Wie man Kindern die Flüchtlingsnot erklärt

In ihrem Kinderbuch «Die Flucht» beschreibt die Zürcher Illustratorin Francesca Sanna die Odyssee einer Flüchtlingsfamilie. Das preisgekrönte Werk vermittelt Kindern einen altersgerechten Zugang zur Flüchtlingskrise.

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Eine zerbombte Stadt, eine entwurzelte Familie, eine Flucht ins Unbekannte: nicht unbedingt ein Thema, das sich dafür eignet, in einem Kinderbuch verarbeitet zu werden. Doch die Grafikerin Francesca Sanna hat genau das gemacht. In ihrem illustrierten Buch «Die Flucht» erzählt die 25-Jährige die Odyssee einer Familie, die vor dem Krieg in ihrem Land flüchten muss. Das Buch ist zugleich Sannas Masterarbeit in Design mit Spezialisierung auf Illustration an der Hochschule Luzern.

Sanna wurde auf Sardinien geboren, zog mit 20 für ein Praktikum nach Deutschland. Heute lebt sie in Zürich und arbeitet als freischaffende Illustratorin für verschiedene Publikationen. «Als ich Italien verliess, war ich ebenfalls eine Migrantin und im kleineren Rahmen mit kulturellen, sprachlichen und administrativen Problemen konfrontiert. Deshalb wählte ich für meine Abschlussarbeit das Thema Immigration», sagt die Grafikerin.

Auch die Gespräche am Familientisch und die politischen Diskussionen zu Hause in Sardinien hätten sie für das Thema sensibilisiert. «Fragen wie: Warum sollen wir diese Leute aufnehmen? Und warum haben alle ein iPhone? Wir haben keinen Platz, kein Geld, und selber Wirtschafts­probleme – solche ­Diskussionen werden in meiner Heimat leider seit Jahren geführt.»

Sanna wollte aber nicht von Nummern sprechen, sondern von Menschen. Also traf sie sich in Sardinien und Basel mit 15 Geflüchteten, die ihr ihre Geschichten anvertrauten. Die Gespräche fanden auf Englisch statt, eine Fremdsprache für beide Seiten. «Das hat uns irgendwie verbunden. Ich merkte sehr schnell, dass es eine Geschichte gibt, die erzählt werden muss. Und dass Mitleid nicht der richtige Weg ist, weil es Distanz schafft.»

Der Anfang war wie so oft das Schwierigste. «Wie erkläre ich etwas, für das es keine vertretbare Erklärung gibt? Ich fragte mich oft, wer ich denn bin, dass ich mir anmasse, diese Geschichte zu erzählen.» Der ganze Prozess dauerte über zwei Jahre. Jahre, in denen die Flüchtlingsthematik den öffentlichen Diskurs dominierte.

Das Buch soll Kindern helfen, einen altersgerechten Zugang zu diesem Thema zu finden. Anders, als es durch die mediale Berichterstattung geschieht, die Kinder meist ungefiltert konsumieren. «Wir wissen, warum die Leute flüchten. Und wir diskutieren viel darüber, wie wir die Menschen hier unterbringen. Dazwischen gibt es einen grossen grauen Bereich», sagt Francesca Sanna. Die Flucht sei aber ein kraftvolles Element: «Es zeigt die Überzeugung, die Stärke dieser Menschen. Normalerweise sehen wir Flüchtlinge in einer passiven, hilfesuchenden Rolle.»

Die ersten Maquetten habe sie den Kindern von Freunden gezeigt, sagt Sanna: «Sie haben viele Fragen zur Flüchtlingsnot gestellt. Sie wollten mehr wissen. Etwa, wer diese Leute sind, warum ihnen so etwas Schlimmes passiert. Dieses Feedback war sehr hilfreich.»

In der endgültigen Version ihres Buchs hat die Illustratorin einiges ausgelassen. «Es gibt fiktive Charaktere, die die Gesellschaft allgemein verurteilt», sagt Sanna. «Etwa die Schlepper. Das sind Kriminelle, die vom Leiden der Flüchtlinge finanziell profitieren. Doch oft sind die Leute den Schleppern für die Fluchthilfe dankbar. Diese Problematik war eine grosse Herausforderung innerhalb der Geschichte.» Schliesslich wurde der Schlepper im Buch ein abstraktes, monsterähnliches Wesen, das übermächtig ist, Familien auseinanderreisst und nicht fassbar ist.

Ob es ein Happy End gibt oder nicht, ist der Sicht des Lesers überlassen; Sanna hat sich bewusst für einen offenen Schluss ­entschieden: «Während des Entstehungsprozesses wurde die Flüchtlingskrise zunehmend präsenter. Grenzen wurden geschlossen, Camps geräumt – die Ereignisse überstürzten sich. Ich musste das Ende meiner ­Geschichte offenlassen, weil es auch in der Realität noch kein Ende gibt.» Ob die Familie am Ziel ankommt, bleibt also offen.

Francesca Sannas Arbeit hat sich gelohnt. Im November 2015 kam ein Anruf der renommierten Society of Illustrators New York. «Die Flucht» gewann die Goldmedaille in der Kategorie Buch – den Oscar der Illustratoren­branche. «Das war der beste Anruf meines Lebens. Im Februar flog ich für die Preisverleihung nach New York. Meine ganze Familie reiste mit. Sehr italienisch.» Die Medaille hängt nun in ihrem Zürcher Atelier. Und die nächste Anerkennung folgt schon bald: Eine international tätige Non-Profit-Organisation will Sannas Buch in englischen Schulen verteilen.

Das Buch «Die Flucht» erscheint am 19. Juli im Zürcher NordSüd-Verlag und ist ab dem 25.Juli für Fr. 23.90 bei Ex Libris erhältlich.

(Publiziert im Migros-Magazin, Juli 2016. Porträtbild: Anne Gabriel-Jürgens / Bilder: zVg)

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Chansonnière Zaz über Paris, Terror und das Glücklichsein

Zaz singt über Liebe, Freiheit und Lebenslust. Am 10. August steht die derzeit erfolgreichste Vertreterin des Nouvelle Chanson auf der Bühne des «Stars in Town» in Schaffhausen. Im Interview spricht sie über ihre exzessive Seite, die Liebe zu Paris, den Terror, ihr soziales Engagement und das Glücklichsein.

Zaz, seit Sie berühmt sind, werden Sie als neue Édith Piaf bezeichnet. Nervt Sie dieser Vergleich?
Nein, gar nicht. Er ist sehr schmeichelhaft. Piaf war eine grosse Sängerin, die auf der ganzen Welt bekannt war. Sie ist eine Ikone. Inspiriert haben mich jedoch nicht primär die französischen Musiker, sondern Weltmusik, lateinamerikanische Musik, wie die von Chucho Valdés oder Künstler wie Jimi Hendrix, Ella Fitzgerald und die Rapperin Lauryn Hill.

Sie haben als Sängerin einer Latin-Rockband und beim Pariser Cabaret «Aux Trois Mailletz» angefangen. Nun singen Sie jazzige Chansons. Sind Sie ein musikalisches Potpourri?
Alles, was ich probiert oder erlebt habe, beeinflusst mich. Jedes Lied, das ich gehört, und jeder Mensch, den ich getroffen habe, haben mich in irgendeiner Weise geprägt. Ich habe viele verschiedene Dinge ausprobiert und auch lange Strassenmusik gemacht. Sie ist immer noch ein grosser Teil von mir. Ich mag viele verschiedene Musikarten und könnte mich gar nicht ­festlegen. Wenn ich ein Lied schreibe, fokussiere ich mich auf den Rhythmus und den Text. Der Rest kommt von allein. Und der Stil bildet sich dann daraus. Da gibt es kein Konzept.

Für den Kinofilm «Hugo Cabret» von Martin Scorsese und den französischen Kinofilm «Belle et Sébastien» haben Sie je ein Lied beigesteuert. Was fasziniert Sie am Kino?
Die Geschichten, die Musik, die Bilder, die Emotionen, alles. Ich liebe das Kino, weil es einem ermöglicht, vollständig in eine Geschichte einzutauchen. Nirgends gibt es so viele Emotionen. Ich habe im Kino immer das Gefühl, selber im Film zu sein und diese Geschichte zu leben. Man ist dann völlig weg. Das regt einen zum Nachdenken an.

Wäre das Schauspiel ein möglicher Plan B?
Ich habe schon Angebote für Filme oder auch Theaterrollen bekommen. Namen nenne ich keine, aber es gab vieles, das mir gefallen hat. Leider hat bis jetzt nichts geklappt.

Woran liegt das?
Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch. Wenn ich an etwas den leisesten Zweifel habe, dann mache ich es nicht. Ausserdem fehlt schlicht die Zeit für ein weiteres Projekt. Ich möchte mich in erster Linie auf die Musik konzentrieren.

Sie engagieren sich karitativ. Was treibt Sie an?
Der Wunsch, dass wir die Erde und unsere Mitmenschen mehr respektieren. Wenn meine Band und ich irgendwo ein Konzert haben, kontaktieren wir lokale Projekte und Organisationen, die sich karitativ engagieren. Sie erhalten dann einen Teil unserer Einnahmen. 2017 werden wir ein Netzwerk aus 100 solchen Kooperationen haben. Diesen Sommer organisieren mein Team und ich im französischen Département Drôme ein Festival, wo wir noch unbekannten Künstlern eine Plattform bieten. Ich mache das nicht, weil ich berühmt bin, sondern weil es mich glücklich macht.

Ihr aktuelles Album mit dem Titel «Sur la route» erschien am 30. Oktober 2015. Wann können Ihre Fans mit neuer Musik rechnen?
Bis September bin ich noch auf Tour. Für 2017 habe ich mir vorgenommen, eine kleine Auszeit zu nehmen. Aber ob ich das durchziehen kann, weiss ich nicht. Vielleicht treffe ich in diesem Jahr jemanden, der mich total inspiriert, oder entdecke etwas Spannendes. Dann würde ich natürlich wieder Musik schreiben. Planen kann man so etwas nicht.

Ihr drittes Studioalbum ist Paris gewidmet. Was ist typisch für diese Stadt? Können Sie dieses Lebensgefühl beschreiben?
Wir lieben es auszugehen und essen gerne gut. Wir sind leidenschaftlich, mögen schöne Dinge, Architektur und die Kunst und streiten uns auch. Wir schätzen die Meinungsfreiheit, das Zusammensein und die Poesie. Auf der anderen Seite gibt es in Paris die graue Realität von «Métro, boulot, dodo» – also «U-Bahn, Arbeit, Schlafen» – und das wiederholt sich jeden Tag. Es gibt in der Stadt viele Menschen, die nicht dazugehören. Für mich persönlich ist Paris ein Traum. Das Licht und die Häuser sind unvergleichlich. Eine Sekunde später nervt wieder der Verkehr. Wenn es regnet, ist Paris traurig, aber wenn die Sonne scheint, blüht die Stadt auf. Diese Gegensätze sind genial. Typisch Paris, ist genau dieses alles und nichts.

Nach den Pariser Terroranschlägen im letzten November, twitterten Sie: «Mir ist schlecht, aber niemals, niemals werden sie das Feuer meines Lichts auslöschen.» Wie geht es Ihnen, wenn Sie an diesen Tag zurückdenken?
Ich will nicht mehr an diesen Tag zurückdenken. Ich hatte keine Angst, aber an diesem Tag war ich unglaublich traurig. Es war ein Angriff auf die Menschen, auf die Freiheit, auf die Kunst. Umso mehr will ich intensiv leben, glücklich und frei sein.

Paris hat sehr viel mit Ihnen zu tun; Sie haben als Strassenmusikerin rund um den Montmartre angefangen. Heute stehen Sie auf den grossen Bühnen. Fehlt Ihnen die Intimität von damals?
Nein, die Bühnen, auf denen ich heute auftrete, sind einfach anders. Ich bin kein nostalgischer Mensch, sondern interessiere mich für neue Dinge und habe Lust, sie zu entdecken. Im Gegensatz zu früher habe ich meine Anonymität verloren, das stimmt. Auf der anderen Seite bekomme ich in so vielen Ländern grosse Zuneigung von meinen Fans. Das ist ein Geschenk.

Sie sind in der Schweiz und in Deutschland erfolgreich. Das schaffen nur wenige französischsprachige Künstler. Was machen Sie besser?
Ich weiss nicht, ob ich etwas besser mache, glaube aber, dass es in der Musik etwas gibt, das Sprachgrenzen aufhebt. Ich denke, ich vertrete etwas, das die Leute ­berührt – vielleicht dieses typisch Französische. Diese Anerkennung ehrt mich sehr. Ich kann durch die Welt reisen und in jedem Land ein neues, anderes Publikum kennenlernen. Das ist enorm bereichernd, und dafür bin ich sehr dankbar.

Über das Geheimnis Ihrer Stimme sagten Sie einmal «viel schlafen, viel rauchen, viel trinken». Leben Sie ein Rockstarleben?
(lacht) An diesen Satz kann ich mich nicht mehr erinnern. Nun, heute sieht mein ­ Leben etwas anders aus. Am 1. Mai, meinem ­Geburtstag, habe ich mit dem Trinken und Rauchen aufgehört. Ich bin ein exzessiver Mensch. Für mich gilt: Alles oder nichts. Dieser Entschluss war sozusagen mein Geburtstagsgeschenk an mich selbst, Sorge zu mir zu tragen.

