In Unterbäch gingen Frauen am 5. März 1957 erstmals an die Urne – gegen den Willen von Kanton und Landesregierung. Am 11. und 12. März 2017 feierte die Walliser Gemeinde 60 Jahre Frauenstimmrecht und würdigte das Engagement von Iris von Roten. Ich durfte die Festansprache dazu halten. Nachlesen kann man sie hier.
(Drei der 33 Frauen, die in der Schweiz vor 60 Jahren erstmals ihren Stimmzettel in die Urne legten)
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich danke Ihnen vielmals für den freundlichen Empfang und dieses eindrückliche Wochenende hier in Unterbäch. Ich bin heute hier um über Iris von Roten zu sprechen. Eine Person, die viel zu wenig Anerkennung erhielt. Eine Person, die Recht hatte. Und eine Person, deren Arbeit noch lange nicht zu Ende ist.
Es wird ein Plädoyer für einen modernen Feminismus. Für Pussyhats, für Solidarität und für Dankbarkeit gegenüber all den engagierten Frauen und Männern in den Generationen vor mir.
Werfen wir also einen Blick zurück.
Vor hundert Jahren erblickte Iris Meyer in Basel das Licht einer Männerwelt. An der Universität Bern promovierte sie in den Rechtswissenschaften, was damals noch eine seltene Frauenkarriere war. Zudem war sie als Journalistin tätig und schrieb unter anderem für das «Schweizer Frauenblatt» gesellschaftskritische Texte, für die sie sich nicht nur beliebt machte. Ein Vorgeschmack auf das, was später kommen sollte.
1946 heiratete sie Peter von Roten. Doch sie wollte kein Leben als «Nurhausfrau» – wie sie es bezeichnete. Also wurde sie nicht nur von Rotens eheliche Partnerin, sondern auch seine Partnerin in der gemeinsamen Kanzlei.
Ein paar Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reiste sie in die USA und begann mit der Arbeit zu ihrem Buch «Frauen im Laufgitter – offene Worte zur Stellung der Frau». Es wurde zu ihrem Lebenswerk. Ein durchaus kühnes Buch, seiner Zeit weit voraus. «Man kann diese Themen nicht alten Insektenforschern überlassen», sagte die Autorin damals.
Iris von Roten war eine Frau, die alles wollte. Freiheit, beruflicher Erfolg, wilde Abenteuer, lockende Fernen. Peter von Roten heiratete sie gegen den Willen seiner Familie, ihre Tochter Hortensia wurde früh fremdbetreut und auch sonst lebte Iris von Roten ein Lebenskonzept jenseits der damaligen Norm.
Iris von Roten war eine Person, der erst die Zeit Recht geben würde. Als «Frauen im Laufgitter» erschien, blieb die Anerkennung noch aus. Mit ihren damals revolutionären Gedanken traf sie zu viele wunde Punkte. Die aufplatzende Eiterbeule war grausam.
Setzer weigerten sich, das Buch zu drucken, Frauenverbände distanzierten sich von ihr, Fremde schmierten das Wort «Hure» an ihre Hauswand, an der Fasnacht wurde sie gedemütigt.
Ein inhaltlicher Diskurs fand nur am Rande statt; viele Kritiker hatten das Buch gar nicht gelesen. Der Hass richtete sich also in erster Linie gegen Iris von Rotens Person.
Heute, in einer Zeit, in der Hassrede ein gefährliches Comeback feiert, würde man das Shitstorm nennen. Was besonders bitter war: Zu dieser Zeit scheiterte auch die erste Abstimmung zum Frauenstimmrecht. Die Frau hatte also weder publizistisch noch politisch etwas zu sagen.
«Eine Frau kommt zu früh» – passender hätte die Journalistin und Verlegerin Yvonne-Denise Köchli den Namen für ihre Biografie über Iris von Roten nicht wählen können. Am letztjährigen Weltmädchentag, dem 11. Oktober, fragte mich Yvonne-Denise, ob ich die Biografie mit ihr zusammen neu schreiben möchte. Mit einer Bestandsaufnahme von heute und der Frage, was Iris von Roten für die jungen Frauen bedeutet.
Nicht zuzusagen wäre wahnsinnig gewesen. Denn: wenn nicht jetzt, wann dann? Wahrlich, es geschieht so manches auf dieser Welt, das einen entmutigen kann. Ein Sexist wurde zum mächtigsten Mann der Welt gewählt. Frauenhass, Rassismus und Homophobie wurden dadurch für viele legitimiert.
In der Politik, auf den Festivalbühnen, auf den Podien, in den Teppichetagen dieses Landes bleiben Frauen untervertreten. Die Männerkollektive bleiben stark und verhindern wahre Chancengleichheit.
Und doch muss man sagen: Es brodelt gewaltig in der Frauenbewegung. Es herrscht geradezu ein feministischer Frühling in der westlichen Welt.
In den USA wurde der Women’s March zum grössten Protest der Geschichte des Landes. In Polen verhinderten Demonstrantinnen und Demonstranten ein restriktives Abtreibungsgesetz, in Argentinien demonstrierten Tausende gegen Gewalt an Frauen; in Island gegen die Lohndiskriminierung. Jüngst gingen in der Türkei Frauen gegen die Politik Erdogans auf die Strasse.
