Adolf Ogi im Interview

Adolf Ogi gilt als «Vater der Neuen Eisenbahn-Aplentransversale». Zur Eröffnung des Gotthardbasistunnels erinnert sich der Kandersteger alt Bundesrat an den harten Kampf um das Tunnelnetz, aber auch an lustige Begebenheiten wie seine legendäre Tannenbäumli-Rede. 

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Adolf Ogi, wir sitzen im Büro Ogi. Was passiert hier?
Ich erhalte jeden Tag grosse Mengen an Korrespondenz: Anfragen, Wünsche, Ratschläge, Einladungen. Jemand muss das alles bewältigen, dafür habe ich eine Sekretärin eingestellt. Ich hatte völlig unterschätzt, was nach meiner Zeit als Bundesrat an Zuschriften eintreffen würde. Zum Beispiel von Schülern oder Studenten. Dann unterstütze ich diverse Stiftungen, vor allem im Interesse der Jugend.

Was wollen die Leute von Ihnen?
Oft arbeiten sie an einer Diplom- oder Abschlussarbeit. Meistens melden sie sich bei mir, wenn es mit der Neat oder mit Politik zu tun hat. Einige wollen wissen, wie ich als Kandersteger mit einem Primarschulabschluss Bundesrat werden konnte. Der Weg von Kandersteg nach Bern und New York zur Uno und wieder zurück nach Kandersteg – das interessiert offenbar. Auch Sport und die Uno sind sehr beliebte Themen.

Ein zentrales Thema in Ihrem Leben sind Tunnel. Der Gotthard-Basistunnel als Herzstück der Neat wird bald eröffnet.
Schon in den 1950er-Jahren hat Bundesrat Willy Spühler bereits erste Abklärungen für den Tunnel gemacht und die Kommission «Eisenbahntunnel durch die Alpen» eingesetzt. Sie sollte fünf Varianten von neuen Bahnlinien durch die Alpen prüfen. Als Bundesrat Roger Bonvin vor über 40 Jahren Verkehrsminister wurde, studierte er die Empfehlungen der Kommission und fand: Die Schweiz solle ein Transitland sein und dazu bräuchten wir eine integrierte Politik Schienen/Strasse. Dazu gehörte auch der Ausbau der Lötschberg-Bergstrecke auf Doppelspur und der Bau der Gotthardbasislinie. Er beauftragte die SBB mit der Planung. Bundesrat Willi Ritschard setzte eine Kontaktgruppe Gotthard/Splügen ein. Die Vernehmlassung führte zu einer Pattsituation. Es sollte noch ein langer Weg bis zum heutigen Tunnel werden. Vor 30 Jahren kam Bundesrat Leon Schlumpf und sagte, man müsse das Ganze in einen gesamteuropäischen Kontext setzen. Da gab es schon Transitprojekte wie «Lyon–Turin durch den Fréjus» oder «Salzburg–Innsbruck–Brenner–Italien». Schlumpf fand daher, es brauche bei uns nicht dringlich einen Ausbau. Da war vor allem Finanzminister Otto Stich glücklich, der auf seine Kasse achtete.

Dann kam der Ogi. Und erklärte die Verkehrspolitik zur Chefsache.
Genau. Ich spürte, dass ein Zeitfenster offen war. 1988 kam ich ins Amt. 1980 war der Gotthard-Strassentunnel eröffnet worden. Er war zu einem Magneten für den euro­päischen Lastwagenverkehr geworden, und die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) machte viel Druck. Sie wollte eine neue Autobahn bei uns oder einen Ausbau der bestehenden auf sechs bis acht Spuren. Zudem forderten ausländische Fuhrhalter und die EG, dass wir nebst dem Ausbau der Autobahn 40 Tonnen schwere Lastwagen zuliessen und nicht nur die 28-Tonner wie bisher. Wir mussten etwas tun.

Sie haben sich für die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) starkgemacht.
Von 1988 bis 1993 war ich 37 Mal im Ausland bei meinen Verkehrsministerkollegen, um zu sagen: Wir bauen keine Autobahn, wir bauen die Neat. Aber ich redete an eine Wand, berührte die Herzen nicht. Also: Wechsel zur Strategie «Chum und lueg». Ich lud die Verantwortlichen in die Schweiz ein, nach Birrfeld, wo wir den Verlad eines Lastwagens oder Containers auf die Schiene demonstrierten. Anschliessend flogen wir die Gäste mit dem Helikopter nach Wassen, direkt vor die kleine Kirche. Ich sagte: Hier ist die Autobahn, hier die Eisenbahn, hier die Kantonsstrasse, hier die Reuss. Und da ist der Lärm! Es hat keinen Platz für eine zweite Autobahn. Wenn es jemand nicht begriffen hat, hab ich ihn in der Kirche vor dem Kreuz nochmals bearbeitet.