Wie fühlt sich Erfolg an?
Erfolg ist etwas sehr Seltsames. Ich bin eigentlich nur Isabelle, die singt. Für die Fans bin ich Zaz, deren Identität von den Medien geformt wird. Für viele bist du wie ein lebendiges Bild, eine Projektionsfläche. Sie haben eine Meinung über dich. Das ist nicht immer einfach. Wenn man sich zu stark darauf konzentriert, was andere von einem halten, verliert man sich. Man muss für sich selbst leben.

Sind Sie glücklich?
An gewissen Tagen bin ich glücklich, an anderen Tagen nicht. Man kann Gefühle nicht in eine Schublade stecken. Wenn ich glücklich bin, dann manchmal ohne Grund. Wenn ich sehe, wie viel Elend es auf der Welt gibt, werde ich sehr traurig. Was ich aber sagen kann, ist: Erfolg zu haben bedeutet nicht unbedingt, auch glücklich zu sein. Was mich aber immer glücklich macht, ist ein Ausflug in die Berge.

(Publiziert im Migros-Magazin, Juni 2016)

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Junges Blut & traditionsreiches Papier

Der «Pestalozzi-Kalender» begleitet Jugendliche seit Generationen durch den Schulalltag. Das heutige Redaktionsteam um Patrick Savolaien, Regina Dürig und Paul Linsmayer hat die alte Agenda entstaubt und renoviert.

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Das Schicksal des «Pestalozzi-Kalenders» nahm an einem Regentag 1991 eine wundersame Wendung: Pro Juventute hatte soeben die Rechte des Kalenders verkauft und schmiss kuzerhand sämtliche Archivexemplare und Maquetten in eine Mulde. Charles Linsmayer (71) brachte an diesem Morgen seinen Sohn Paul in den Kindergarten. Beim Anblick der Büchlein, die im Regenwasser schwammen, entschied der Vater: Der Kindergarten fällt heute aus! Stattdessen transportierten die beiden die durchnässten Kalender in Tragtaschen nach Hause zum Trocknen und Pressen.

2008 präsentierte Linsmayer seine Sammlung an einer Ausstellung zum 100-Jahr-­Jubiläum des Kalenders – dennoch stellte Orell-Füssli, der neue Verlag, die Produktion ein. Der renommierte Germanist und Literaturkritiker kämpfte weiter. Mit Erfolg: Ein Jahr später erschien die nächste Agenda im Berner Stämpfli-Verlag mit einem neuen Redaktionsteam, zu dem auch sein Sohn Paul (mittlerweile 30) gehört.

«Als Kind kannte ich den Kalender nicht», erzählt Patrick Savolaien, ebenfalls Redak­tionsmitglied der Neuauflage. «Doch nach Charles’ Anruf habe ich mir die alten Agenden angeschaut. Ich war sofort begeistert», sagt der 28-Jährige. Der Berner arbeitet als freier Schriftsteller und Grafikdesigner; die Liebe zu Büchern und etwas Nostalgie überzeugten ihn schliesslich: «Die Papieragenda ist ja nicht mehr wirklich zeitgemäss. So erhält sie wieder einen neuen Charme.»

Der Kalender ist ein wahres Zeitdokument. «Wir wollen der Schweizerjugend ein Buch verschaffen, welches sie in ihren Schularbeiten unterstützt, ihr Wissen erweitert und ihr Verlangen nach Liebhabereien und Spielen befriedigt», heisst es in der Einleitung der ersten Ausgabe von 1907. Auf dem Cover der zweiten Ausgabe war das Konterfei des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi abgebildet – seither sprach man vom «Pestalozzi-Kalender». Das Konzept: 120 Seiten, darunter Tabellen mit Schulwissen, Wettbewerbe, Rätsel, Spiele, Kunst, Magazintexte sowie das jeweils aktuelle Bundesratsfoto. Schülerinnen und Schüler verteilten die ersten Ausgaben auf Zürcher Pausenplätzen.

Ein internationales Erfolgsprodukt

Es war der Start einer Erfolgsgeschichte. Ab 1909 erschien die Westschweizer Ausgabe und 1918 der Tessiner «Calendrario Pestalociano». In den besten Zeiten wurde der Kalender bis zu 100’000-mal pro Jahr verkauft. Er wurde auch in verschiedenen europäischen Ländern und in Argentinien publiziert. Und zur Zeit des Nationalsozialismus war der Kalender im Dritten Reich erhältlich: mit einem Hakenkreuz auf dem Cover und Kriegspropaganda zwischen den Buchdeckeln.

Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts geriet der Kalender immer wieder unter Druck: 1970 verschwand die französische Ausgabe vom Markt, 1972 der Tessiner Ableger, 1974 legte Pro Juventute die Mädchen- und Knabenausgaben erstmals seit 1913 wieder zusammen. Zwischenzeitlich sank die Auflage auf 2000 Stück. Die neue Version ab Mai 2011 wurde zu einer Schüleragenda umfunktioniert. Zur Redaktion gehörten neben Patrick Savolaien und Paul Linsmayer auch die Primarlehrerin Andrea Bertolini und die Radiomoderatorin Elena Bernasconi. 2012 stiess die Autorin Regina Dürig (33) hinzu.

Die aktuelle Ausgabe ist dem Thema Umweltschutz gewidmet. «Ein Anliegen, das der Redaktion besonders am Herzen liegt», sagt Dürig. «Ich versuche, meine Garderobe aus Kleidern und Schuhen von kleinen Herstellern zusammenzustellen.» Patrick Savolaien hat ein Gemüseabo von befreundeten Biobauern, während sich Paul Linsmayer bereits bei den Zürcher Grünen politisch mit Umweltthemen beschäftigt hat. In der Agenda gibts auf jeder Seite Umwelttipps. Auf den letzten Seiten folgen redak­tionelle ­Texte – etwa ein Interview mit ­Umweltministerin Doris Leuthard, eine Reportage über den Alpsommer sowie ein Bericht über eine Tierkommunikatorin.

Am 20. Mai stellt die Redaktion ihre Agenda im Zürcher Kaufleuten vor. Mit dabei sind der Berner Rapper Greis und alt Bundesrat Moritz Leuenberger.
Apropos: Das aktuelle Porträt der Landesregierung hat auch in der neukonzipierten Agenda seinen festen Platz. Nicht bloss aus Traditionsgründen, wie Paul Linsmayer sagt, «auch weil das Bundesratsfoto jedes Jahr amüsanter wird».

(Publiziert im Migros-Magazin, Mai 2016. Bild: Remo Nägeli)

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Adolf Ogi im Interview

Adolf Ogi gilt als «Vater der Neuen Eisenbahn-Aplentransversale». Zur Eröffnung des Gotthardbasistunnels erinnert sich der Kandersteger alt Bundesrat an den harten Kampf um das Tunnelnetz, aber auch an lustige Begebenheiten wie seine legendäre Tannenbäumli-Rede. 

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Adolf Ogi, wir sitzen im Büro Ogi. Was passiert hier?
Ich erhalte jeden Tag grosse Mengen an Korrespondenz: Anfragen, Wünsche, Ratschläge, Einladungen. Jemand muss das alles bewältigen, dafür habe ich eine Sekretärin eingestellt. Ich hatte völlig unterschätzt, was nach meiner Zeit als Bundesrat an Zuschriften eintreffen würde. Zum Beispiel von Schülern oder Studenten. Dann unterstütze ich diverse Stiftungen, vor allem im Interesse der Jugend.

Was wollen die Leute von Ihnen?
Oft arbeiten sie an einer Diplom- oder Abschlussarbeit. Meistens melden sie sich bei mir, wenn es mit der Neat oder mit Politik zu tun hat. Einige wollen wissen, wie ich als Kandersteger mit einem Primarschulabschluss Bundesrat werden konnte. Der Weg von Kandersteg nach Bern und New York zur Uno und wieder zurück nach Kandersteg – das interessiert offenbar. Auch Sport und die Uno sind sehr beliebte Themen.

Ein zentrales Thema in Ihrem Leben sind Tunnel. Der Gotthard-Basistunnel als Herzstück der Neat wird bald eröffnet.
Schon in den 1950er-Jahren hat Bundesrat Willy Spühler bereits erste Abklärungen für den Tunnel gemacht und die Kommission «Eisenbahntunnel durch die Alpen» eingesetzt. Sie sollte fünf Varianten von neuen Bahnlinien durch die Alpen prüfen. Als Bundesrat Roger Bonvin vor über 40 Jahren Verkehrsminister wurde, studierte er die Empfehlungen der Kommission und fand: Die Schweiz solle ein Transitland sein und dazu bräuchten wir eine integrierte Politik Schienen/Strasse. Dazu gehörte auch der Ausbau der Lötschberg-Bergstrecke auf Doppelspur und der Bau der Gotthardbasislinie. Er beauftragte die SBB mit der Planung. Bundesrat Willi Ritschard setzte eine Kontaktgruppe Gotthard/Splügen ein. Die Vernehmlassung führte zu einer Pattsituation. Es sollte noch ein langer Weg bis zum heutigen Tunnel werden. Vor 30 Jahren kam Bundesrat Leon Schlumpf und sagte, man müsse das Ganze in einen gesamteuropäischen Kontext setzen. Da gab es schon Transitprojekte wie «Lyon–Turin durch den Fréjus» oder «Salzburg–Innsbruck–Brenner–Italien». Schlumpf fand daher, es brauche bei uns nicht dringlich einen Ausbau. Da war vor allem Finanzminister Otto Stich glücklich, der auf seine Kasse achtete.

Dann kam der Ogi. Und erklärte die Verkehrspolitik zur Chefsache.
Genau. Ich spürte, dass ein Zeitfenster offen war. 1988 kam ich ins Amt. 1980 war der Gotthard-Strassentunnel eröffnet worden. Er war zu einem Magneten für den euro­päischen Lastwagenverkehr geworden, und die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) machte viel Druck. Sie wollte eine neue Autobahn bei uns oder einen Ausbau der bestehenden auf sechs bis acht Spuren. Zudem forderten ausländische Fuhrhalter und die EG, dass wir nebst dem Ausbau der Autobahn 40 Tonnen schwere Lastwagen zuliessen und nicht nur die 28-Tonner wie bisher. Wir mussten etwas tun.

Sie haben sich für die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) starkgemacht.
Von 1988 bis 1993 war ich 37 Mal im Ausland bei meinen Verkehrsministerkollegen, um zu sagen: Wir bauen keine Autobahn, wir bauen die Neat. Aber ich redete an eine Wand, berührte die Herzen nicht. Also: Wechsel zur Strategie «Chum und lueg». Ich lud die Verantwortlichen in die Schweiz ein, nach Birrfeld, wo wir den Verlad eines Lastwagens oder Containers auf die Schiene demonstrierten. Anschliessend flogen wir die Gäste mit dem Helikopter nach Wassen, direkt vor die kleine Kirche. Ich sagte: Hier ist die Autobahn, hier die Eisenbahn, hier die Kantonsstrasse, hier die Reuss. Und da ist der Lärm! Es hat keinen Platz für eine zweite Autobahn. Wenn es jemand nicht begriffen hat, hab ich ihn in der Kirche vor dem Kreuz nochmals bearbeitet.

Wer war am zähsten?
Der belgische Politiker Jean-Luc Dehaene sagte: «Tu pourrais mais tu ne veux pas.» Ich sagte: «Jean-Luc, on va prendre le Zvieri à Kandersteg.» Dann flog ich mit ihm im Helikopter nach Kandersteg und vorher zur dunklen, schwarzen Eigernordwand. Dem Piloten sagte ich vorher, er soll ganz nah an die Felswand ran und etwas wackeln. Dann lockerte ich Dehaenes Gurt heimlich. Er fragte, was los sei, er hatte Angst. Ich antwortete: Hier können wir wirklich keine Autobahn bauen. Das war nicht diplomatisch und auch nicht akademisch, aber wirkungsvoll. Von da an war er der beste Vertreter unserer Verkehrspolitik. Dieses Umdenken in Europa brauchte es.

Würden Sie sich das nochmals antun?
Wenn ich gewusst hätte, was da alles auf einen zukommt, und wenn ich alle Details schon damals gekannt hätte, weiss ich nicht, ob ich die Neat nochmals beantragen würde. Die verschiedenen Gesteinsschichten am Gotthard machten Probleme, das Tavetschermassiv, die weiche Piora-Mulde. Es gab Geologen, die sagten, dass der Durchschlag nicht möglich sei. Ich hatte viele schlaflose Nächte und vier Mal Nierensteine.

