Boy George über Ängste, Menschlichkeit und das Streben nach Glück

Der Vorabend der Street Parade wirkt beinahe surreal. In der Gegend um den Zürcher Bürkliplatz ist es erstaunlich still. Hier im Hotel Baur Au Lac treffe ich Boy George, 80er Ikone und Poplegende, zum Interview.

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Im Vorzimmer warten der Fotograf und ich gebannt auf unseren Termin. Als wir den Raum betreten, bin ich überrascht: Anstatt auf einen Paradiesvogel treffe ich auf einen Gentleman in schwarz. Ungeschminkt, normal gekleidet, freundlich dasitzend. Ich werde mit einem «Hi, I like your outift» und einem warmen Lächeln begrüsst. Als ich die ersten Fragen stelle, merke ich: Boy George ohne Make-Up ist einfach nur George Alan O’Dowd.

In den 80ern warst du eine Ikone und noch heute bist du sehr berühmt. Wie erklärst du dir das?
Ich bin immer mich selber geblieben, auch wenn ich dumme Sachen gemacht habe. Vielleicht mögen dass die Leute. Menschlich zu sein, ist etwas ganz Wichtiges. Ich finde die Leute seltsam, die mich nicht mögen. Zur Hölle, die kennen mich ja nicht Mal!

Hast du Angst vor dem Aussergewöhnlichen?
Ich finde nicht, dass ich so seltsam bin. Ich laufe zwar mit Make-Up rum aber als Mensch bin ich doch wie jeder andere. Wenn du mich kennenlernen würdest, wärst du überrascht, wie unkompliziert ich eigentlich bin.

Du bist berühmt für dein Styling. Wie ziehen sich die Leute heutzutage an?
Es gibt immer eine neue Generation, die sich verrückt anzieht. In London zum Beispiel gibt es viele Kids, die dasselbe, was wir vor 30 Jahren gemacht haben, heute wieder tragen – einfach auf ihre Art. Wenn du jetzt 14 Jahre alt bist und eine Person wie Lady Gaga anschaust, findest du das total revolutionär.

Was hältst du eigentlich von ihr?
Ich hab David Bowie gesehen, als ich zwölf Jahre alt war. Und wenn du Ziggy Stardust erlebt hast, ist es schwierig, von jemandem beeindruckt zu sein. Aber ich finde, dass Lady Gaga eine tolle Stimme hat. Sie sollte unbedingt ein akustisches Album herausbringen.

Du bist von der Schule geflogen. Warum?
Ich war ein schlimmer Schüler. Nachdem ich gelernt habe, zu lesen und schreiben, wars das für mich. Ich wollte lieber Musik hören und Bilder malen. Heute hingegen finde ich das Lernen von neuen Sachen sehr aufregend. Eigentlich sollte ich jetzt zur Schule gehen.

Wieso bist du erst jetzt an der Street Parade?
Niemand hat mich bis jetzt eingeladen! Manchmal stimmt das Timing nicht, aber dieses Jahr hat sich glücklicherweise alles gefügt und jetzt bin ich hier und freue mich sehr. Eigentlich werde ich schon langsam nervös.

Zu Recht. Es wird riesig!
Hach weisst, du ich bin keine «Size Queen». Das Wichtigste für mich ist die Energie. Und es ist einfacher, für viele Leute zu spielen als für wenige. Bei einer solchen Menge bist du ein Teil vom Ganzen.

Morgen um 13 Uhr gehts los.
Ich werde früh aufstehen und mich vorbereiten. Dafür ist meine Visagistin mit mir hier. Ich könnte das auch alleine machen, aber ich bin zu faul. Die Kleider wähle ich mir hingegen selber aus. Ich bin etwas altmodisch. Für morgen werde ich einen netten Anzug, einen hübschen Hut und tonnenweise Make-Up tragen.

Was machst du nach der Parade?
Am Sonntag sind wir in Monaco. Dort treffen wir Prinz Albert. Ok, das war jetzt gelogen. Aber ich habe ihn mal gesehen und natürlich seine Hochzeit am TV mitverfolgt.

Du hast eine bewegte Lebensgeschichte. Das hört man auch in deinen Liedern.
Natürlich schreibe ich über meine persönlichen Erfahrungen. Ich bin nicht der Typ, der «Put your hands in the air» schreit oder über Partys in Clubs redet. Es ist für mich wichtiger, eine emotionale Verbindung zu den Leuten herzustellen.