Der politische Rechtsrutsch und die dazugehörenden konservativen Rollenbilder zeigen deutlich, dass es feministische Errungenschaften zu verteidigen gilt.
Was passiert eigentlich in der Schweiz punkto Feminismus? Der Schweizer Aufschrei lenkte jüngst die Aufmerksamkeit auf den alltäglichen Sexismus und führte zu einer breiten öffentlichen Debatte. Das feministische Kollektiv aktivistin.ch macht mit aufsehenerregenden Aktionen weltweit Schlagzeilen und auch der Pussyhat ist hierzulande angekommen.
Auch in den Medien scheint die Frauenfrage wieder aktuell: Die Schweizer Illustrierte publizierte zum Frauentag eine Sonderausgabe mit feministischen Inhalten. Diverse Magazine porträtierten junge Frauen, die sich für Frauenanliegen einsetzen, und sogar der Blick widmete den Frauen eine Porträt-Serie.
Auf SRF lief diese Woche ein Dok zum Thema Vereinbarkeit, ein Club zum Thema Mutterschaft, ein Kulturplatz zum Thema Vorurteile und 10vor10 berichtet über die gläserne Decke. Der Frauentag war überall.
Als Supplément feiert der Film «Die Göttliche Ordnung» in diesen Tagen Schweizer Premiere. Die Regisseurin Petra Volpe hat die Geschichte über das Schweizer Frauenstimmrecht auf die Leinwand gebracht. Ich empfehle Ihnen den Kinobesuch wärmstens.
Auf politischer Ebene wird über den Vaterschaftsurlaub diskutiert und auch einzelne Politiker zeigen sich sensibilisiert auf patriarchale Strukturen: Der SP-Politiker Cédric Wermuth weigert sich fortan, an Podien teilzunehmen, die blosse Männerrunden sind. Die Präsidien der Juso und der Grüne sind derweil in fester Frauenhand.
Am diesjährigen Frauentag wurde gestrickt, gesungen, demonstriert und politisiert. Gestern fand die landesweite Frauendemo statt und nächstes Wochenende wollen sich hunderte für einen erneuten Women’s March in Zürich zusammenschliessen.
Einige dieser Aktionen hätte Iris von Roten mit ihrer spitzen Feder wohl nicht unkommentiert gelassen.
Heute zeigt dieser wundervolle Anlass, dass es ein Bewusstsein für und ein Interesse an Schweizer Frauengeschichte gibt.
An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Roman Weissen für die Einladung bedanken. Sein Engagement ist bewundernswert und wichtig. Es zeigt, wie unabdingbar es ist, Gleichstellungsthemen gemeinsam anzugehen.
Iris von Roten konnte ihren hundertsten Geburtstag nicht mehr feiern. Sie schied aus dem Leben in derselben Art, wie sie dieses führte: selbstbestimmt. Wie ein Ausrufezeichen nach einem tapferen Satz, so beschrieb Peter von Roten das Ableben seiner Frau.
Wenn Sie heute noch Leben würde, was würde sie wohl denken?
Freilich, die Hauptforderungen aus Frauen im Laufgitter sind erfüllt. Die Gleichstellung der Geschlechter ist seit 1981 in der Bundesverfassung verankert. Die Schweiz führte 1971 das Frauenstimmrecht ein, 2002 trat die Fristenregelung und 2005 die Mutterschaftsversicherung in Kraft. Mit der Pille erhielten Frauen in den 60er-Jahren ihre reproduktive Selbstbestimmung, sexuelle Freiheit und Unabhängigkeit.
Ein genauer Blick zeigt jedoch, wie viele Umstände die Frauen von absoluter Gleichstellung abhalten. Im Berufsleben herrscht eine Care Krise, Frauen übernehmen einen Grossteil der Gratisarbeit, Organigramme sind oben männlich und unten weiblich.
Lohnungleichheit, Altersarmut und schlechte Arbeitsbedingungen sind eine finanzielle Bedrohung für viele Frauen.
In der Liebe hat Frau nett auszusehen und zu lächeln. Sogar Politikerinnen oder Sportlerinnen werden systematisch auf ihr Aussehen reduziert. Frauen werden auf offener Strasse angemacht und angebaggert.
Unser Verhütungsstandard sieht vor, dass sich bereits junge Frauen monatlich mit Hormonen vollpumpen. Ein wahres Interesse an der Entwicklung der Männerpille besteht nicht. Die Periode ist noch immer ein Schamthema, weibliche Sexualität wird tabuisiert und Frauen, die sie offen leben, werden als «Schlampen» oder «Flittchen» bezeichnet.
In einem Land, in dem barbusige Frauen von allen Plakatflächen herunterschauen, wird öffentliches Stillen als obszön bezeichnet.
Muttersein und Nichtmuttersein wird verurteilt und fremdbestimmt. Mütter sollen gefälligst zuhause bleiben, kinderlose Frauen gelten als unnatürlich. Abtreibungsgegner ziehen jeden Herbst zu tausenden auf die Strasse und schreiben Frauen vor, was sie mit ihrem Körper tun sollen.
