Der «Pestalozzi-Kalender» begleitet Jugendliche seit Generationen durch den Schulalltag. Das heutige Redaktionsteam um Patrick Savolaien, Regina Dürig und Paul Linsmayer hat die alte Agenda entstaubt und renoviert.
Das Schicksal des «Pestalozzi-Kalenders» nahm an einem Regentag 1991 eine wundersame Wendung: Pro Juventute hatte soeben die Rechte des Kalenders verkauft und schmiss kuzerhand sämtliche Archivexemplare und Maquetten in eine Mulde. Charles Linsmayer (71) brachte an diesem Morgen seinen Sohn Paul in den Kindergarten. Beim Anblick der Büchlein, die im Regenwasser schwammen, entschied der Vater: Der Kindergarten fällt heute aus! Stattdessen transportierten die beiden die durchnässten Kalender in Tragtaschen nach Hause zum Trocknen und Pressen.
2008 präsentierte Linsmayer seine Sammlung an einer Ausstellung zum 100-Jahr-Jubiläum des Kalenders – dennoch stellte Orell-Füssli, der neue Verlag, die Produktion ein. Der renommierte Germanist und Literaturkritiker kämpfte weiter. Mit Erfolg: Ein Jahr später erschien die nächste Agenda im Berner Stämpfli-Verlag mit einem neuen Redaktionsteam, zu dem auch sein Sohn Paul (mittlerweile 30) gehört.
«Als Kind kannte ich den Kalender nicht», erzählt Patrick Savolaien, ebenfalls Redaktionsmitglied der Neuauflage. «Doch nach Charles’ Anruf habe ich mir die alten Agenden angeschaut. Ich war sofort begeistert», sagt der 28-Jährige. Der Berner arbeitet als freier Schriftsteller und Grafikdesigner; die Liebe zu Büchern und etwas Nostalgie überzeugten ihn schliesslich: «Die Papieragenda ist ja nicht mehr wirklich zeitgemäss. So erhält sie wieder einen neuen Charme.»
Der Kalender ist ein wahres Zeitdokument. «Wir wollen der Schweizerjugend ein Buch verschaffen, welches sie in ihren Schularbeiten unterstützt, ihr Wissen erweitert und ihr Verlangen nach Liebhabereien und Spielen befriedigt», heisst es in der Einleitung der ersten Ausgabe von 1907. Auf dem Cover der zweiten Ausgabe war das Konterfei des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi abgebildet – seither sprach man vom «Pestalozzi-Kalender». Das Konzept: 120 Seiten, darunter Tabellen mit Schulwissen, Wettbewerbe, Rätsel, Spiele, Kunst, Magazintexte sowie das jeweils aktuelle Bundesratsfoto. Schülerinnen und Schüler verteilten die ersten Ausgaben auf Zürcher Pausenplätzen.
Ein internationales Erfolgsprodukt
Es war der Start einer Erfolgsgeschichte. Ab 1909 erschien die Westschweizer Ausgabe und 1918 der Tessiner «Calendrario Pestalociano». In den besten Zeiten wurde der Kalender bis zu 100’000-mal pro Jahr verkauft. Er wurde auch in verschiedenen europäischen Ländern und in Argentinien publiziert. Und zur Zeit des Nationalsozialismus war der Kalender im Dritten Reich erhältlich: mit einem Hakenkreuz auf dem Cover und Kriegspropaganda zwischen den Buchdeckeln.
Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts geriet der Kalender immer wieder unter Druck: 1970 verschwand die französische Ausgabe vom Markt, 1972 der Tessiner Ableger, 1974 legte Pro Juventute die Mädchen- und Knabenausgaben erstmals seit 1913 wieder zusammen. Zwischenzeitlich sank die Auflage auf 2000 Stück. Die neue Version ab Mai 2011 wurde zu einer Schüleragenda umfunktioniert. Zur Redaktion gehörten neben Patrick Savolaien und Paul Linsmayer auch die Primarlehrerin Andrea Bertolini und die Radiomoderatorin Elena Bernasconi. 2012 stiess die Autorin Regina Dürig (33) hinzu.
Die aktuelle Ausgabe ist dem Thema Umweltschutz gewidmet. «Ein Anliegen, das der Redaktion besonders am Herzen liegt», sagt Dürig. «Ich versuche, meine Garderobe aus Kleidern und Schuhen von kleinen Herstellern zusammenzustellen.» Patrick Savolaien hat ein Gemüseabo von befreundeten Biobauern, während sich Paul Linsmayer bereits bei den Zürcher Grünen politisch mit Umweltthemen beschäftigt hat. In der Agenda gibts auf jeder Seite Umwelttipps. Auf den letzten Seiten folgen redaktionelle Texte – etwa ein Interview mit Umweltministerin Doris Leuthard, eine Reportage über den Alpsommer sowie ein Bericht über eine Tierkommunikatorin.
Am 20. Mai stellt die Redaktion ihre Agenda im Zürcher Kaufleuten vor. Mit dabei sind der Berner Rapper Greis und alt Bundesrat Moritz Leuenberger.
Apropos: Das aktuelle Porträt der Landesregierung hat auch in der neukonzipierten Agenda seinen festen Platz. Nicht bloss aus Traditionsgründen, wie Paul Linsmayer sagt, «auch weil das Bundesratsfoto jedes Jahr amüsanter wird».
(Publiziert im Migros-Magazin, Mai 2016. Bild: Remo Nägeli)