Wer war am zähsten?
Der belgische Politiker Jean-Luc Dehaene sagte: «Tu pourrais mais tu ne veux pas.» Ich sagte: «Jean-Luc, on va prendre le Zvieri à Kandersteg.» Dann flog ich mit ihm im Helikopter nach Kandersteg und vorher zur dunklen, schwarzen Eigernordwand. Dem Piloten sagte ich vorher, er soll ganz nah an die Felswand ran und etwas wackeln. Dann lockerte ich Dehaenes Gurt heimlich. Er fragte, was los sei, er hatte Angst. Ich antwortete: Hier können wir wirklich keine Autobahn bauen. Das war nicht diplomatisch und auch nicht akademisch, aber wirkungsvoll. Von da an war er der beste Vertreter unserer Verkehrspolitik. Dieses Umdenken in Europa brauchte es.

Würden Sie sich das nochmals antun?
Wenn ich gewusst hätte, was da alles auf einen zukommt, und wenn ich alle Details schon damals gekannt hätte, weiss ich nicht, ob ich die Neat nochmals beantragen würde. Die verschiedenen Gesteinsschichten am Gotthard machten Probleme, das Tavetschermassiv, die weiche Piora-Mulde. Es gab Geologen, die sagten, dass der Durchschlag nicht möglich sei. Ich hatte viele schlaflose Nächte und vier Mal Nierensteine.

Aber Sie haben die Neat durchgesetzt.
Ich wollte noch mehr: Bahn und Bus 2000 beenden. Dann das Gleis für den Huckepackkorridor im Lötschberg absenken, damit vier Meter hohe LKWs hindurchkamen. Ich wollte die S-Bahnen fördern und das Nationalstrassennetz fertig bauen. Da bin ich gescheitert, unter anderem im Säuliamt. Es gab viele Einsprachen und ­Beschwerden, allein Tausende für die 48 Kilometer lange Strecke zwischen Mattstetten und Rothrist für die Bahn 2000. Aber ich sagte auch: Ich will den Gotthard und den Lötschberg, gleichzeitig. Klar hatte ich Zweifel, ich musste mich oft selber motivieren. Doch ich wollte dieses Ziel erreichen. Wir hatten lang genug nachgedacht, seit 1950, und der Verkehr nahm zu. Es musste mal jemand sagen: Ja, wir machens. Politisch könnte man es heute wohl nicht mehr durchsetzen, den Gotthard und den Lötschberg gleichzeitig zu bauen.

In wenigen Tagen wird der Gotthardbasistunnel eröffnet. Sind Sie stolz?
Ach, stolz! Das ist doch nicht das richtige Wort. Es ist eine ungeheure Leistung des Schweizervolks. Es musste dieses 23 Milliarden Franken schwere Projekt absegnen. Mit 63 Prozent hat es Ja gesagt. Das war ein grosser Erfolg, damals am 27. September 1992. Dafür musste man Einsatz zeigen, Überzeugungsarbeit leisten, von Basel bis Chiasso, jeden Abend.

Was ist Ihr Programm an den Eröffnungsfeierlichkeiten?
Ich habe eine Einladung und darf an der ­Eröffnung am 1. Juni 2016 teilnehmen.

Nun hat das Stimmvolk gerade dem Bau des zweiten Gotthard-Autotunnels zugestimmt. Was halten Sie davon?
Da bin ich selbstverständlich auf der Linie des Bundesrats: Es ist staatspolitisch richtig. Wir können nicht den Kanton Tessin während Jahren von der Deutschschweiz abschneiden, wir als Land der vier Kulturen und Sprachen, der 26 Kantone. Die Tessiner hätten während der Sanierung des alten Tunnels keine Strassenverbindung zur Deutschschweiz, wenn sich das Stimmvolk anders entschieden hätte.

Dennoch, das Ziel war und ist die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Nach der Eröffnung des Lötschbergs sagten Sie, das sei möglich, wenn man es richtig mache. Wie wär es denn richtig?
Ja, der Lötschberg ist ein grosser Erfolg. 100 Züge fahren jeden Tag durch diesen Tunnel. Und der Gotthard wird dank der Doppelspur ein noch grösserer Erfolg werden. Aber dafür müssen jetzt die nötigen Zufahrtsachsen in und nach Italien und Deutschland gebaut werden, damit die Schiene eines Tages attraktiver ist als die Strasse. Das kostet noch einmal viel Kraft und Innovationswille.