Aber Sie haben die Neat durchgesetzt.
Ich wollte noch mehr: Bahn und Bus 2000 beenden. Dann das Gleis für den Huckepackkorridor im Lötschberg absenken, damit vier Meter hohe LKWs hindurchkamen. Ich wollte die S-Bahnen fördern und das Nationalstrassennetz fertig bauen. Da bin ich gescheitert, unter anderem im Säuliamt. Es gab viele Einsprachen und ­Beschwerden, allein Tausende für die 48 Kilometer lange Strecke zwischen Mattstetten und Rothrist für die Bahn 2000. Aber ich sagte auch: Ich will den Gotthard und den Lötschberg, gleichzeitig. Klar hatte ich Zweifel, ich musste mich oft selber motivieren. Doch ich wollte dieses Ziel erreichen. Wir hatten lang genug nachgedacht, seit 1950, und der Verkehr nahm zu. Es musste mal jemand sagen: Ja, wir machens. Politisch könnte man es heute wohl nicht mehr durchsetzen, den Gotthard und den Lötschberg gleichzeitig zu bauen.

In wenigen Tagen wird der Gotthardbasistunnel eröffnet. Sind Sie stolz?
Ach, stolz! Das ist doch nicht das richtige Wort. Es ist eine ungeheure Leistung des Schweizervolks. Es musste dieses 23 Milliarden Franken schwere Projekt absegnen. Mit 63 Prozent hat es Ja gesagt. Das war ein grosser Erfolg, damals am 27. September 1992. Dafür musste man Einsatz zeigen, Überzeugungsarbeit leisten, von Basel bis Chiasso, jeden Abend.

Was ist Ihr Programm an den Eröffnungsfeierlichkeiten?
Ich habe eine Einladung und darf an der ­Eröffnung am 1. Juni 2016 teilnehmen.

Nun hat das Stimmvolk gerade dem Bau des zweiten Gotthard-Autotunnels zugestimmt. Was halten Sie davon?
Da bin ich selbstverständlich auf der Linie des Bundesrats: Es ist staatspolitisch richtig. Wir können nicht den Kanton Tessin während Jahren von der Deutschschweiz abschneiden, wir als Land der vier Kulturen und Sprachen, der 26 Kantone. Die Tessiner hätten während der Sanierung des alten Tunnels keine Strassenverbindung zur Deutschschweiz, wenn sich das Stimmvolk anders entschieden hätte.

Dennoch, das Ziel war und ist die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Nach der Eröffnung des Lötschbergs sagten Sie, das sei möglich, wenn man es richtig mache. Wie wär es denn richtig?
Ja, der Lötschberg ist ein grosser Erfolg. 100 Züge fahren jeden Tag durch diesen Tunnel. Und der Gotthard wird dank der Doppelspur ein noch grösserer Erfolg werden. Aber dafür müssen jetzt die nötigen Zufahrtsachsen in und nach Italien und Deutschland gebaut werden, damit die Schiene eines Tages attraktiver ist als die Strasse. Das kostet noch einmal viel Kraft und Innovationswille.

Die Verlagerung auf die Schiene ist kein typisches SVP-Anliegen. Aber Sie haben ja immer eher am linken Rand der SVP politisiert. Können Sie sich heute noch mit Ihrer Partei identifizieren?
Ach was, links! Ich werde die SVP hier nicht kritisieren. Ich bin nicht immer mit ihr einverstanden, das darf auch so sein. Das war mal die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, von dort komme ich her. Ich kenne auch Christoph Blocher sehr gut, wir wurden beide 1979 ins Parlament gewählt. Wir hatten eigentlich immer einen guten Draht zueinander. Wenns mal nicht gepasst hat, trafen wir uns in meiner Heimat Kandersteg, sind zum Blausee gewandert und haben dort Fisch gegessen. Dann hatten wir wieder ein paar Monate Ruhe.

Die SVP hat sich aber in der Zwischenzeit etwas verändert.
Ja, sie hat sich in einer Weise entwickelt, die mir nicht immer Freude bereitet. Aber sie hat nicht alles falsch gemacht. Die Wahlergebnisse vom letzten Herbst zeigen das.

Was bereitet Ihnen politisch Sorgen?
Das Verhältnis zu Europa. Die EU ist in erster Linie ein Friedensprojekt. Wir sind mittendrin und profitieren davon. Doch die EU hat unglaubliche Probleme mit ihren Ländern. Da kann sie sich nicht noch um diejenigen kümmern, die nicht regelmässig mit am Tisch sitzen, wie wir. Ich sage nicht, wir sollten der EU beitreten, aber früher war der Kontakt schon einfacher – zur EU und zu anderen Ländern –, und das Verständnis für uns war grösser.

Sie sind nun 73 Jahre alt. Anstatt sich Sorgen um die Schweiz zu machen, könnten Sie wandern, Ski fahren, das Berner Oberland geniessen. Was treibt Sie an?
Nun, ich habe jetzt grad zwei Monate in Kandersteg gewohnt und dort das Skifahren und Langlaufen genossen. Aber wie gesagt, an jedem Tag kommt Post von Menschen, die etwas von mir wollen. Wenn ich kann, helfe ich gern. Ganz besonders bei den Jungen. Die Jugendlichen von heute sind die Leader von morgen. Auch aus diesem Grund haben wir nach dem Krebstod meines Sohns Mathias die Jugendsport-Stiftung «Freude herrscht» gegründet.

Sport war für Sie immer ein grosses Thema. Was bedeutet er privat für Sie?
Sport ist die beste Lebensschule. Man lernt zu gewinnen, ohne überheblich zu werden, man lernt zu verlieren, ohne in Weltuntergangsstimmung zu kommen. Man lernt zum Beispiel, Schiedsrichterentscheide zu akzeptieren, und übt sich in Teamgeist, Durchhaltewille, Leistungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft. Jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, Fehler zu machen, ohne dass es Konsequenzen hat. Das geht in der Kultur und im Sport. Man erfährt: Wie reagiert mein Temperament, mein Charakter bei einer roten Karte? Oder wenn ich gewinne? Bleibe ich fair?

Sie reden von Fairness. Wie haben Sie den Fifa-Skandal erlebt?
Das ist schlimm. In meiner Zeit als Sportminister verhalf auch ich Josef Blatter zu seinem Posten als Präsidenten. Man hat viel für ihn gemacht, aber er hat es leider versäumt …

Sind Sie enttäuscht von Josef Blatter?
Es ist eine Tragödie. Sein tiefer Fall tut mir leid. Er war im Februar nicht einmal mehr zum Fifa-Kongress eingeladen. Das ist hart und demütigend. Fussball ist sein Leben. Und plötzlich wird er davon ausgeschlossen. Er muss wirklich büssen. Auf der anderen Seite hat er in entscheidenden Momenten offensichtlich den Durchblick verloren und den Rücktritt verpasst.

Seit 24 Jahren ist Ihr «Freude herrscht!» ein geflügeltes Wort. Nervt das langsam?
Nein. Ich wurde viel belächelt. Heute sollte ich Tantiemen für meinen Spruch verlangen. Ich wäre ein reicher Mann. So ein Spruch muss einem zuerst mal im richtigen Moment in den Sinn kommen.

Und die Neujahrsrede 2000 vor dem Tannenbäumli?
Auch dafür muss man zuerst eine Idee haben. Alle Bundespräsidenten vor mir haben aus dem Bundeshaus referiert. Meine Frau sagte: «Geh doch mal raus!» Also habe ich mich mit einem Tannli vor den Lötschbergtunnel gestellt. Zugegeben, die Aufnahme war nicht einwandfrei: Ich musste regelrecht schreien, und vor meinem Gesicht wirbelte der Schnee. Man hätte meinen können, ich hätte Schaum an den Lippen. Doch ich habe sehr viel Zuspruch für die Rede erhalten. Authentisch zu sein, war mir immer wichtig. Die Anerkennung dafür erfahre ich noch heute. Sogar wenn ich in Zürich herumlaufe, sagen die Leute auf der Strasse: «Grüessech, Herr Ogi.»

(Publiziert im Migros-Magazin, Mai 2016. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Yvette Hettinger. Bild: Michael Sieber)

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Zu Hause bei Fremden

Sie wagten das Experiment und nahmen Flüchtlinge bei sich auf. Fünf Schweizer Gastfamilien und ihre neuen Mitbewohner erzählen über Ängste, Erfahrungen und Chancen eines (noch) nicht alltäglichen Zusammenlebens. 

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Als sich die Kinder zum ersten Mal stritten, wussten Alex (47) und Concetta (48) Kästli, dass der ganz normale Familienalltag eingekehrt war. Die Kinder, das sind die leibliche Tochter Anastasia und Said (Name von der Redaktion geändert), ein Flüchtling aus dem Iran. Beide sind 13 Jahre alt. Und beide wären sich normalerweise wohl nie begegnet. Angefangen hat es mit einem Aufruf über das Amt für Soziales, St. Gallen, das auf der Suche nach Pflegefamilien war. Ein Aufruf, der Concetta Kästli nicht mehr aus dem Kopf ging: «Das hat in mir ganz viel ausgelöst. Ich bin schliesslich Seconda.»

Anfang September 2015 reiste die Familie nach Altstätten SG, um Said im Auffangzentrum zu besuchen. «Wir haben zusammen eine Glace gegessen. Er war ganz schüchtern und hat nichts runtergebracht. Aber auch ich war nervös», sagt Anastasia. Mit Chiara (25), die schon ausgezogen ist und selber eine Familie hat, und Fabio (23) hat sie bereits zwei Geschwister. Als Nachzüglerin freute sie sich über den neuen Bruder und hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen. Damit war sie nicht allein. «Ich habe Said beim Abschied umarmt», sagt Vater Alex Kästli. «Das ist sonst nicht meine Art. Aber es fühlte sich richtig an. Ich sagte ihm, dass wir uns, wenns geht, wiedersehen.» Auch Said hatte nach der Begegnung ein gutes Gefühl: «Im Auffangzentrum hatte ich Heimweh und vermisste meine Familie. Meine Mutter und Schwestern leben noch im Iran, mein Vater ist in Afghanistan gestorben.» Zusammen mit seinem Onkel gelangte Said im Schlauchboot einer Schlep­per­bande nach Griechenland. Über die Balkanroute erreichten die beiden die Schweiz. Sein Onkel wurde in Luzern untergebracht.

Schlaflose Nächte

Said traf Ende September 2015 mit einem Betreuer in Degersheim SG bei der Familie Kästli ein. Vor seiner Ankunft hatte die Familie das Gästezimmer für ihn eingerichtet. In der ersten Nacht im neuen Zuhause schlief er schlecht. «Er hat ständig geredet. Ich lag hellwach und habe mir furchtbare Sorgen gemacht», sagt Concetta Kästli. «Mein Mutterinstinkt war sofort aktiviert.» Said musste sich an die neue Umgebung gewöhnen. Ausser durchlöcherte Kleider besass er nichts. Ein Stapel neuer Kleider lag für ihn parat.

Inzwischen spielt Said im Junioren-Team des FC Degersheim, einem klassischen Multikultiverein. In der Schule besucht er eine Integrationsklasse. Wie lange er bei den Kästlis leben wird, ist derzeit noch ungewiss. Für sie gehört er aber bereits zur Familie: «Wir wollen ihn nicht integrieren, und dann wird er uns weggenommen. Dass er ein Pflegesohn ist, macht für uns keinen Unterschied. Er ist ein Teil von uns.»

Minderjährig und auf der Flucht

Said hatte das Glück, mit seinem Onkel auf der Flucht zu sein. Immer grösser wird die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen (UMA), die Richtung Norden unterwegs sind. 2378 UMA stellten letztes Jahr ein Asylgesuch in der Schweiz. 2014 waren es noch 794. In St. Gallen kommen unter 14-Jäh­rige in Pflegefamilien; die Älteren sind im Zentrum Thurhof untergebracht. Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren will demnächst Empfehlungen für die Unterbringung und Betreuung von UMA vorlegen.

In Basel dürfen Gastfamilien seit Ende Dezember UMA bei sich aufnehmen. Denn die 15 Plätze im Basler Wohnheim für minderjährige Flüchtlinge waren schnell weg. Die Sozialhilfe Basel-Stadt sucht seither in Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugenddienst Unterkünfte. Mit der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG) hat die Sozialhilfe zudem eine Kontaktstelle geschaffen, die es auf einfache Art erlauben soll, Flüchtlinge aufzunehmen. Sabine (57) und Benedict (58) Schubert haben von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Und sind ungebremst in die neue Lebenssituation reingerutscht.

Am 14. Dezember 2015 nahmen die Religionspädagogin und der Pfarrer mit der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Kontakt auf. Noch am selben Tag fragte die Gesellschaft, ob eine Kontaktperson vorbeikommen könnte. Als Verantwortliche eines Wohnheims für 25 Studierende im Auftrag der ­Stiftung Theologisches Alumneum in ­Basel und Eltern von vier erwachsenen Kindern sind sich die Schuberts Betrieb gewohnt. Auf die Situation mit den zwei Flüchtlingsbuben hätte sie dennoch niemand vorbereiten können: Zu vieles war unbekannt.

Überforderung und Überzeugung

Sabine Schubert

«Fünf Tage nach unserem Gespräch mit der GGG, also am 21. Dezember, wurden die Brüder H. (14) und K. (16) aus Afghanistan bei uns abgegeben», erzählt Sabine Schubert. Das sei ihr Weihnachtsgeschenk gewesen. Unterstützt wird das Paar von einer Juristin der GGG, einer offiziellen Beiständin des Kinder- und Jugenddienstes sowie einer Kontaktperson bei der Pflegeeltern-Bewilligungsbehörde. Auch das Sozialamt Basel-Stadt wird bei administrativen Belangen miteinbezogen. Zudem wurde der Familie ein Hausarzt zugewiesen. Über die Feiertage sei es jedoch schwierig gewesen, die richtige Unterstützung zu finden. Mittlerweile funktioniere das Zusammenspiel mit den Ansprechpersonen.