Noch immer übernehmen Frauen einen Grossteil der Haushaltsarbeit – selbst wenn sie selber ein grösseres berufliches Pensum bestreiten. Die Arbeit im Haushalt wird meist gratis verrichtet. Und wenn sie abgegeben wird, dann meist in die Hände von Migrantinnen.
Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene bleiben Frauen untervertreten. In Zeiten, in denen trotz ungleicher Rechte gleiche Pflichten verlangt werden, ist die Forderung nach Frauen im Militär geradezu absurd.
Die Solidarität unter Frauen lässt oft zu wünschen übrig: Ein verinnerlichtes Minderwertigkeitsgefühl führt zu Rivalität, fehlender Solidarität, Eifersucht, Neid, Missgunst. Medien zelebrieren die dabei entstehenden Zickenkriege noch so gerne.
Mit dem Internet kamen Hasskommentare, die sich meist gegen Frauen richten und geprägt von sexualisierter Gewalt sind.
Ja, es gibt noch viel zu tun. Meine Generation hat andere – aber ebenso grundsätzliche und dringliche – Aufgaben als die Generation meiner Grossmutter oder Mutter.
Meine Mutter ist heute mit mir hier. Als sie zur Schule ging, musste sie noch ein Röckli tragen. Frauenstimmrecht, Gleichstellungsgesetz, Pille, Fristenregelung und das neue Eherecht lagen in weiter Ferne. Ein anständiges Mädchen hatte damals züchtig gekleidet, folgsam, schweigsam und «gschaffig» zu sein.
Auf irgendeine wundersame Weise hat es meine Mutter geschafft, meine Schwester und mich mit allen Freiheiten zu erziehen, die sie selbst noch nicht hatte. Dafür möchte ich mich bedanken.
Der Blick nach vorne ist wichtig. Doch ebenso wichtig ist der Blick zurück. Tage wie diese sind wichtig. Sie erinnern an das mutige Engagement von fortschrittlichen Frauen und Männern, die sich für eine gerechte Welt eingesetzt haben.
Am 5. März 1957 verlieh die Gemeindeverwaltung den Unterbächnerinnen ein einmaliges Abstimmungsrecht – gegen den Willen von Kanton und Landesregierung. Es bedurfte dazu nur einer grammatikalisch korrekten Auslegung der Bundesverfassung. Denn: Mit den Begriffen «Schweizer» oder «Bürger» war doch die Frau eigentlich mitgemeint.
Entschieden werden sollte an diesem historischen Tag über eine obligatorische Wehrpflicht der Frauen im Rahmen des Zivildienstes. Dass die Frauen hier mitbestimmen durften, war also mehr als nur fair.
33 von 86 Unterbächerinnen wagten den Gang ins Abstimmungslokal. Sie warteten auf die abendliche Dunkelheit, um den Beschimpfungen konservativer Nachbarn auszuweichen. Dieser Mut ist bewundernswert.
Das beschauliche Unterbäch ist als Pionierort des politischen Ungehorsams indes wunderbar unschweizerisch. Der historische Tag machte internationale Schlagzeilen. Gesamtschweizerisch war es das erste Mal überhaupt, dass Frauen an die Urne durften. Wohlbemerkt: Das Frauenstimmrecht kam erst 14 Jahre später.
Katharina Zenhäusern war die erste Frau, die in der Schweiz ihre Stimme abgegeben hat. Gegenüber dem SRF sagte sie vor ein paar Jahren: «Ich hätte nicht gedacht, dass das Interesse so gross sein wird. Es war etwas ganz Neues, bisher sah man die Frau immer nur im Haushalt. Für einige Männer war der Urnengang eine Enttäuschung, auch Frauen haben sich dagegen gewehrt.»
Die damaligen Gemeindeväter von Unterbäch wagten diesen Schritt auf Anraten von Iris und Peter von Roten hin. Das Paar setzt sich zu jener Zeit schon für die Rechte der Frauen ein.
Heute gilt Unterbäch als «Rütli der Schweizer Frau». Am 18. August 1985 wurde hier Elisabeth Kopp das Ehren-Bürgerrecht verliehen.
Iris von Roten sagte damals in ihrer Ansprache: «Die Vorstellung Rütli gibt ein Triumphgefühl. Ein Triumphgefühl, das von der Wahl einer Frau, von Elisabeth Kopp, zur ersten Schweizer Bundesrätin bestätigt wird.»
Der Anlass war für Iris von Roten ein Anfang der Freiheit und – gerade was die Freiheit der Frauen anbetraf – der Ausgangspunkt zur Erkämpfung der vollen Freiheit. Es seien die Frauen selbst, die mit ihrer Freiheit, ihrer Gleichberechtigung nun Ernst machen müssen.
Unterbäch ist gelebte Schweizer Geschichte. Ein Teil unserer Geschichte, auf den ich als Mensch, der wenig von Hurra-Patriotismus hält, sehr stolz bin.
Ich danke Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.