Die Verlagerung auf die Schiene ist kein typisches SVP-Anliegen. Aber Sie haben ja immer eher am linken Rand der SVP politisiert. Können Sie sich heute noch mit Ihrer Partei identifizieren?
Ach was, links! Ich werde die SVP hier nicht kritisieren. Ich bin nicht immer mit ihr einverstanden, das darf auch so sein. Das war mal die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, von dort komme ich her. Ich kenne auch Christoph Blocher sehr gut, wir wurden beide 1979 ins Parlament gewählt. Wir hatten eigentlich immer einen guten Draht zueinander. Wenns mal nicht gepasst hat, trafen wir uns in meiner Heimat Kandersteg, sind zum Blausee gewandert und haben dort Fisch gegessen. Dann hatten wir wieder ein paar Monate Ruhe.

Die SVP hat sich aber in der Zwischenzeit etwas verändert.
Ja, sie hat sich in einer Weise entwickelt, die mir nicht immer Freude bereitet. Aber sie hat nicht alles falsch gemacht. Die Wahlergebnisse vom letzten Herbst zeigen das.

Was bereitet Ihnen politisch Sorgen?
Das Verhältnis zu Europa. Die EU ist in erster Linie ein Friedensprojekt. Wir sind mittendrin und profitieren davon. Doch die EU hat unglaubliche Probleme mit ihren Ländern. Da kann sie sich nicht noch um diejenigen kümmern, die nicht regelmässig mit am Tisch sitzen, wie wir. Ich sage nicht, wir sollten der EU beitreten, aber früher war der Kontakt schon einfacher – zur EU und zu anderen Ländern –, und das Verständnis für uns war grösser.

Sie sind nun 73 Jahre alt. Anstatt sich Sorgen um die Schweiz zu machen, könnten Sie wandern, Ski fahren, das Berner Oberland geniessen. Was treibt Sie an?
Nun, ich habe jetzt grad zwei Monate in Kandersteg gewohnt und dort das Skifahren und Langlaufen genossen. Aber wie gesagt, an jedem Tag kommt Post von Menschen, die etwas von mir wollen. Wenn ich kann, helfe ich gern. Ganz besonders bei den Jungen. Die Jugendlichen von heute sind die Leader von morgen. Auch aus diesem Grund haben wir nach dem Krebstod meines Sohns Mathias die Jugendsport-Stiftung «Freude herrscht» gegründet.

Sport war für Sie immer ein grosses Thema. Was bedeutet er privat für Sie?
Sport ist die beste Lebensschule. Man lernt zu gewinnen, ohne überheblich zu werden, man lernt zu verlieren, ohne in Weltuntergangsstimmung zu kommen. Man lernt zum Beispiel, Schiedsrichterentscheide zu akzeptieren, und übt sich in Teamgeist, Durchhaltewille, Leistungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft. Jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, Fehler zu machen, ohne dass es Konsequenzen hat. Das geht in der Kultur und im Sport. Man erfährt: Wie reagiert mein Temperament, mein Charakter bei einer roten Karte? Oder wenn ich gewinne? Bleibe ich fair?

Sie reden von Fairness. Wie haben Sie den Fifa-Skandal erlebt?
Das ist schlimm. In meiner Zeit als Sportminister verhalf auch ich Josef Blatter zu seinem Posten als Präsidenten. Man hat viel für ihn gemacht, aber er hat es leider versäumt …

Sind Sie enttäuscht von Josef Blatter?
Es ist eine Tragödie. Sein tiefer Fall tut mir leid. Er war im Februar nicht einmal mehr zum Fifa-Kongress eingeladen. Das ist hart und demütigend. Fussball ist sein Leben. Und plötzlich wird er davon ausgeschlossen. Er muss wirklich büssen. Auf der anderen Seite hat er in entscheidenden Momenten offensichtlich den Durchblick verloren und den Rücktritt verpasst.

Seit 24 Jahren ist Ihr «Freude herrscht!» ein geflügeltes Wort. Nervt das langsam?
Nein. Ich wurde viel belächelt. Heute sollte ich Tantiemen für meinen Spruch verlangen. Ich wäre ein reicher Mann. So ein Spruch muss einem zuerst mal im richtigen Moment in den Sinn kommen.

Und die Neujahrsrede 2000 vor dem Tannenbäumli?
Auch dafür muss man zuerst eine Idee haben. Alle Bundespräsidenten vor mir haben aus dem Bundeshaus referiert. Meine Frau sagte: «Geh doch mal raus!» Also habe ich mich mit einem Tannli vor den Lötschbergtunnel gestellt. Zugegeben, die Aufnahme war nicht einwandfrei: Ich musste regelrecht schreien, und vor meinem Gesicht wirbelte der Schnee. Man hätte meinen können, ich hätte Schaum an den Lippen. Doch ich habe sehr viel Zuspruch für die Rede erhalten. Authentisch zu sein, war mir immer wichtig. Die Anerkennung dafür erfahre ich noch heute. Sogar wenn ich in Zürich herumlaufe, sagen die Leute auf der Strasse: «Grüessech, Herr Ogi.»

(Publiziert im Migros-Magazin, Mai 2016. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Yvette Hettinger. Bild: Michael Sieber)

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