Aber der Flüchtlingsansturm überfordere immer noch alle. «Die Flüchtlinge selbst, die Behörden, uns Gasteltern, die Politiker, die Gesellschaft. Darum müssen wir umso mehr zusammenarbeiten», sagt Sabine Schubert. Klar sei, dass man es als Familie nicht allein schaffe, «es braucht ein Umfeld, das einen stützt».

Der Anfang war hart. «Man merkte den Buben die Rastlosigkeit an. Sie schliefen oft in den Kleidern. Als hätten sie Angst, am nächsten Tag gleich wieder aufbrechen zu müssen. Wir schauen nun von Tag zu Tag, ob es für beide Seiten lebbar ist. Haben die Kinder Raum zum Atmen? Mehr braucht es im Moment gar nicht.» Inzwischen sei es möglich, eine Tagesstruktur zu leben: zusammen aufstehen, zusammen essen, am Abend einen Tee trinken. Im Februar waren die Buben in einem Skilager der Kirchgemeinde mit dabei. Mit ihren Pflegeeltern haben sie täglich via SMS kommuniziert. Die Sprache: Smileys und Icons. Sie funktioniert.

Irgendeine Angst begleitet beide Seiten immer. Die Angst, Fehler zu machen. Die Angst, an Grenzen des Verstehens und der Kraft zu kommen. Doch die Angst schafft auch Nähe. Als Pflegeeltern ist es für Sabine und Benedict Schubert in erster Linie wichtig, den Buben verständlich zu machen, dass sie willkommen sind. Der Anfang sei «unschweizerisch undurchdacht» gewesen. So wäre mehr Zeit für die Vorbereitung hilfreich gewesen. Sabine Schubert resümiert: «Wir machen es nicht perfekt, wir machen es einfach.»

Eine junge Idee macht Schule

Die teilweise schwierigen Umstände bei der Familie Schubert in Basel zeigen: Ein Erfahrungsschatz in der privaten Unterbringung von Flüchtlingen wird erst allmählich aufgebaut. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe rief im Oktober 2013 erstmals dazu auf, Flüchtlinge bei sich aufzuneh­men. Es meldeten sich 150 Personen für das Projekt «Gast­geber sein». Im März 2015 fand dann der erste Asylsuchende in der Romandie einen Platz bei einer Familie. Mittlerweile verweisen die Sozialdepartemente der Kantone Aargau, Bern, Waadt und Genf interessierte Private an die Flüchtlingshilfe. Die Suche nach geeigneten Flüchtlingen übernimmt der Kanton, der als Betreiber der Unterkünfte weiss, wer infrage kommen könnte. Die Flüchtlingshilfe koordiniert schliesslich die Unterbringung.

Geduld ist gefragt

Allgemein trägt das Staatssekretariat für Migration die Verantwortung für das schweizerische Asylverfahren. Es betreut die Empfangs- und Verfahrenszentren, wo Asylsuchende ihr Gesuch einreichen. Letztlich liegt es in der Verantwortung der jeweiligen Gemeinden, Unterkünfte für zugewiesene Flüchtlinge zu finden.

Während das Projekt anfangs mit bürokratischen Hürden kämpfen musste, konnten die administrativen Abläufe mittlerweile etwas vereinfacht werden. Interessierte müssen sich aber nach wie vor zwei bis drei Monate gedulden, bis eine konkrete Anfrage für die Unterbringung eines Flüchtlings eintrifft. Eine Vielzahl von Ansprechpartnern behindert oft eine rasche Abwicklung. Eine nationale Regelung zur privaten Unterbringung gibt es nicht. Im Kanton Freiburg lancierte etwa eine Bürgergruppe eine Hotline, über die Angebote deponiert und an die Kantone weitergeleitet werden können. In Basel-Stadt erlaubte die Sozialhilfe das Thema Privatunterbringung im Dezember 2015. Zürich liess auf sich warten: Der Stadtrat lancierte im Herbst 2015 ein Gastfamilienprojekt, um die private Unterbringung von Flüchtlingen zu ermöglichen. Laut der Asylorganisation Zürich haben sich bereits Personen gemeldet, die bereit wären, Flüchtlinge bei sich ­aufzunehmen.

Pionierarbeit im Aargau

Marie-Theres und Alois Kaufmann mit Milad Kourie und Merna Ablahad und deren zwei Söhne

In der Deutschschweiz hat das Ehepaar Kaufmann aus Sins AG mit der privaten Flüchtlingsunterbringung Pionierarbeit geleistet. «Wir waren die erste Familie in der Deutschschweiz und die zweite überhaupt in der Schweiz, die Flüchtlinge aufgenommen hat», sagt Marie-Theres Kaufmann (75) mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit. Das Medieninteresse, das ihr Fall auslöste, versteht sie nicht wirklich: «Unsere vier Söhne sind längst ausgezogen. Das obere Stockwerk stand also schon längere Zeit leer. Als wir die Broschüre der Flüchtlingshilfe erhielten, war der Fall für uns klar.»

Am 1. April 2015 zog das syrische Ehepaar Milad Kourie (35) und Merna Ablahad (26) mit Sohn Elias (2) ein. Vor dem Krieg geflüchtet ist das junge Paar sehr früh, vor drei Jahren, und noch mit dem Flugzeug. Mittlerweile leben sie zu viert in der Schweiz: Im November kam Lucas zur Welt. Das Kindergeschrei stört die Kaufmanns keineswegs – im Gegenteil: «Wenn die Kleinen herumspielen, ist das sehr schön. Es ist dann nicht so still im Haus», sagt Marie-Theres Kaufmann. Auch die Nachbarn zeigten grosses Verständnis für die Zuzügler: «Obwohl wir hier in einem rechtsbürgerlichen Umfeld leben, haben wir nur Anerkennung und Unterstützung erfahren», stellt Alois Kaufmann (76) fest.

So kann Milad Kourie beim Goldschmied im Dorf arbeiten. Die Beschäftigung tue ihm gut. «In Syrien habe ich 16 Jahre lang als Goldschmied gearbeitet», sagt er. Eine Anstellung liegt für das Geschäft aus finanziellen Gründen nicht drin, doch der kulturelle Austausch ist für beide Seiten wertvoll. Kourie hofft nun auf einen baldigen Eintritt ins Erwerbsleben und den Schritt in die Unabhängigkeit.

Integration durch Arbeit

Wenn erwachsene Flüchtlinge bei privaten Gastgebern leben und diese sie in den Alltag und in die Regeln des Zusammenlebens einführen, sollten sie nach einem Jahr genug integriert sein, um – falls die Möglichkeit ­besteht – in eine eigene Wohnung zu ziehen und zu arbeiten. Je nach Kanton dürfen Asylsuchende oder vorläufig aufgenommene Jugendliche eine Lehrstelle antreten.

Der Bundesrat lancierte im Dezember 2015 ein Pilotprogramm zur Flüchtlingslehre. Damit sollen fähige und motivierte anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene frühzeitig sprachlich und fachlich geschult und mit Praxiseinsätzen in die Schweizer Arbeitswelt eingeführt werden. Das Pilotprojekt richtet sich primär an Branchen mit einem Arbeitskräfte- oder Lehrlingsmangel wie die Gastronomie oder die Landwirtschaft. Ab 2018 sollen so jährlich bis zu 1000 Flüchtlinge berufliche Grundkompetenzen erhalten. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe schlug derweil im November 2015 Massnahmen vor, um die Erwerbsquote von Flüchtlingen zu steigern. Der zentrale Punkt sei die Einführung von mehrmonatigen bis einjährigen Berufseinsteigerkursen. Sie sollen von den Berufs- und Branchenverbänden konzipiert und getragen werden.

2015 stellten 40 000 Personen in der Schweiz ein Asylgesuch. Per Ende Jahr waren nur 278 von ihnen erwerbs­tätig. Ein Grund: Für Asylsuchende besteht in den ersten drei bis sechs Monaten des Aufenthalts ein Arbeitsverbot. Sobald sie einen Job haben und Geld verdienen, müssen sie die bezogenen Sozialhilfegelder mit einer Lohnabgabe von rund zehn Prozent zurückzahlen.

Mehrgenerationen-WG in Bern

Hans und Heidi Weiss mit Rodeng und Nuhad

Die berufliche Integration ist auch bei Rodeng Abbas (28) ein zentrales Thema. In Damaskus hat er als Plattenleger gearbeitet. Nicht ohne Stolz sagt er: «Und hier in der Schweiz mache ich eine Vorlehre als Plattenleger.» Im Sommer kann er im Rahmen des Programms «25Plus» der Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule Bern eine Lehre anfangen. Zwei Tage pro Woche wird er in die Schule gehen, an drei Tagen kann er bei der Blatter AG in Bümpliz als Bodenleger arbeiten. Geflüchtet ist er vor vier Jahren. Zuerst nach Istanbul, dann nach Tunesien. Mit falschen Papieren überquerte er im Juli 2012 die Schweizer Grenze in Genf.

Im Deutschunterricht hat Rodeng Heidi Weiss (69) kennengelernt, die im Tauschnetz Länggasse in Bern und auch privat ehrenamtlich Migranten unterrichtet. «Rodeng hat damals in der Asylunterkunft im Hochfeld gelebt. In einem Luftschutzkeller, in dem Flüchtlinge verschiedener Kulturen auf engem Raum zusammenleben», sagt sie. Eines Tages fragte sie ihren Mann, ob man nicht ein Zimmer entbehren könnte; schliesslich hätten sie in ihrer Wohnung im Berner Länggassquartier Platz genug. Hans Weiss (75) war sofort dabei: «Heidi und ich haben zwei Töchter, und ich habe drei Kinder aus früherer Ehe. Wir sind Betrieb gewohnt.»

Rodeng zog Anfang 2013 ein. Vor einigen Monaten fragte er, ob auch sein Bruder Nuhad (17) bei Heidi und Hans Weiss wohnen könne, bis er für sich und ihn eine Wohnung finde. «Wir haben realisiert, dass es für sie schwierig sein wird, eine Wohnung zu finden, haben aber gleichzeitig gemerkt, dass wir zu viert gut zusammenleben können.» Seither gehen Heidi und Hans Weiss als «Onkel» und «Tante» den beiden Flüchtlingen vor allem bei Administrativem zur Hand. Dafür flicken die jungen Männer Fahrräder oder helfen im Garten. «Es ist eine klassische Win-win-Situation», sagt Hans Weiss.

So fliesst das Geld

Für die Untermiete, die auch die Mitbenutzung von Küche, Bad und eines Arbeitsplatzes einschliesst, erhält das Ehepaar Weiss monatlich 750 Franken vom Sozialdienst.

Die Kantone erhalten vom Bund eine Monatspauschale von 1500 Franken pro Person für die Unterbringung. Falls Private Flüchtlinge aufnehmen, zahlt ihnen das kantonale Migrationsamt das Logis, der Betrag ist dabei von Fall zu Fall verschieden. ­Zudem zahlt die jeweilige Migrationsbehörde den Flüchtlingen das Geld für Essen direkt aus – auch weil die kulinarischen Gewohnheiten oft nicht denen der Gastfamilien entsprechen.

Momos und Gerstensuppe

Esther und Bernhard Oettli mit Chokyi Pashe und Tsega Samthoen

Für Chokyi Pashe (38) und ihren Mann Tsega Samthoen (36) hat die Integration bei einem dampfenden Teller Bündner Gerstensuppe angefangen, gegessen im Haus von Esther (65) und Bernhard (64) Oettli in Beringen SH, wo das tibetische Paar seit dem 5. November 2015 zu Hause ist.

In Beringen SH hatten die beiden erstmals Kontakt zur Schweizer Kultur. Auch Oettlis entdecken immer wieder Neues: Als Esther Oettli am Morgen des 9. Februar, dem Beginn des tibetischen Frühlingsfestes, die Küche betrat, wurden ihr Chhang (ein heisses Getreidebier), süsslicher Reis, gesalzener Buttertee und wenig später Momos serviert. Die Teigtaschen sind ein tibetisches Nationalgericht.

Ganz neu war die Erfahrung nicht: Esther und Bernhard Oettli haben in den 80er-Jahren zusammen in der Entwicklungsarbeit in Nepal gearbeitet. Verständnis für andere Kulturen war also bereits vorhanden. Das Zusammenleben funktioniert: Tibetischer und Schweizer Alltag kommen gut aneinander vorbei. Beinahe zu gut, wie Bernhard Oettli findet: «Momentan leben wir fast zu fest aneinander vorbei. Sie gehen zum Beispiel früher schlafen und stehen früher auf.»

Als Tsega Samthoen und Chokyi Pashe bei den Oettlis ankamen, hatte das einen wundersamen Nebeneffekt auf die Nachbarschaft. «In so einem Quartier wie hier muss man die Nachbarn informieren, wenn man eine solche Aktion plant», sagt Bernhard Oettli. An einem «Samstag der offenen Tür» hätten sich dadurch schliesslich Nachbarn kennengelernt, die seit Jahren in der gleichen Strasse wohnen.