Deine Musikrichtung hat sich indes sehr verändert.
In den 80ern hatte ich eine grossartige Karriere und viel Erfolg. Als Culture Club vorbei war, war ich etwas verloren. Dann kam der Acid House, den ich damals aufregender als Popmusik fand. Ich habe mich in dieser Musikrichtung zuhause gefühlt.

Was ist das härteste daran, berühmt zu sein?
Keine Ahnung!

Oder ist es gar nicht hart?
Wenn du jung bist, schon. Wenn du im Rampenlicht stehst, hängt alles, was du machst, von der Bestätigung anderer ab. Das macht die Dinge kompliziert. Wenn du aber Glück hast, erreichst du den Moment, wo du das durchleuchtest. Als ich jung war, habe ich alles für selbstverständlich gehalten. Jetzt kann ich sagen, dass ich das machen kann, was ich liebe. Wie viele Leute können das schon von sich behaupten?

Wärs nicht einfacher gewesen, der Junge von nebenan zu sein?
Auch der Junge von nebenan hat Probleme. Mensch zu sein ist schwierig! Das Leben ist hart, bis du eine Perspektive hast. Aber es braucht Zeit und Erfahrung, bis du weisst, was dir wichtig ist. Ich habe die Dramen von früher hinter mir. Damals hatte ich keinen Ausschaltknopf, alles hat mich sofort in den Wahnsinn getrieben, jeder Tag war wie ein Überlebenstraining. Aber jetzt liebe ich, was ich mache; ich habe tolle Freunde und eine tolle Familie.

Wie ist das Verhältnis zu deiner Familie?
Mein Vater ist tot, aber meine Mutter lebt noch. Wir sind eine grosse Familie, ich habe vier Geschwister. Wenn du älter wirst, merkst du, wie wichtig deine Familie ist.

Wie lange möchtest du im Showbiz bleiben?
Ach… das Geschäft mit der Show. Das ist halt das, was ich mache. Ich wüsste nicht, was sonst. Ich fühle mich jedoch nicht als Teil des Showbiz, ich bin ein Arbeiter. Wenn mich Leute einen Promi nennen, finde ich das immer etwas schräg. Für mich sind Promis Leute, die nichts tun. Es reicht, mit einer teuren Handtasche rumzulaufen. Ich hingegen arbeite wirklich hart. Ich kann showbizzy sein. Aber das ist nicht, das was mich begeistert.

Also machst du das auch noch, wenn du alt bist?
Ich bin alt! Ich bin 50!

Jetzt klingst du aber genau wie ein Promi.
50 Jahre sind schon ein Meilenstein. Ich möchte einfach glücklich sein, wenn ich alt bin.

Und heiraten?
Nein, das ist nichts für mich. Toll, wenn das Leute machen, aber ich möchte niemanden heiraten. Für mich ist das manchmal auch ein Versuch der Schwulen, normal zu sein. Dass ich schwul bin, macht mich aber weder speziell, noch wichtig. Wenn Schwule heiraten wollten, sollten sie aber das Recht haben. Heteros sind eigentlich klasse, sie produzieren schliesslich Homos! Es fasziniert mich aber, dass es immer noch homophobe Leute gibt. Wieso kümmert es die, was ich in meinem Bett mache?

An der Street Parade nehmen viele Leute Drogen. Du hast auch Erfahrungen damit.
Die Leute entfliehen gerne der Realität. Einige geben das Geld aus, dass sie nicht haben, andere essen zu viel oder lesen haufenweise Magazine und Bücher. Ein paar Leute entfliehen der Realität aber auf eine zerstörerische Art, als andere. Ich bin jetzt drei Jahre und sieben Monate trocken und clean. Und weisst du was? Ich vermisse den Scheiss kein Bisschen. Wenn ich jetzt an eine Party gehe, kann ich mich an alles erinnern. Aber die Realität ist manchmal schwierig.

Hast du darum Drogen genommen?
Da gibt es nicht einfach einen simplen Grund. Wenn es den gäbe, wäre es einfach, aufzuhören. Jeder hat seine Gründe. Zusammenfassend kann man  sagen, dass diese Leute nicht hier sein wollten. Für mich ist es aber sehr wichtig geworden, in meinem Leben anwesend zu sein. Ich liebe mein Leben und es ist etwas ganz tolles, dabei zu sein. Jeder Süchtige sollte versuchen, clean zu werden. Es gibt einen Ausweg. Und das Leben ist wundervoll.

