Ich bin Stefanie

Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Mannes geboren und wusste schon als Vierjährige, dass sie eine Frau ist. Erst nach einem jahrzehntelangen Versteckspiel fand sie den Mut, sie selbst zu sein.

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Dass es nicht so weitergehen konnte, wurde Stefanie Hetjens bewusst, als sie im Zug sass. «Es war ein Donnerstagabend nach einer langen Woche. Ich war sehr, sehr müde. Zu müde, um mich weiterhin zu verstellen.» Das war am 13. September 2012. Sie schrieb ihrer Psychologin, dass sie über etwas reden müsse, das wohl mehr Zeit in Anspruch nehmen werde als üblich, in den 60-minütigen Sitzungen.

Stefanie Hetjens wurde im Körper eines Jungen geboren – und wusste seit ihrer Kindheit: Ich bin ein Mädchen. Die 32-jährige Werberin wuchs in der Nähe von Düsseldorf auf; seit sechs Jahren lebt und arbeitet sie in Zürich. Ihre Geschichte ist geprägt von Verdrängen: «Schon mit vier Jahren spielte ich die Rolle eines Mädchens. Meine Oma mütterlicherseits sagte: Das darfst du nicht. Du musst aufhören, sofort.» Zehn Jahre lang sprach Stefanie nie wieder über das Thema. Erst mit 14 vertraute sie sich ihrer Mutter an. «Sie sagte, das sei nur eine Phase. Das war schlimm für mich. Heute weiss ich, dass es keine böse Absicht war. Sie hatte wohl einfach nur Angst vor dem Unbekannten.»

Ablenkung und Verdrängung

Innerlich zerrissen, stürzte sich Stefanie Hetjens in die Arbeit. Sie trainierte sich «männliche» Verhaltensmuster an, zeigte sich stark und durchsetzungsfähig. Bis sie sich selbst nicht mehr erkannte. Mit 29 entschied sie sich für die Transition, den äusserlichen Wechsel ihres Geschlechts. Ihr erster Schritt: Kerzen kaufen. «Das war für mich ein enormes Bekenntnis. Ich war so sehr auf die männliche Rolle fixiert gewesen, dass ich solche kleinen, für mich weiblichen Dinge nie getan hätte – aus Angst, aufzufliegen.»

Nach und nach folgten weitere Schritte. Das Coming-out vor den Eltern sei am schwierigsten gewesen, sagt sie, denn als sie ihr gespieltes Ich hinter sich liess, verlor die Familie einen Sohn. «Eltern müssen sich Zeit zum Trauern nehmen. Erst dann können sie ihre neue Tochter willkommen heissen. Ich glaube, mein Verhältnis zu meiner Mutter ist jetzt besser. Wohl auch, weil es gut ausgegangen ist, weil ich jetzt ich selbst bin.» Ihr Vater habe sie sofort akzeptiert. «Vielleicht hat ihn meine Grossmutter beeinflusst. Sie rief mich trotz Demenz kein einziges Mal beim alten Namen – ich war einfach ihre Enkelin.»

Kein Einzelfall

Hetjens Geschichte ist nicht so einzigartig, wie man vermuten könnte. Holländische Forscher haben herausgefunden, dass einer von 200 Menschen sich nicht heimisch fühlt im Körper, in dem er geboren wurde. In der Schweiz dürften es demnach etwa 40 000 Betroffene sein. «Wer in der Schweiz sein neues Geschlecht im Pass vermerkt haben will, braucht die Bestätigung der Diagnose Transsexualität», sagt Udo Rauchfleisch. Der klinische Psychologe und Psychotherapeut hat sich auf das Gebiet Transsexualität spezialisiert und zahlreiche Publikationen zum Thema geschrieben. «Viele Zivilgerichte verlangen bei Transmenschen immer noch Gebär- und Zeugungsunfähigkeit, ehe sie die Änderung des Personenstandes erlauben.» Sofern ein medizinisches Gutachten vorliegt, übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Operation; zum Teil wird das Mindestalter 25 verlangt. «In meinem Pass steht noch mein alter Name. In Deutschland brauchst du für die Änderung des Vornamens zwei Atteste von Psychologen. Diese offizielle Bestätigung ist totaler Schwachsinn», sagt Stefanie Hetjens.

Auch sonst müssten Transmenschen einiges preisgeben. Eine ständige Gratwanderung, auch für Stefanie: «Wie viele Infos muss ich teilen, damit ich verstanden werde? Wer ist bloss neugierig, wer interessiert sich wirklich für mich? Diese Fragen stelle ich mir ständig.» Schwierig werde es, wenn Leute beispielsweise ungeniert fragten, mit wem sie schlafe. «Das geht keinen etwas an.»

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Laut einer Studie der University of California haben 41 Prozent der Transmenschen in den USA einen Suizidversuch hinter sich. Hoffnungslosigkeit kennt auch Stefanie Hetjens. Verschwunden sei diese erst, nachdem sie sich für die Geschlechtsangleichung entschieden hatte. «Man muss sich im Klaren darüber sein, dass einiges auf einen zukommt. Ich habe mir damals überlegt, ob meine Selbstverwirklichung es wert ist, den Job zu verlieren oder auf der Strasse ständig angestarrt zu werden. Ich habe mich entschieden, dieses Risiko einzugehen.»

Seither steht Hetjens eine spezialisierte Psychologin zur Seite. Auch die Hormontherapie läuft. «In der Regel wird Testosteron geblockt und Östrogen hinzugefügt», sagt Udo Rauchfleisch. Östrogen fördert das Brustwachstum und strukturiert den Fettanteil im Körper um: Die Hüfte wird breiter, die Gesichtszüge verlieren das Kantige. Auch Stefanie Hetjens bemerkt gewisse Veränderungen: «Seither rieche ich beispielsweise anders, und ich habe eine zartere Haut.» Zudem verändern sich die Geschlechtsorgane. Viele sind bereits nach der Hormoneinnahme zufrieden und lassen keine geschlechtsangleichende Operation vornehmen. Andere wünschen dennoch einen Eingriff. «Dabei wird aus dem Penisgewebe eine künstliche Vagina erstellt. Diese muss dann ständig gedehnt werden, damit die Öffnung nicht zuwächst. Für die Empfindungsfähigkeit versetzt man Nerven der Eichel in die neue Klitoris», erklärt Udo Rauchfleisch.

No big deal

Angst ist Hetjens‘ ständige Begleiterin. Heute ist es die Angst, dass die Haare nicht dicht genug wachsen. Früher war es die Angst vor dem Karriere-Ende. Eine unbegründete Sorge, wie sich herausgestellt hat: «Mein damaliger Chef unterstützte meinen Weg zum Glück. Und im neuen Team bin ich einfach Steffi.» Ihr lockerer Umgang mit dem Thema macht vieles einfacher: «Ein Schulfreund schrieb mir einmal, er habe jetzt eine neue Adresse. Ich antwortete und sagte, ich hätte jetzt ein neues Geschlecht.»

Ihr Dating-Alltag sei nicht weniger kompliziert und nicht weniger einfach als bei anderen. Manchmal müsse sie ihr Gegenüber halt ein wenig aufklären. Dass sie trotz ihrer breiten Schultern und der 193 Zentimeter Körpergrösse gut als Frau durchgeht, erleichtert ihr Leben sehr. «Gestern war ich beim Take-away. Die Kassiererin sagte bloss: ‹Sie sind aber eine grosse Frau!›»

Unterstützung und Infos liefert das Transgender Network Switzerland: www.tgns.ch

(Erschienen im Migros-Magazin, Dezember 2015. Bild: Mara Truog)

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