(Erschienen im Migros-Magazin, März 2016, Bilder: Daniel Auf der Mauer)

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Sexuelle Gewalt: Wir haben genug

Aggressive Anmache, Begrapschen, sexuelle Übergriffe: Jede fünfte Frau in der Schweiz macht solche Erfahrungen. Stellvertretend für die vielen Betroffenen erzählen 24 Frauen über ihre Erlebnisse mit dreisten Männern. 

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Es passiert im Tram, im Einkaufszentrum, im Club, am helllichten Tag, bei der nächtlichen Heimkehr oder auf dem Weg zur Arbeit. Und es passiert jeder fünften Frau in der Schweiz: sexualisierte Gewalt. Ihre Formen sind zahlreich und gehen von Beschimpfungen bis zu tätlichen Übergriffen. Mit den Vorfällen in Köln gerieten die Attacken im öffentlichen Raum schlagartig ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung. Sie sind kein durch Migration importiertes Problem. Doch sie sind für viele Frauen in der Schweiz Alltag. Dennoch wird das Thema nur selten öffentlich diskutiert. Viele Frauen verschweigen das Geschehene. Aus Angst, Selbstschutz oder Scham. Und Medien berichten oft nur über die «spektakulären Fälle».

Doch es sind keine Fälle, es sind Menschen. Zum Beispiel Sonia Bischoff, die in einem verriegelten Auto von einem Taxifahrer bedrängt wurde. Nataly Baumgartner, die als Minderjährige beim Warten auf den Zug von einem entblössten 50-Jährigen flüchtete. Michelle Feer, die sich an einem Festival von einem Mann losreissen musste. Zusammen mit anderen Frauen erzählen sie hier ihre Geschichten – repräsen­tativ für viele, die sonst kaum Gehör finden. Der Welt­frauentag, der am 8.März stattfindet, ist ein guter Anlass dafür.

Viele Frauen schweigen

Die Schuldfrage ist dabei allgegenwärtig: Hätte ich es verhindern können? Warum habe ich mich nicht gewehrt? Diese Fragen stellen sich die meisten betroffenen Frauen. Eine Haltung, die durch das gesellschaftlich etablierte, sogenannte «Victim Blaming» gefördert wird: Die Schuld wird den Opfern zugeschrieben, nicht den Tätern. «Frauen verzichten oft auf eine Anzeige, weil ein hohes Risiko besteht, dass ihnen die Schuld zugewiesen wird, etwa zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, die falsche Kleidung angehabt zu haben, zu betrunken gewesen zu sein», sagt die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach. Oft stehe auch Aussage gegen Aussage: «Wir wissen, dass vielen deshalb von einer Anzeige abgeraten wird.»

Wagen die Frauen dennoch den Gang an das Gericht oder an die Öffentlichkeit, erwarten sie weitere Demütigungen und Zweifel an ihren Geschichten. Die Konsequenzen sind bedenklich: Viele Betroffene begleitet das Erlebte ein Leben lang, während bloss ein Bruchteil aller Täter angezeigt wird. Die Verurteilungsquote liegt bei rund drei Prozent. Sexuelle Gewalt ist somit ein beinahe straffreies Delikt.

Unterstützung fehlt von allen Seiten: den Behörden, der Gesellschaft, der Justiz. Als Folge haben Frauen gelernt, die Grenzüberschreitungen zu akzeptieren. Sie haben sich damit abgefunden, dass es normal ist, in einem Club ohne Einverständnis angefasst zu werden. Sie haben gelernt, nach Zurückweisung unerwünschter Avancen mit «Schlampen»-Zurufen zu leben. Doch sexualisierte Gewalt ist ein Problem, das die Gesellschaft nicht länger als normal akzeptieren darf.

24 Frauen und 24 Geschichten

Meine damalige Freundin und ich küssten uns vor drei Jahren im Zug. Es war gegen 23 Uhr. Plötzlich kam ein Fremder um die 30 und machte uns an. Nach unserer Abweisung wurde er wütend. Die Mitfahrenden reagierten nicht. Er bedrohte uns schliesslich, ging ins nächste Abteil und masturbierte dort. Als wir ausstiegen, lief er uns nach und sprach Morddrohungen aus. Wir stiegen in ein Taxi. Er schlug auf die Fensterscheibe ein.
Geneva Moser (27), Bern 

Das erste Mal, als ich sexuell belästigt wurde, war ich zwölf Jahre alt. Ich war auf dem Weg zum Gitarrenunterricht im Friesenberg. Am Goldbrunnenplatz stieg ich in einen Bus der Linie 32 ein. Ein Mann um die 50 nutzte die Gelegenheit, um meine kaum vorhandenen Brüste unter meinem weiten Pullover zu befummeln. Mit beiden Händen. Dabei zwinkerte er mir zu. Es war widerlich. Und der Typ lächelte nur.
Sabrina Ben Salah (41), Zürich 

Es passierte vor einem Monat an der Langstrasse. Ich war mit Freundinnen unterwegs. Wir begannen, mit einer Gruppe von Männern zu reden. Als ich auf die Toilette wollte, folgte mir einer der Männer. Ich denke, er war so Mitte 20. Glücklicherweise merkte es der Barbesitzer und kam herunter. Es hätte blöd enden können, ich hatte ja mein Handy nicht dabei und war im unteren Stock. Mich hätte niemand gehört.
Tiba Ponnuthurai (19), Wädenswil ZH

Wegen meines grossen Busens hatten viele Männer das Gefühl, sie könnten mich anfassen. In diesen Momenten war ich jeweils total blockiert. Es ist mein Körper. Da erwartet man nicht, dass andere sich die Freiheit nehmen, ihn anzufassen. Zum Glück kümmerte sich meine Schwester um diese Typen. Sie wurde auch schon handgreiflich. Doch Bemerkungen gab es ständig. Mit 14 rief mir einer an einem Badetag am See «geile Titten» zu.
Nina Basso (24), Zürich-Seebach

Vor fünf Jahren wurde ich an einem kleinen Bahnhof im Thurgau von einem Mann um die 50 angestarrt. Er lief etwa zehn Mal an mir vorbei. Beim letzten Mal sah ich, dass sein Reissverschluss offen war und er sein Geschlechtsteil in der Hand hatte. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und wollte meine Eltern anrufen. In diesem Moment rannte er weg. Ich meldete den Vorfall der Polizei. Ich wollte nicht, dass das noch einem Mädchen passiert.
Nataly Baumgartner (22), Sirnach TG

Auf dem Heimweg von einem Studi-Job traf ich in einer Passage auf zwei Männer. Der eine tippte den anderen an und zeigte in meine Richtung. Als ich an ihnen vorbeiging, packte mich der eine und drückte mich an die Wand. Der andere langte mir in die Hosen. Ich dachte, wenn ich mich wehre, habe ich ein Messer im Rücken. Schliesslich trat ich dem einen zwischen die Beine. Ich riss mich los und rannte zum Auto, wo ich nur noch weinte.
Tanja Bircher (28), Schaffhausen

Im Dezember 2014 kehrte ich gegen vier Uhr morgens vom Ausgang nach Hause zurück. Bei der Zürcher Bäckeranlage merkte ich, dass mir einer folgte. Ich wechselte die Strassenseite. Er wechselte sie auch. Ich suchte meinen Schlüssel, da packte er mich und versuchte, mich in den Park zu ziehen. Mein Adrenalin-pegel stieg sofort. Als ich versuchte, mich loszukämpfen, liess er sofort los. Ich rief meine Mutter an.
Nadja Brenneisen (24), Zürich

Ich war 24 und musste unbedingt pünktlich bei der Arbeit erscheinen. Der Taxifahrer war gegen 60, ein Schweizer mit Bierranzen und Ländlermusik im Radio. Ich erzählte ihm, warum ich nicht den Zug nehme. Plötzlich sagte er, ich könne auch mit Sex bezahlen. Er fuhr immer schneller, die Tür war verriegelt, seine Hand auf meinem Oberschenkel. Als ich ihm mit erfundenen Mafiakontakten drohte, liess er mich raus. Ich blieb vier Tage zu Hause, unter Schock.
Sonia Bischoff (41), Zürich

Es war letzten Herbst in Kleinbasel. Ich wartete mit einer Freundin aufs Tram. Da kam ein Mann daher: ziemlich aufgeladen und sehr zugedröhnt. Man hörte ihn bereits von weit her herumgrölen. Er sprach uns schliesslich an und fragte: «Wollt ihr ficken?» Wir schauten weg. Er liess nicht locker, öffnete seinen Hosenladen, zog seinen Penis heraus. Ich stand auf und sagte ihm, er solle verschwinden. Dann zog er zum grossen Glück endlich weiter.
Seraina Degen (29), Basel 

Als ich acht Jahre alt war, griff mir ein Mann in der Badi zwischen die Beine. Ich realisierte das erst Jahre später. Aufgehört haben die Belästigungen nie. Als Erwachsene wurde mir zahlreiche Male an Festivals oder in Clubs an den Hintern gefasst. Das ist traurigerweise normal geworden. Einmal liess mich einer nicht los und klammerte sich gewaltsam an mich. Das überforderte mich enorm, da ich extrem schüchtern war. Ich denke, heute würde ich mich wehren.
Michelle Feer (25), Winterthur ZH

Im Ausgang gehören sexuelle Belästigungen zum Alltag. An meinem 16. Geburtstag griff mir erstmals ein Mann zwischen die Beine. Ich konnte gar nicht reagieren. Man sagt, ein Mensch reagiere bei Bedrohungen wie ein Tier: entweder mit Flucht, Angriff oder Totstellen. Der Schock, der einen lähmt, das ist das Totstellen. Und es macht die Sache besonders schlimm, weil sie einen ohnmächtig macht. Und weil Männer dann einfach davonkommen.
A. S. (26), Lausanne

Ich ging nach dem Ausgang vom Zürcher Hardplatz aus Richtung Güterbahnhof, als auf einmal ein Auto ganz langsam neben mir her fuhr. Ich erkannte einen Mann darin, er glotzte mich an. Ich war genervt und zeigte ihm den Stinkefinger. Ein Fehler. Er hielt 30 Meter vor mir an. Ich geriet in Panik. Zum Glück konnte ich ein anderes Auto anhalten und mir so Hilfe holen. Der andere fuhr weg. Ich weiss nicht, was sonst passiert wäre.
Linda Landolt (30), Zürich

Ich war 20 Jahre alt und ging in den damaligen Zürcher Club Alte Börse in den Ausgang. Bei der Garderobe griff mir ein Typ zwischen die Beine unter die Unterhosen. Ich drehte mich um, aber ich konnte niemanden als
Täter identifizieren. Es schaute niemand hin. Alle taten so, als wären sie in ein Gespräch verwickelt. Ich war enorm erschrocken – so fest, dass ich gar nichts mehr machen konnte.
Sarah Basso (26), Zürich Seebach  

Im Sommer 2013 besuchte ich mit meiner Mutter ein Open-Air-Kino. Ein älterer Mann setzte sich neben mich. In der zweiten Hälfte des Films wurde es kühl. Ich wollte meine Jacke anziehen, die zusammen mit meiner Tasche auf dem Schoss lag. Da sah ich seine Hand auf dem Oberschenkel. Ich hatte sie wegen des Gewichts der Tasche nicht gespürt und wischte sie sofort weg. Für mich war am schlimmsten, dass ich nicht wusste, wie lange seine Hand schon da war.
Flavia Caroni (24), Bern 

Sexuelle Belästigung erfuhr ich von Männern, die ihre Machtposition ausnutzten. Vor etwa 15 Jahren wollte mein Chefredaktor bei einem Apéro in einer Bar mit mir flirten. Nicht mein Typ, nicht mein Alter. Er kam ganz nahe an mich ran und spielte mit seiner Zunge herum. Die anderen am Tisch grinsten nur blöd, als wärs ein Witz gewesen. Als ich ihn wegstiess, wurde er sauer. Nach diesem Vorfall wurde ich bei der Arbeit schlechter behandelt.
S. C. (50), Filzbach GL

Ich war Mitte Februar an einem Samstag mit einer Kollegin im Ausgang. Danach setzten wir uns noch auf eine Bank und redeten ein bisschen. Da hörten wir ein Stöhnen. Plötzlich entdeckten wir einen Mann auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Er war am Masturbieren. Als er sah, dass wir ihn entdeckt hatten, ging er fort. Ich war entsetzt und wütend. Man fühlt sich beschmutzt. Ich merke, dass mich solche Dinge immer feministischer machen.
R. T. (21), Winterthur ZH

Letzten Sommer sagte mir ein Velofahrer, mich «müsse man mal so richtig in den Arsch ficken». Bloss weil ich eine rote Ampel überfahren hatte. Es passierte in Bern bei der Grossen Schanze. Er fuhr mir danach noch nach und versuchte, mich an den Rand zu drängen. Schliesslich hielt ich an und liess ihn überholen. Mich irritierte, dass er so hasserfüllt war. Alle seine Beschimpfungen hatten irgendwelche Vergewaltigerphrasen drin.
U. Y. (35), Bern 