Nach dem Interview: Eigentlich wollten wir noch Bilder machen, aber Boy George war ungeschminkt. Also konnten wir am Street Parade-Samstag nochmals ins Hotel. Ich freute mich darauf, den freundlichen Herrn wiederzusehen. Und treffe auf eine Diva im extravaganten Anzug und mit kiloweise Make-Up. Als ich ihn gestern getroffen habe, war er zugänglich und herzlich. Jetzt ist er Boy George. Posiert für die Kamera und sagt mir, dass er mein Krönchen und Glitzerkleidchen mag. Kurz darauf steigt er ins Auto zur Parade und lässt mich nachdenklich zurück.

(Erstmals publiziert auf 20minuten.ch und tilllate.com, August 2012. Bild: Marco Andreoli für tilllate.com)

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Was wurde aus dem Zaffaraya?

Überlebenskünstler, Althippies, Revoluzzer und Träumer: Noch heute ist das Zaffaraya ein Schmelzpunkt der alternativen Szene und ein Wohn-Mikrokosmos jenseits der Norm. Ein Augenschein vor Ort.

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Am 31. Juli 1985 entstand im Berner Marzili das «Freie Land Zaffaraya». Zusammen mit der Reithalle wurde es zum Symbol für die Berner Jugendunruhen und zu einem schweizweit diskutierten Politikum. Am 17. November 1987 wurde die Siedlung trotz mehreren Protestdemonstrationen von bis zu 10 000 Teilnehmern gewaltsam durch die Polizei geräumt. Nach drei provisorischen Orten fand das Zelt- und Wagendorf 1989 im Neufeld ein neues Zuhause. 2006 musste die Siedlung dem Neufeld-Tunnel weichen.

Ein Besuch vor Ort

Zaffaraya-Bewohnerin Regä wohnt seit zehn Jahren in der neuen Siedlung. Für sie bedeute das «Zaff» vor allem viel Freiraum und ein gutes Kollektiv: «Wir können das Gelände frei gestalten. An anderen Orten fühle ich mich mit meiner gesellschaftskritischen Einstellung manchmal wie ein Exot. Hier falle ich nicht aus dem Rahmen», erzählt sie.

Momentan leben rund 26 Personen im Neufeld, darunter sieben Kinder. In einem Sanitärcontainer befinden sich Waschmaschinen und WCs. «Im Sommer ist es eigentlich noch schön, im Pyjama nachts rauszugehen. Man lebt allgemein naturverbundener», so die Mutter zweier Kinder.

Bewohnerin Regä

«Wir profitieren ja auch vom System»

«Viele denken, wir leben wie Zigeuner und haben nicht einmal Strom. Andere haben sogar Angst vor uns und halten uns für irgendwelche Wilde. Aber wir sind so normal wie nötig; bezahlen Steuern und schicken die Kinder in die Schule», erzählt sie weiter. «Würden wir uns dem System nicht punktuell anpassen, gäbe es das Zaffaraya gar nicht. Wir profitieren ja auch vom System.»

So hat die Stadt Bern 2006 das Geld für die Strom- und Wasserleitungen vorgeschossen – die Abzahlung ist im Gange. «Das kommt halt davon, wenn man alles legal erwirbt. Früher wurden die Rohre noch geklaut», sagt Regä und lacht.

Von Tänzern und Politikern

25 Jahre nach der Räumung wurde das Zaffaraya diesen Juni im Zuge des «Tanz dich frei 2.0» wieder präsent. Über die Zeit früher hat die ehemalige Hausbesetzerin eine geteilte Meinung: «Es gab damals viel unnötige Gewalt, aber es wurde auch viel erreicht. Die Jugendbewegungen hatten und haben ihre Berechtigung; auch heute noch existieren Spuren davon.»

Das Zaffaraya bleibt ein Politikum – gewollt oder nicht. So erwähnen vor allem prominente Aushängeschilder bürgerlicher Parteien die Siedlung und die damit zusammenhängende rechtliche Grauzone immer wieder. Regä nimmts gelassen: «Es ist nicht verboten, wie wir leben, aber auch nirgends legal.»

Der Dokumentarfilm «Berner Beben» über die Jungendbewegung der 80er:

(Erstmals publiziert auf 20minuten.ch und tilllate.com, Juli 2012. Bilder: Anne-Sophie Keller)

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Wenn Nationalrätinnen über Vergewaltigungen lachen

Am Sonntagabend war die Grüne Nationalrätin Aline Trede zu Gast bei Viktor Giacobbo und Mike Müller. Neben den erwarteten Themen wie Wahlkampf und Atommüll liessen es sich die Gastgeber nicht nehmen, den Zuger Fall um Hürlimann/ Spiess-Hegglin anzusprechen.

