Design ist das der BMW-Isetta von 1955, die den Spitznamen Knutschkugel hatte. Schliesslich räumte André Hefti, Generaldirektor des Auto-Salons Genf, kurz vor der Ausstellung noch Platz für den Microlino frei. Bei einem Stand zum Thema E-Mobility kam der Elektroflitzer auf ein kleines Podest. Ohne Glamour und Hostessen. Die Präsentation überraschte – und überzeugte. Vom US-Sender Fox News über den britischen «Guardian» bis hin zum «Playboy» berichteten zahlreiche Medien über den Microlino. 

Mehr «aus Gwunder» schaltete Ouboter eine Reservationsliste auf. Mittlerweile sind bereits 1140 Bestellungen eingegangen. «Wir hatten nicht einmal einen Businessplan», sagt der Tüftler. Mit den Lieferungen dauert es denn auch noch: Erst Ende 2017 geht der Microlino in Italien in Produktion. Preis pro Auto: zwischen 12 000 und 14 000 Franken. 

Ein Unruhestifter macht Karriere

Dass Ouboter keine Standardkarriere einschlagen würde, zeichnete sich früh ab. Als Kind hatte er mit Legasthenie zu kämpfen; doch er hatte auch die Sympathien der Kameraden auf seiner Seite. So wurde der Unruhestifter sogar Klassenchef, was wiederum vielen Lehrern nicht passte. 

«Ich hatte schon immer ein Faible für Abenteuer», erzählt Ouboter. «Mit 14 habe ich mit Freunden ein Töffli im Wald gefunden, ein Nummernschild gebastelt und dann die Strassen unsicher gemacht.» Die Teenager wurden erwischt und zur Strafarbeit in einer Gärtnerei verdonnert. 

Schnell war klar: Mit den Superschülern konnte Ouboter nicht konkurrieren. Im Berufsleben wollte er später einmal «etwas ganz anderes» machen – und «bloss kein Anzugsmensch werden». Nach dem KV bei einer Bank ging er ins Ausland, um Englisch zu lernen. Zurück an den Schalter kehrte er nie. Seine Frau Janine (54) hat er mit 28 kennengelernt. «Wir sind uns dreimal über den Weg gelaufen. Beim dritten Mal habe ich sie zu mir ins Zürcher Seefeld zum Kochen eingeladen.» Vier Tage später zog sie ein.

Für Wim Ouboters Erfolg ist sie mitverantwortlich: Als er sein erstes Projekt, das Kickboard, seinen «studierten Freunden» gezeigt und seine Vision von urbaner Mobilität erklärt hatte, stiess er auf wenig Verständnis. Wer um Himmels willen sollte so was fahren? Das Trottinett landete in der Garage. Wenig später standen 15 Kinder vor der Tür und wollten es ausprobieren. «Janine erkannte das Potenzial des Kickboards und drängte mich dazu, meine Vision weiterzuverfolgen.» Micro, die Küsnachter Herstellerfirma des Boards und des Microlinos, ist ein Familienunternehmen: Janine Ouboter macht die Buchhaltung, die Söhne Oliver (22) und Merlin (20) arbeiten im Betrieb. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen rund 60 Leute in der Schweiz und in China. Zum Tanken muss der Microlino an die Steckdose. Eine volle Ladung kostet rund 1.20 Franken und reicht für etwa 80 Kilometer. Die Höchst­geschwindigkeit liegt bei 100 km/h – autobahntauglich ist die Knutschkugel also nicht. Dafür lässt sie laut Ouboter besonders Frauenherzen höherschlagen. Selbst fährt der Entwickler übrigens ein Elektroauto der Marke Fisker.

(Publiziert am 22. August 2016 im Migros-Magazin)

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