Im letzten November kehrte ich nach dem Ausgang in St. Gallen nach Hause zurück. Plötzlich folgten mir etwa zehn jüngere Männer. Sie sagten, ich solle nicht so schnell laufen, ich käme eh nicht weg. Ich ging immer schneller, rannte schliesslich. Glücklicherweise bogen sie dann ab. Das war nicht die einzige Belästigung. Im Club betatscht zu werden, ist schon fast Alltag – auch dass viele Männer ein Nein nicht akzeptieren, einen auslachen und als öde Feministin beschimpfen.
N. K. (21), St. Gallen 

Mit 16 hatte ich bereits Körbchengrösse F. Im Ausgang wurde ich oft gefragt, ob ich nicht Lust auf ein Abenteuer hätte. Ich würde nämlich so aussehen. Ich war damals noch Jungfrau, aber betrachtet wurde ich als Sexobjekt. Kurz vor meiner Brustverkleinerungsoperation vor sieben Jahren traf ich einen alten Freund im Club. Als ich seinen Kollegen bat, ein Foto von uns zwei zu machen, platzierte der Kollege die Hand meines Freundes an meine Brust.
N. M. (26), Zufikon AG

Vor vier Jahren ging ich einmal vom Bahnhof St. Gallen aus allein nach Hause Richtung Silberturm. Beim Stadttheater kam mir einer entgegen und lief neben mir her. Irgendwann packte er mich und versuchte, mich zu küssen. Ich schrie und wehrte mich. Zwei Mal schlug er mich mit seinem Schirm ins Gesicht. Ich konnte mit meinem Handy in der Tasche heimlich meine Freundinnen anrufen. Schliesslich konnte ich mich losreissen und wegrennen.
D. G. (23), St. Gallen 

Ich wurde im ÖV unzählige Male begrapscht. Das Schlimmste war jeweils die Reaktion der Mitreisenden: diese Mischung aus Verachtung und Ekel, die das Opfer miteinschliesst. Das sind die alltäglichen Übergriffe. Dazu kommen die aggressiven Übergriffe. Männer, meist zu zweit, sprechen dich im Vorbeigehen an, schon in Erwartung, dass du ablehnen wirst, um dann eine Hasstirade gegen dich loszulassen. Das geht von «verdammte Rassistin» bis «frigide Emanze».
C. C. (39), Zürich 

Es passierte vor vier Jahren. Ich war im Tram von der Schaufelbergerstrasse zum Goldbrunnenplatz unterwegs und stieg ganz hinten ein. Alle anderen waren im vorderen Teil. Bis auf einen Mann um die 50. Da merkte ich, warum alle vorne sassen. Ich hörte ein seltsames Geräusch. Als ich hinüberschaute, sah ich, dass er sich selber befriedigte. Ich war total erstaunt und sagte ihm, er solle seinen Penis wieder einpacken. Er sagte, er sei gleich fertig. Total irre.
R. B. (23), Zürich

Im letzten Dezember stieg ich um sieben Uhr morgens in den Zug und war allein im Wagen. Ein Mann stieg zu, sah mich, setzte sich dann ins Abteil schräg gegenüber. Danach schlief ich ein. Als ich das nächste Mal aufwachte, sah ich, dass er sich entblösst hatte. Ich war schockiert und fragte mich zuerst, ob ich das bloss geträumt hatte. Heute bereue ich, dass ich nicht gehandelt und das Zugpersonal informiert habe.
L. B. (24), Muri AG

Ich war 20 und besuchte ein Open Air. Mitten in der Nacht spürte ich eine Hand an meinem Hals. Ich schreckte auf und sah, dass ein Mann neben mir kniete. Er griff nach meinen Handgelenken und hielt mich fest. Ich schrie. Ich höre es noch heute. Es hörte sich fremd an. Irgendwann liess er mich los und flüchtete. Kein Mensch reagierte. Und als ich meine Freundin im Zelt nebenan weckte, meinte sie bloss, er käme bestimmt nicht zurück.
N. M. (27), Bern

(Erschienen im Migros-Magazin und auf watson.ch, März 2016, Bilder: Sophie Stieger)

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Toni Brunner und Hans Stöckli im DSI-Streitgespräch

SP-Ständerat Hans Stöckli und SVP-Präsident Toni Brunner streiten über die Durchsetzungsinitiative (DSI). Einig sind sich nur in einem Punkt: Opfern von Verbrechen soll Gerechtigkeit widerfahren.

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Toni Brunner, der Widerstand gegen die Durchsetzungsinitiative (DSI) ist enorm, selbst einige SVP-Exponenten haben sich distanziert. Geht die Initiative nicht doch zu weit?

Toni Brunner: Mich beeindruckt dieser Widerstand nicht. Hingegen beeindruckt mich die Liste von 57 000 ausländischen ­Verbrechern, die im vergangenen Jahr verurteilt wurden. Mich beeindrucken 155 000 Unterzeichner unserer Volksinitia­tive, die das ­Sicherheitsempfinden im Land verbessern möchten. Und mich beeindrucken die 1,4 Millionen, die zurAusschaffungsinitiative vor fünf Jahren Ja gesagt haben.

Hans Stöckli: Die breite Opposition ist da, um Ihnen, Herr Brunner, zu erklären, dass Sie nicht ehrlich sind. Sie reden zwar von einer Ausschaffungsinitiative, die umgesetzt werden soll, verlangen aber mit der DSI viel mehr. Die SVP sagte ursprünglich, dass sie mit jährlich 1500 Ausschaffungen rechne und nur schwere Verbrechen so sanktioniert würden. Bei der DSI reden Sie nun plötzlich von 18’000 Ausschaffungen pro Jahr – eine enorme Verschärfung.

Nochmals, Herr Brunner: Die breite Opposition gibt Ihnen nicht zu denken?

Brunner: Nein. Herr Stöckli, Philipp Müller von der FDP und andere wirken auf mich momentan eher wie Gratisanwälte krimineller Ausländer. Ich stehe aus Überzeugung auf der Seite der Opfer.

Stöckli: Ach was! Wir wollen ebenfalls Sicherheit, und dass alle Ausländer bestraft werden, die sich in der Schweiz nicht korrekt verhalten. Aber wir wollen das in einem rechtsstaatlich korrekten Verfahren machen. Wir setzen uns nicht für kriminelle Ausländer ein, sondern für Rechtsstaatlichkeit. Die Schweizer Verfassung beinhaltet zum Beispiel die Gewaltentrennung. Richter wenden Gesetzesartikel an, sie sollten nicht zu automatischen Durchsetzungsmaschinen für Bestimmungen aus dem stillen SVP-Kämmerchen degradiert werden. Die DSI hebelt zudem das Parlament aus, weil diese Gesetzesbestimmungen ohne Mitwirkung der gesetzgebenden Behörde direkt angewendet werden müssten. So etwas gab es noch nie. Auch darum haben am vorletzten Tag der Wintersession innerhalb kürzester Zeit 40 Kollegen aus dem Ständerat mein Manifest unterschrieben und signalisiert, dass dieser Verfassungsbruch nicht geduldet werden darf.

Brunner: Aber die Schweizer Bevölkerung soll dulden, dass das Parlament sich um einen Verfassungsartikel foutiert? Die Härtefallklausel, wie sie bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative geplant ist, wurde vom Volk verworfen.

Stöckli: Um den Willen des Volkes umzusetzen, bin ich bis an die Grenzen dessen gegangen, was ich mit meinem Gewissen und unserer Verfassung noch vereinbaren konnte. Und diesen Willen haben wir hart umgesetzt.

Brunner: Hoffentlich auch! Der Verfassungsartikel und damit auch der Volkswille muss ja im Gesetz zum Ausdruck kommen.

Warum braucht es die DSI überhaupt?

Brunner: Im November 2010 hat das Volk die Ausschaffungsinitiative für kriminelle Ausländer angenommen. Gleichzeitig hat es einen Gegenvorschlag von Parlament und Bundesrat abgelehnt, der dem Richter bei den Ausschaffungen einen Ermessensspielraum geben wollte. Wir spürten von Anfang an den Widerwillen im Departement Sommaruga, sich der Umsetzung des neuen Verfassungsartikels anzunehmen. Mit der DSI wollten wir unserem Anliegen Nachdruck verleihen – im Wissen darum, dass wir die Initiative hätten zurückziehen können, wenn das Parlament den Artikel im Sinne des Volkes umgesetzt hätte. Lange sah es nach einem Kompromiss im Parlament aus, aber dann drehte sich der Wind im Ständerat. Herr Stöckli war dafür mitverantwortlich. Plötzlich stand wieder eine Einzelfallprüfung durch den Richter im Gesetz, das es letztlich seinem Urteil überlässt, ob ein Krimineller ausgeschafft werden soll oder nicht.

20622778Stöckli: Das Problem ist nur, dass Sie bei der DSI nun plötzlich strengere Massstäbe anlegen. Die beschlossene Umsetzung der Ausschaffungsinitiative bringt bereits eine gewaltige Verschärfung. Die kommt in jedem Fall, auch wenn die DSI abgelehnt würde. Unter diesen neuen Bestimmungen werden viel mehr Ausländer ausgeschafft, jährlich etwa 4000. Ausländer, die schwere Verbrechen begehen, haben hier nichts zu suchen, da gebe ich Ihnen recht. Aber man kann doch einen Secondo nicht einfach über den gleichen Leisten schlagen wie einen Kriminaltouristen.

Brunner: Unsere Initiative ist nicht strenger, nur präziser. Wir haben konkretisiert, dass schwerkriminelle Straftaten wie Mord und Vergewaltigung zu direkter Landesverweisung führen. Und dass eine Wiederholungstat vorliegen muss, wenn es um weniger schwere Straftaten geht. Obwohl ich immer wieder staune, was Frau Sommaruga als Bagatelldelikt abtut. Ein Faustschlag ins Gesicht ist für mich kein Bagatelldelikt. Und ein Einbruch erst recht nicht.

Die DSI will den Spielraum der Richter stark beschränken.

Brunner: Es gibt auch Beispiele, die zeigen, dass der Spielraum der Richter eingeschränkt wurde, etwa bei massiven Geschwindigkeitsüberschreitungen im Strassenverkehr. Dort hat das Parlament von sich aus Automatismen eingeführt.

Diese betreffen aber alle in der Schweiz wohnhaften Personen. Die DSI verlangt anderes Recht für Schweizer und Ausländer.

Brunner: Vorab: Die Ausländer und Ausländerinnen, die sich integrieren und sich an unsere Gesetze halten, haben nichts zu befürchten. Wenn jemand jedoch kriminell wird, unabhängig davon, ob er hier geboren ist oder nicht, hat das Konsequenzen. Ein Secondo kann sich ein ganzes Leben lang erleichtert einbürgern lassen, wenn er das will. Das ergibt einige wenige zusätzliche Privilegien wie etwa das Stimm- und Wahlrecht. Der Gesetzgeber ist in der Schweiz nun mal das Volk; es kann auch die Verfassung ändern.

Hat denn das Volk immer recht?

Brunner: Das Volk hat nicht immer recht. Ich bin häufiger in der Minderheit als in der Mehrheit. Aber wir haben eine Demokratie. Und die funktioniert nur, wenn man die Volksrechte ernst nimmt. Dennoch passiert es immer öfter, dass man Volksentscheide negiert.

Stöckli: Das tut auch die SVP, zum Beispiel bei der Alpeninitiative oder der Kulturlandinitiative im Kanton Zürich.

Brunner: Die Alpeninitiative wird mit der zweiten Röhre am Gotthard respektiert, ein Kapazitätsausbau müsste erneut vor das Volk. Und betreffend den Erhalt von wertvollem Kulturland für die Nahrungsmittelproduktion sind wir uns einig.

Verletzt die DSI die Gewaltentrennung?

Brunner: Wir haben in der Schweiz eine besondere Staatsform, die immer öfter auf einer bestimmten Ebene geritzt wird. Nämlich insofern, als Volksentscheide gar nicht oder nicht richtig umgesetzt werden. Leider findet man immer wieder Gründe, das zu tun. Das hinterfragt niemand, und das macht mich wütend. Der Gesetzgeber oder Richter kann sich über demokratische Entscheide hinwegsetzen. Mir ist schon klar, warum man sich jetzt mit Händen und Füssen gegen die DSI wehrt: Man müsste akzeptieren, dass das letzte Wort wirklich beim Volk bleibt. Und das passt vielen nicht.

Stöckli: Sie verkaufen die DSI mit dem Argument, das Parlament habe seine Aufgaben nicht gemacht. Aber das stimmt einfach nicht. Wir haben den Volkswillen bis zur rechtsstaatlich gerade noch akzeptierbaren Härte umgesetzt und sogar den Deliktekatalog der Ausschaffungsinitiative erweitert. Ich bin in meiner eigenen Partei stark dafür kritisiert worden, dass ich euch bei der Härtefallklausel so weit entgegengekommen bin. Schon da haben wir nämlich praktisch einen Automatismus eingeführt. Der Richter kann sein Ermessen nur ausnahmsweise anwenden, wenn es um einen «schweren persönlichen Härtefall» geht. Das würde in höchstens 20 Prozent der Fälle passieren. Und schon das ist eine Ritzung des Verhältnismässigkeitsprinzips.