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Ende Dezember wurde der Zuger SVP-Präsident Markus Hürlimann beschuldigt, die Grünen-Grossrätin Jolanda Spiess-Hegglin an einer Feier in Zug unter K.O.-Tropfen gesetzt und vergewaltigt zu haben. Der Fall und das laufende Verfahren hatte einen immensen Medien-Rummel ausgelöst.

Spiess-Hegglin ging nach eigenen Worten „durch die Hölle“; Hürlimann ist in Folge von seinem Amt als Präsident der SVP des Kanton Zug zurückgetreten.

Dass Giacobbo und Müller sich dem bisher ungeklärten Fall (und grandiosen Boulevard-Stoff) annehmen, wenn eine Grüne Politikerin bei ihnen zu Gast ist, war also absehbar. Die Zuschauer mussten auch nicht lange warten: Giacobbo sprach über mögliche Koalitionsbestrebungen der Grünen und gibt mit dem Satz „Ich habe gehört, (…) im Kanton Zug gäbe es gewisse Kopulations —äh—Koalitionsverhandlungen mit der SVP“ eine Steilvorlage. Trede kontert mit „Also, ich würde da nicht von Verhandlungen sprechen!“ und lenkt das Gespräch wieder aufs Politische.

Giacobbo geht in die nächste Runde: „Mit K.O-Tropfen auch nichts? Also die SVP zum Beispiel mal … Nicht einen zurückgeben? Die SVP unter K.O.-Tropfen setzen zum Beispiel?“ Hier lenkt Trede ein: „Die Diskussion ist so etwa ‚Ach, die Grünen, die sind immer so langweilig ‚, und jetzt geht mal etwas ab und es ist auch nicht gut“, so die 31-Jährige. Sie lacht und auch das Publikum lacht los. Giacobbo doppelt nach: „Also zumindest der Herr Hürlimann findet nicht mehr, dass die Grünen langweilig sind.“

Giacobbo/Müller ist eine Satiresendung. Über die Frage, was Satire darf und was nicht, wurde in letzter Zeit heftig debattiert. Dass Giacobbo den Vergewaltigungsfall thematisiert, ist zwar für einen öffentlich-rechtlichen Sender schon eine harte Nummer, aber rechtlich gesehen in Ordnung. Ob die Kommentare geschmacklos waren, ist eine andere Frage. Und ob ein mögliches Vergewaltigungsopfer eine geeignete Zielscheibe ist, lässt Raum für Grundsatzdiskussionen.

Was mich aber wirklich schockiert, ist die Art, wie Trede mit der Diskussion umgeht. Denn selbst wenn sie sich in einer Satire-Sendung befindet, ist sie in erster Linie Politikerin und Volksvertreterin. Dass Trede und Spiess-Hegglin Parteikolleginnen sind, macht das Ganze noch fragwürdiger.

Das Gespräch geht weiter zum Grüne-Politiker Jo Lang, der vor ein paar Jahren nach Bern gezogen ist. Giacobbo bleibt auf Kurs: „ Aber der Jo Lang ist extra vom Kanton Zug auf Bern gezogen. Wenn er das gehört hätte in Zug, wäre er wahrscheinlich gern geblieben.“ Die Aussage suggeriert, dass es Lang am Ort der möglichen Vergewaltigung gefallen hätte.

Statt sich in der ganzen Schlammschlacht irgendwie vernünftig zu positionieren, amüsiert sich Trede sichtlich über die Vergewaltiger-Witze.

Am Ende der Sendung thematisiert Giacobbo Tredes—übrigens löblich transparenter—Umgang mit Gratulationen und Geschenken von Firmen wie der Crédit Suisse und dem Schweizerischen Bauernverband. Schliesslich fragt Giacobbo, ob Trede denn nochmals in die Show kommen möchte; schliesslich sei er bestechlich. Die Antwort der Parlamentarierin? „Ich habe sonst meine K.O.-Tropfen dabei.“

Ich weiss nicht, ob Trede von der Situation dermassen überfordert war und deshalb so reagiert hat. Ich wünsche es mir. Denn eine mögliche Vergewaltigung ist nicht „schlüpfrig“ und bis der Fall Geklärt ist, sollte—zumindest von der Politikerin in der Runde—respektvoll damit umgegangen werden.

(Erschienen auf vice.com, Februar 2015. Bild: Screenshot SRF)

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Die stärkste Zeitung der Schweiz und Sexismus: ein offener Brief an Blick.ch-Chefredaktor Rüdi Steiner und People-Ressortleiter Dominik Hug

Warum ich nicht weiter bereit bin, die frauenfeindliche Berichterstattung des Blicks als journalistische Norm zu akzeptieren.

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Lieber Rüdi Steiner, lieber Dominik Hug

Am 10. April 2015 publizierte eine Blick.ch-Schreibkraft unter Ihrer Verantwortung einen Artikel mit dem Titel «Vaginal-Tabletten in Frieda Hodels Kühlschrank: Fieses Souvenir vom ’Bachelorette’-Dreh?» In den darauffolgenden 1400 Zeichen stellen Sie die 31-Jährige auf vernichtende Weise bloss. Sie machen sich über ihre Gesundheit lustig und unterstellen ihr, es auf dem Set womöglich etwas zu bunt getrieben zu haben.

Eins vorweg: Im Laufe ihres Lebens leidet beinahe jede Frau mindestens einmal an einer Vaginalmykose, die zu den häufigsten genitalen Infektionen gehört. Fast jede gesunde Frau besitzt die Erreger in ihrem Intimbereich. Für den Ausbruch gibt es oft psychosomatische Faktoren. Hormonelle Schwankungen wie Schwangerschaft, Wechseljahre oder das Einnehmen der Pille führen ebenfalls oft zu einer Erkrankung. Zu den gängigsten Arten gehört der Scheidenpilz nach der Einnahme von Antibiotika. Manchmal reicht auch nur ein Tag im Hallenbad, um die Vaginalflora aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wechselnde Sexualpartner sind hingegen bloss eine von vielen Ursachen.

Die Unterstellung «Souvenir vom Bachelor-Dreh» ist ein Paradebeispiel für Body- und Slut-Shaming, das in der heutigen Boulevard-Kultur oft und gerne betrieben wird. Indem Sie solche Artikel publizieren, geben Sie Lesern wie Lionel Werren eine Steilvorlage: «Was solls, das kommt vom rumbumsen. Ist nur menschlich ääh weiblich [sic!]», so sein Online-Kommentar.

Lassen Sie uns doch mal kurz die Richtlinien des Schweizer Presserates repetieren.

Absatz 7: «[JournalistInnen] respektieren die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt.»

Ich finde nicht, dass ein Scheidenpilz Bestandteil des öffentlichen Interesse ist. Auch hier gehört der oft gehörte Oxford-Satz zitiert: Viel zu oft wird «the public interest» (das kollektive öffentliche Interesse) mit «the public’s interest» (der Neugier des Pöbels) verwechselt. Die «stärkste Zeitung der Schweiz» sollte sich dessen bewusst sein. Ums etwas verständlicher zu formulieren: man muss nicht jeden Scheiss bringen, nur weil ein paar gelangweilte Menschen derart darauf aufspringen.

Absatz 8: «[JournalistInnen] respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche (…) das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten (…) zum Gegenstand haben.»

I rest my case. JournalistInnen sichern den öffentlichen Diskurs. Jedoch hat die Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit den Vorrang vor jeder anderen.

Ich erhielt auf meinen Facebook-Kommentar zu Ihrem Artikel eine Schwemme von Mails. Von Männern, die den Artikel daneben fanden. Von Frauen, die sich bedankten, dass solche Missstände angesprochen werden. Und von Geschlechtsgenossinnen, die mir prompt ein paar Bilder aus ihrem Kühlschrank und Medizinschränkchen sendeten (siehe unten, ZVG). Wir sind Team Frieda.

Und wir sind uns einig: Die Art, wie über den weiblichen Körper berichtet wird, muss aufhören. Der weibliche Körper ist kein Objekt. Er ist ein Körper. In den meisten Fällen nicht das, was Sie unter perfekt verstehen. Sondern lebendig und menschlich. Mit Krankheiten. Blutungen. Cellulite. Schamhaaren. Schwangerschaftsstreifen. Narben. Nichts davon gibt Ihnen das Recht, so über ihn zu schreiben.

2010 hat die Blick-Gruppe den Hängebusen der frischgebackenen (und wirklich wunderschönen) Mutter Ladina Blumenthal zum BaA-Titelblatt gemacht. Body-Shaming scheint bei Ihnen Tradition zu haben. Vielleicht wäre es mal an der Zeit, einen neuen Kurs einzuschlagen.