Brunner: Jeder Anwalt wird für seinen Mandanten einen Härtefall geltend machen. Es ist dann schnell die Regel und keine Ausnahme mehr.

Stöckli: Ausserdem würde eine Annahme der DSI ein Chaos auslösen. Die Vollzugsbehörden wüssten gar nicht mehr, welches Recht jetzt gilt, weil dann widersprüchliche Bestimmungen in den Gesetzen stünden.

Brunner: Der Verfassungstext hätte bei einer Annahme Vorrang. Warum soll eine Verfassungsgrundlage plötzlich nicht mehr Vorrang haben?

Stöckli: Es gibt andere Verfassungsbestimmungen, die ebenfalls gelten. Auch haben wir die Europäische Menschenrechtskonvention genehmigt. Diese gibt einen Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, auf die Beachtung des Diskriminierungsverbots und die Achtung des Familienlebens. Die DSI verletzt auch die Bilateralen Verträge.

Brunner: Unter dem Stichwort Familienzusammenführung wird man immer einen Grund finden, schwerkriminelle Ausländer nicht auszuschaffen. Und bei den Bilateralen gibt es folgenden Passus im Freizügigkeitsabkommen: Wenn jemand die Sicherheit in einem Land gefährdet, kann er des Landes verwiesen werden.

Stöckli: Schon, aber nur bei schweren Verbrechen und aufgrund allgemeingültiger internationaler Standards, welche die DSI nicht einhält.

Ist es besser, pauschal zu entscheiden, was ein Härtefall ist, statt dies individuell zu beurteilen?

Brunner: Gegenüber Kriminellen braucht es keine Toleranz. Ausserdem höre ich immer wieder, wie Secondos darunter leiden, wenn sich deren Landsleute nicht an die Spielregeln halten. Dieser Pauschalverdacht kann belasten. Nochmals: Wer nicht kriminell wird, hat nichts zu befürchten. Zudem wird nur schon die präventive Wirkung dieses Verfassungsartikels mehr Sicherheit in unser Land bringen.

Stöckli: Das Problem ist der Automatismus und der Deliktkatalog. Wenn einer mit 20 Jahren 25 Kilometer innerorts zu schnell gefahren ist, dann …

Brunner: Dann zahlt er eine Busse. Das wird gar nicht erfasst.

Stöckli: Wenn er zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, wird das sehr wohl erfasst.

Brunner: Dazu muss er aber schon im Raserbereich unterwegs sein, nur dann kommt er vor den Richter. Ich fahre ja auch gern zügig, und was ich bisher erlebt habe, kann man also mit einer Busse erledigen.

Hans Stöckli hat ein Manifest gegen die DSI verfasst, das von Hunderten aktiven und ehemaligen Parlamentariern und Parlamentarierinnen unterschrieben wurde.

Stöckli: Laut Ihrem Initiativtext reicht eine Geldstrafe, damit im Wiederholungsfall die Ausschaffung droht. Noch schlimmer: Ihr Deliktkatalog umfasst auch Antragsdelikte, also Fälle, in denen das Opfer entscheidet, ob es eine Anklage gibt – somit auch, ob eine ­Ausschaffung droht oder nicht. Das muss man sich mal vorstellen.

Brunner: Aber lediglich Im Wiederholungsfall!

Stöckli: Eben. Und das kann 300 000 bis 500 000 Personen treffen, für vergleichsweise harmlose Delikte.

Wieso fehlt die Wirtschaftskriminalität auf Ihrer Deliktliste, Herr Brunner?

Brunner: Der Gesetzgeber kann den Deliktkatalog jederzeit erweitern. Uns ging es vorab um Delikte gegen Leib und Leben, die ein Opfer unmittelbar spürt. Eine Körperverletzung kann ein lebenslanges Trauma auslösen. Auch ein Einbruch ist für mich nicht einfach ein Bagatelldelikt.

Stöckli: Es fehlt noch einiges anderes im Deliktkatalog, das wir bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative aufgenommen haben, darunter das Planen eines Mordes, eines Raubes oder einer Geiselnahme, das Verbreiten von gefährlichen Krankheiten, das Bauen von Bomben, das Arrangieren einer Zwangsheirat oder das Vornehmen einer Mädchenbeschneidung, aber auch schwere Vermögensdelikte.

Im Grunde geht es ja nur um die Unterschiede in der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, die bei einem DSI-Nein in Kraft tritt. Gewaltverbrecher werden eh ausgeschafft.

Brunner: Ausser es handelt sich um einen «Härtefall». Und besondere Umstände werden im konkreten Einzelfall jedesmal geltend gemacht werden. Es soll kein Pardon geben. Die Zahlen sprechen für unsere Initiative: Im Schnitt sitzen in unseren Gefängnissen 73 Prozent ausländische Straftäter, ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Verbrechen wird von Ausländern verübt. Für uns ist die Initiative eine logische Konsequenz aus der Abstimmung von 2010 über die Auschaffungsinitiative. Fokussieren wir also auf das Wesentliche: Haben wir ein Problem mit Ausländerkriminalität oder nicht? Wie können wir das eindämmen? Es ist nun mal so: Wer im internationalen Vergleich strikte Bestimmungen hat, der schafft auch ein relativ sicheres Land. Und darum geht es doch.

Stöckli: Die haben wir beschlossen – unser neues Gesetz ist viel schärfer als die in Deutschland geplanten neuen Ausschaffungsbestimmungen. Es geht aber auch um die Nebenwirkungen – die sind wichtig, gerade wenn wir über das Wesentliche reden. Die DSI umgeht das Parlament, indem ein Gesetzestext direkt in die Verfassung geschrieben wird, der noch dazu anderen Gesetzestexten widerspricht. Sie degradiert Richter unter Missachtung der Gewaltenteilung zu Maschinen, die etwas automatisch ausführen müssen. Am schlimmsten finde ich, dass die SVP so tut, als hätten wir die Ausschaffungsinitiative nicht umgesetzt, obwohl wir eine massive Verschärfung beschlossen haben, die sogar weitergeht als das, was die Initiative verlangt.

Herr Stöckli, wieder einmal heisst es: die SVP allein gegen alle. Und wieder einmal könnte sie damit Erfolg haben. Wieso tun sich die anderen Parteien so schwer damit, die Befindlichkeit im Volk wahrzunehmen?

Stöckli: Es gibt sensible Bereiche, die politisch einfach instrumentalisiert werden können, dazu gehören Kriminalität und Ausländer. Die SVP bewirtschaftet diese Themen systematisch, weil sie gemerkt hat, dass sich damit politische Erfolge erzielen lassen. Und dagegen anzutreten, ist schwierig. Es ist durchaus auch ein Verdienst der Partei, Themen aufzugreifen, die die Leute beschäftigen. Aber schon James Schwarzenbach hat in den 1970er-Jahren praktisch im Alleingang fast eine Mehrheit für seine ausländerkritische Initiative bekommen, kein Wunder, dass die SVP als stärkste Partei der Schweiz bei diesen Themen immer wieder mal siegt. Dabei spielt aber auch die wirtschaftliche Potenz eine Rolle. Gehen Sie mal durchs Land, zählen Sie die Schäfchenplakate und suchen Sie dann die der Gegner. Sie werden leider kaum etwas finden.

Christoph Blocher hat kürzlich vor einer Diktatur in der Schweiz gewarnt. Seine Gegner fürchten das auch, aber in Bezug auf die SVP.

Brunner: Christoph Blocher meint damit, dass Bundesrat, Parlament oder Verwaltung sich immer häufiger anmassen, einen Volksentscheid umzuinterpretieren, und sich bei der Umsetzung nicht an die Vorgaben der Bevölkerung halten. Hinzu kommt eine Dynamisierung der nationalen und internationalen Rechtsprechung, bei der sich Richter mit ihren Entscheiden immer mehr als Gesetzgeber aufspielen. Auf diese Weise werden die Grundpfeiler unserer direkten Demokratie ausgehöhlt. Das führt dann zur Diktatur der Mächtigen, der Richter, der Verwaltung, der politischen Entscheidungsträger.

Stöckli: Zu Christoph Blochers Behauptung fällt mir vor allem Max Frischs «Biedermann und die Brandstifter» ein. Unser Schweizer System ist sehr ausgeklügelt. Aber es besteht auch ein sehr fragiles Gleichgewicht zwischen den Institutionen. Und nun haben wir da eine rekordstarke Partei, die mit fast 30 Prozent Wähleranteil, mit zwei Bundesräten und viel Geld beginnt, einseitig an diesem Gleichgewicht zu schrauben. Das scheint mir wesentlich heikler zu sein. Zum Glück zeigen Umfragen trotz des Rumhackens der SVP auf der «Classe politique», dass das Sozialprestige der Institutionen im Volk hoch ist, ja eher noch zunimmt – das gilt für den Bundesrat ebenso wie für Richter. Bei der DSI geht es vordergründig um Ausländer, aber die SVP zielt damit auch auf eine Schwächung der Institutionen ab. Zum Glück merken das jetzt immer mehr Leute, und das stimmt mich eben doch zuversichtlich.

Fast alle Parteien, Verbände und NGOs lehnen die SVP-Initiative ab. Selten wurde eine Initiative so einhellig abgelehnt wie die Durchsetzungsinitiative.

Dafür: SVP, EDU, SD, Lega dei Ticinesi, MCG (Mouvement de Citoyens Genevois), Auto-Partei

Dagegen: FDP, CVP, SP, BDP, EVP, Grüne, GLP, CSP, PdA, Economiesuisse, Swissmem, Interpharma, SuccèsSuisse, Zürcher Handelskammer, Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz, Staatsanwältekonferenz, Evangelischer Kirchenbund, Bischofskonferenz, Lehrerverband der Schweiz LCH, Amnesty International, Caritas, VPOD, Unia, SGB, Erklärung von Bern, Augenauf, Avenir Social, Digitale Gesellschaft, Europe’s Human Rights; Watchdog, Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, Frauen für den Frieden, Frauenambulatorium ZH, Gesellschaft für bedrohte Völker, Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, Grundrechte.ch, HEKS, Humanrights.ch, Incomindios Schweiz, Jesuiten-Flüchtlingsdienst, Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, Justitia et pax, Männer.ch, Netzwerk Asyl Aargau, Operation Libero, Peace Watch Switzerland, PeaceWomen Across the Globe, Pink Cross, Reporter ohne Grenzen, Schutzfaktor M, Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände, Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Schweizerischer Friedensrat, Second@s Plus Zürich, Solidarité sans frontières, Stiftung für Effektiven Altruismus, Syna, Terre des femmes, Transgender Network Switzerland, Tsüri hilft!, Verein zur Förderung der Gebärdensprache bei Kindern, Vivre Ensemble, Young European Swiss

(Publiziert im Migros-Magazin, Februar 2016. Das Interview führten Ralf Kaminski und Anne-Sophie Keller. Bilder: Beat Schweizer

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Doris Leuthard im Interview

Bundesrätin Doris Leuthard (52, CVP) kämpft für einen zweiten Strassentunnel durch den Gotthard. Der Alpenschutz sei durch das Projekt nicht gefährdet.

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Doris Leuthard, welche Bedeutung hat der Gotthard für Sie ganz persönlich?
Als Kind verbrachte ich die Sommerferien jeweils bei Verwandten im Tessin. Einen Strassentunnel gab es damals noch nicht. Mit unserem alten Auto krochen wir die Passstrasse hinauf, es röchelte und zischte, und der Vater musste ständig Kühlwasser nachfüllen. Oben angekommen, war ich stets überwältigt von der Landschaft – es ist ein spezieller Berg für die Schweiz.

Ende Februar stimmen wir über den Bau einer zweiten Röhre ab. Weshalb ist diese Lösung zur Sanierung des bestehenden Strassentunnels die beste?
Weil wir die Strassenverbindung stets offen halten können und so auch für alle künftigen Sanierungen gewappnet sind. Technisch machbar wären auch Verladestationen, so würde aber die Strassenverbindung durch den Tunnel für drei bis vier Jahre gekappt. Für den Bau einer zweiten Röhre spricht zudem die Sicherheit. Bei richtungsgetrennten Tunnels passieren weniger Unfälle. Frontalkollisionen können verhindert werden. Deshalb ist diese Verkehrsführung für Strecken mit viel Verkehr inzwischen europäischer Standard.

Leitplanken im bestehenden Tunnel würden die Sicherheit ebenfalls verbessern.
Nein. Wer heute im Gotthard über die Mitte fährt, wird von sogenannten Rüttelstreifen gewarnt. Mit dem Einbau einer Leitplanke würde der Fahrstreifen noch schmäler, was die Gefahr von Kollisionen erhöht. Wenn wir die Sicherheit erhöhen und schwere Kollisionen vermeiden wollen, geht das nur mit einer zweiten Röhre.

Nur kommt diese Variante rund eine Milliarde teurer.
Sie bringt uns aber auch viel mehr! Die Gotthardverbindung bleibt offen, für künftige Sanierungen ist vorgesorgt, und schwere Unfälle können vermieden werden. Sonst müsste je ein Bahntransport für Autos und für Lastwagen erstellt werden. Und trotzdem könnten nur 600’000 Lastwagen pro Jahr den Gotthard auf Schienen queren, der Rest müsste über andere Alpenpässe ausweichen. Nach vier Jahren müsste man zudem die ganze Infrastruktur zurückbauen, weil die betroffenen Regionen keine permanenten Anlagen wollen. Die Investitionen wären verloren – und in 30 bis 40 Jahren müssten wir wieder über die gleichen Fragen diskutieren. Auf Dauer ergibt die Lösung mit der zweiten Röhre darum auch finanziell mehr Sinn. Sie ist schlicht nachhaltiger.