Der weibliche Körper ermöglicht uns Frauen, Studienabschlüsse zu machen. Er trägt uns auf Reisen um die Welt herum. Er kann Kinder gebären. Er lässt uns sexuelle Befriedigung verspüren. Er ist stark genug, fünf Jahre länger als ein männlicher Körper zu überleben.

Er verdient Respekt. Auch von Ihnen.

Freundliche Grüsse, eine Gruppe um Anne-Sophie Keller

(Erstmals publiziert auf meinem alten Blog, April 2015. Bild: ZVG)

Nachtrag Dezember 2015: Der Text wurde über 45’000 Mal gelesen und auf dem deutschen Bildblog zitiert. Der Presserat hat meine Beschwerde in einem ausführlichen Bericht teilweise gutgeheissen.

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Bienvenue chez les Romands

Zwei Orte, zwei Kantone, zwei Sprachen und dazwischen ein Fluss als Trennlinie: Christof Berner aus Erlach und Pierre Stamm aus Le Landeron erzählen von Annäherungsversuchen an der Sprachgrenze.

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Die Strassen heissen Märit oder Spittelgässli, im Bistro Bärengraben bestellen Wanderer ein Egger-Bier, im Clubhaus trifft sich der Schützenverein: Das Städtchen Erlach BE am westlichen Fuss des Bielersees könnte einem bernischen Bilderbuch entstammen.

Doch fährt man dem See entlang Richtung Norden und überquert dabei die Zihl, tun sich neue Welten auf: «Bienvenue! Willkommen!» steht dort zweisprachig unter der Ortstafel von Le Landeron NE. Die Rue de la Croix führt direkt in die malerische Vieille Ville. Auf der Speisekarte des Restaurants Hôtel de Nemours stehen Schnecken und ein Absinth-Soufflé, daneben spielen ältere Herren Pétanque, und an der Zihl, die hier Thielle heisst, grüsst man sich mit Bonjour statt Grüessech. Der Kanal, der den Bieler- mit dem Neuenburgersee verbindet, markiert hier die Kantonsgrenze Bern/Neuenburg und trennt somit auch die Deutschschweiz von der Romandie.

Auf den zweiten Blick sieht man: Die Grenze ist weich. Das fängt bei Pierre Stamm (58) an, dem Dorfmetzger in Le Landeron: Sein Grossvater stammt aus Schaffhausen. Dass man Deutsch lernt, ist für ihn also selbstverständlich. «Es ist schade, dass das ökonomische Interesse für Englisch so gross ist. Zum Zusammenleben ist die jeweils andere Landessprache enorm wichtig», sagt Stamm. Doch die Romands hätten oft Angst, sich zu exponieren und sich auszudrücken. «Viele Generationen haben unter extremem Druck Deutsch lernen müssen. Das hat Spuren hinterlassen.» Man müsse sich halt etwas öffnen.

Integration in der Schule

Eine gewisse Offenheit gegenüber denen «ännet em Grabe» bestätigt auch Christof Berner (31). Er ist Gemeindeschreiber von Erlach und im Städtchen geboren. «Ich erlebe die Gegend hier als sehr durchmischt – auch politisch. Hier, an der Grenze, möchten wir den aktiven Austausch vorleben.» Das fängt früh an: Das 10. Schuljahr wird in der benachbarten Gemeinde gemacht, und im 3. Lehrjahr tauschen die Betriebe für einen Monat die Lehrlinge aus. Darüber hinaus hat das welsche Flair einen gewissen Charme: «Ich verbringe meine Freizeit gern in der Westschweiz», sagt Berner, «die Mentalität der Romands ist einfach anders und viel lockerer.»

Dass die Schweiz sich allmählich auch gegen innen öffnet, spürt man ebenfalls in Le Landeron: So will das Dorf demnächst die historische Partnerschaft mit Solothurn ausbauen. Die Annäherung ist nicht nur an den Ufern der Zihl spürbar: In der welschen Gemeinde Bas-Vully FR ist die Deutschschweizer Minderheit stark gewachsen. Und in Gals BE südlich des Zihlkanals ist mittlerweile rund ein Drittel der Gemeinde frankophon.

Doch ganz konfliktfrei ist das Zusammenleben in Gals nicht immer: Im Sommer 2012 sollen die Romands die Gemeindeversammlung geschwänzt haben, weil dort nur Berndeutsch gesprochen wurde. Mittlerweile konnte man sich auf Hochdeutsch einigen.

(Erschienen im Migros-Magazin, Mai 2015. Bild: Salvatore Vinci)

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