Ein Bericht des Astra kommt zum Schluss, dass die Tunneldecke in besserem Zustand ist als bisher angenommen, eine Sanierung deshalb nicht vor 2035 notwendig ist. Zeit wäre also vorhanden. Weshalb wartet man nicht zu, bis Erfahrungen mit dem neuen Basistunnel in die Überlegungen einfliessen können?
Der Bericht zeigt, dass die Korrosion der Zwischendecke langsamer verläuft als ursprünglich angenommen. Unseren Fachleuten ist es gelungen, mit einer Schutzschicht den Zerfall zu bremsen. Das ändert aber nichts daran, dass der Tunnel umfassend saniert und deswegen für längere Zeit vollständig gesperrt werden muss. Die Kritiker ziehen unverantwortliche Schlüsse aus dem Bericht. Wer die Sanierung hinauszögert, spielt mit der Sicherheit! Wir müssen sicherstellen, dass die Tunneldecke nicht einstürzt.

Mehr Strassen führen zu mehr Verkehr – weshalb soll das am Gotthard nicht zutreffen?
Auf den Nationalstrassen, da sind sich alle Prognosen einig, wird es sowohl bei den Personen als auch bei den Gütern einen Zuwachs geben. Beim Gotthard jedoch sind die Zahlen seit Jahren stabil. Wir sprechen von rund sechs Millionen Fahrzeugen im Jahr. Die Verlagerungspolitik greift. Der 2001 eingeführte Tropfenzähler am Gotthard, der für einen Abstand von 150 Metern zwischen zwei Lastwagen sorgt, liesse mehr Verkehr zu. Doch diese Kapazität wird gar nicht ausgeschöpft. Weshalb sollte sich das plötzlich ändern?

Im Sommer oder an Ostern sind Staus vor dem Gotthard die Regel. Die Versuchung, die zusätzlichen Spuren zu öffnen, wird gross sein.
Das ist ausgeschlossen. Es gibt zum einen den Alpenschutzartikel in der Verfassung, der das verbietet. Zum anderen die im Gesetz neu verankerte Schranke, die den Einspurbetrieb vorschreibt. Ich verstehe die Ängste, aber es gibt keinen rationalen Grund, diesem doppelten Schutz zu misstrauen. Noch einmal: Um die Kapazität am Gotthard zu erhöhen, bräuchte es eine Verfassungsänderung, die Zustimmung von Volk und Ständen. Es reicht nicht, mir einen bösen Brief zu schreiben.

Verfassung und Gesetz sind nicht in Stein gemeisselt. Was, wenn die EU plötzlich Druck macht? Es ergibt doch keinen Sinn, bestehende Kapazitäten nicht zu nutzen.
Das Argument sticht nicht. Die Verfassung ist zwar veränderbar, und so könnte jemand theoretisch auch fordern, die Kantone abzuschaffen. Es gibt keine Garantien für alle Ewigkeit. Jede Generation soll gewisse Fragen für sich beantworten können. Fakt ist aber: Der Alpenschutz ist doppelt gesichert. Weder der Bundesrat noch das Parlament oder die Kantone sind für eine Änderung zu haben. Da sind wir sauber unterwegs – und auch die EU akzeptiert unsere Verlagerungspolitik. Beim Fréjus-Tunnel zwischen Frankreich und Italien macht man im Übrigen genau das Gleiche, wie bei uns geplant ist: Es gibt bald eine zweite Röhre und danach wird der Verkehr richtungsgetrennt einspurig durch den Tunnel geführt.

Ihr Vorgänger Moritz Leuenberger schiesst in einem Interview scharf gegen Ihre Pläne am Gotthard. Ärgert Sie das?
Ich habe mich mehr gewundert als geärgert, wich er doch bei der Kernfrage, wie der Verkehr während der Tunnelsperrung denn sonst bewältigt werden soll, einfach aus. Ohne zweite Röhre müssten im Urnerland und im Tessin riesige Verladestationen für den Transport der Lastwagen auf die Bahn gebaut werden, mit grossen Beeinträchtigungen vor Ort. Langjährige Unterstützer der Alpeninitiative wie Clown Dimitri oder Gewerkschafter Renzo Ambrosetti setzen sich darum für eine zweite Röhre ein.

Was passiert bei einem Nein zur zweiten Röhre?
Dann bliebe der Tunnel für drei bis vier Jahre zu und es bräuchte einen Bahnverlad für fünf Millionen Autos. Dazu müssten die alten Einrichtungen in Göschenen und Airolo reaktiviert werden. Die Belastung wäre gross, im Vergleich zu den Lastwagen aber noch der einfachere Teil. Für die Lastwagen müsste man in Erstfeld und Biasca eine neue Verladeinfrastruktur aufbauen. Das benötigte viel Platz und zu allem her auch noch eine Lockerung des Nachtfahrverbots. Die Folgen wären grosser Landverschleiss, viel Lärm und steigende Emissionen. Deshalb verstehe ich die ablehnende Haltung der Umweltverbände nicht ganz.

Apropos Umwelt: Die Klimakonferenz Ende 2015 war ein Erfolg. Hat die Schweiz ihre Ziele erreicht?
Nicht vollumfänglich. Wir sind aber auch mit hohen Ambitionen angereist. Unser Hauptziel war ein Vertrag, der nicht nur die Industriestaaten in die Pflicht nimmt. Das haben wir erreicht. Auch die Entwicklungsländer müssen nun Reduktionsziele einreichen. Dass ein kleiner Inselstaat, der vom steigenden Meeresspiegel in seiner Existenz bedroht ist, eine andere Agenda verfolgt als etwa China oder Indien, ist klar.

Die Industriestaaten sind an der Situation in China ja nicht ganz unschuldig.
Natürlich gibt es eine historische Verantwortung der Industriestaaten. Darum sind wir auch bereit, tiefer in die Tasche zu greifen als andere. Irgendwann ist diese Schuld aber beglichen. Europa ist heute für 13 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, die Entwicklungsländer für über 50 Prozent. Indien und China gehören zu den grössten Sündern. Auch die Schweiz hat noch Verbesserungspotenzial – aber auf einem viel tieferen Niveau.

Welcher Kompromiss schmerzt Sie am meisten?
Bei der Finanzierung hätte ich gern mehr Staaten in die Pflicht genommen. Singapur, Kuwait und Saudi-Arabien gelten immer noch als Entwicklungsländer. Obwohl die Menschen dort ein ziemlich hohes Einkommen haben und so auch mehr Verantwortung übernehmen können. China ist finanzkräftig und tätigt ja auch in hohem Masse Investitionen in Afrika, um seinen massiven Energiebedarf abzudecken. Als Mitglied der G-20 gehört man nicht nur zu den Mächtigen der Welt, man hat auch eine finanzielle Verantwortung.

In drei Jahren gibt es die erste Zeugnisvergabe, die nationalen Klimaprogramme werden überprüft. Mit welchen Noten rechnen Sie?
Die Schweiz wird sich nicht verstecken müssen. Mit 6,3 Tonnen CO2 pro Person und Jahr sind wir schon heute ein tiefer Emittent. In der EU sind es 8,7 Tonnen.

Klimaverträglich wäre eine Tonne.
Das ist ein ambitiöses Fernziel unter der Voraussetzung, dass sich alle auf diesem Level einpendeln. Bei den Emissionen pro Kopf haben wir in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Weniger gut sind wir beim Verkehr. Unsere Nahrungsmittel legen zu grosse Distanzen zurück. Wenn die Leute häufiger das essen würden, was in der Schweiz produziert wird, wäre das ein Fortschritt. Da braucht es eine Sensibilisierung: Wir müssen unser Konsum- und Mobilitätsverhalten hinterfragen. In der Energiepolitik wollen wir weg von Öl, Gas und Kohle und setzen auf Erneuerbare. Die Ziele lauten: Verbrauch reduzieren und mehr Effizienz.

Bisher fällt die Bilanz ernüchternd aus. Gerade ist die Schweiz in einem Klima-Rating aus den Top Ten gefallen. Hat der Klimaschutz hierzulande an Stellenwert verloren?
Bei dem Rating, das Sie ansprechen, wurde die Finanzierung sehr stark gewichtet. Andere Ranglisten führen wir an. Entscheidend sind im Übrigen nicht Ankündigungen, sondern was wirklich getan wird. In der Schweiz können Sie darauf zählen, dass wir machen, was wir ankündigen. Und zwar relativ schnell und korrekt. Ich werde dem Parlament eine Vorlage unterbreiten, was es bis 2030 anzupacken gilt.

Das neue Parlament hat eine bürgerliche Mehrheit. Ihnen stehen harte Zeiten bevor.
In Paris hat US-Aussenminister John Kerry für das riesige Potenzial geworben, das in grünen Innovationen steckt. Manchen in der Schweiz ist noch zu wenig bewusst, dass sich da eine riesige Chance bietet. Die Welt verändert sich, ob man das mag oder nicht. Dekarbonisierung und Erneuerbare – diese Entwicklung ist nicht zu stoppen. Wenn wir das verschlafen, gehören wir auf lange Sicht zu den Verlierern.

Was unternehmen Sie, damit das nicht eintrifft?
Seit 2008 macht sich der Bundesrat stark für umweltfreundliche Technologien. Momentan mag der Ölpreis tief sein und kaum Anreize bieten, alternative Energiequellen zu forcieren. Wir wissen aber, dass sich das wieder ändern wird. Unsere Unternehmen haben sich bisher immer dadurch ausgezeichnet, Trends frühzeitig erkannt und auf Innovationen gesetzt zu haben. Paris hat die Stossrichtung aufgezeigt: Das Geld wird umgeschichtet von braun auf grün.

Der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat bisher wenig Verständnis für diese Stossrichtung gezeigt.
Das ist so. Ich verstehe, dass die Wirtschaft unter dem starken Franken leidet. Deshalb können wir aber nicht die nächsten fünf Jahre auf Reformen verzichten. Pharma- und Uhrenindustrie haben es vorgemacht: Wer Neues wagt, verschafft sich dadurch oft einen Vorsprung und kann höhere Preise verlangen. Dann ziehen die anderen nach, und man muss abermals besser werden.

Momentan prägen die Konflikte im Nahen Osten und die damit verbundenen Folgen die Debatte. Hat Klimapolitik überhaupt noch Platz in der politischen Agenda?
Wir haben ein Abkommen erreicht. Trotz der extrem schwierigen Fragen, die mit den grossen Migrationsströmen, den hohen Arbeitslosenquoten und schlechten Wachstumszahlen in vielen Ländern zusammenhängen. Das ist eine Riesenleistung. Die Einsicht ist da, dass wir so nicht mehr weitermachen können. Die Probleme liegen auf dem Tisch. Jetzt geht es darum, Verantwortung zu übernehmen.

Das letzte Wort haben aber die Parlamente – und die setzen oft andere Prioritäten.
Deshalb braucht es gute Argumente. Die ganze Welt werden wir nicht in zwei Jahren verändern. Es ist ein Prozess. Zudem gilt es, die Kosten des Nichtstuns vor Augen zu halten. Unseren Enkeln drohen Überschwemmungen und Dürren – und dafür aufkommen wird der Steuerzahler, wenn wir nicht Gegensteuer geben. Sich zurückzulehnen, ist also keine gute Lösung. Jetzt ist der richtige Moment dafür da, das Blatt zu wenden.

Ein Atomausstieg würde das Blatt definitiv wenden. Aber der scheint nach den Wahlen in noch weitere Ferne gerückt.
Die SVP ist dagegen, bei der FDP weiss man es nicht so recht. Mit diesen Parteien müssen wir in dieser Sache das Gespräch suchen. Aber was wäre denn die Alternative?

Sagen Sie es uns.
Weiter wie bisher? Kernkraftwerke (KKW) gehen früher oder später vom Netz. Ich habe zwar immer noch drei Gesuche für neue KKWs in der Schublade, doch das rechnet sich nicht mehr. Keiner der Stromriesen ist daran interessiert. Die Kosten für den Bau neuer KKWs sind zu hoch und das Abfallproblem ist auch nach 40 Jahren immer noch nicht gelöst.

Die Initiative «Grüne Wirtschaft» und der Gegenvorschlag sind im Parlament abgestürzt. Welche Hoffnung für griffige Massnahmen bleibt Ihnen?
Die Initiative geht zu weit. Im heutigen Umweltschutzgesetz aus den Achtzigern finden Sie das Wort Ressourceneffizienz aber nicht. Damals fokussierte man auf den Gewässerschutz und den Waldschutz. Heute haben wir ganz andere Herausforderungen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: mehr Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz. Die vorgeschlagene Änderung fand nun zwar keine Mehrheit. Das Problem ist aber nicht aus der Welt. Wir müssen einen anderen Ansatz finden.

Wie könnte ein solcher aussehen?
Wir müssen die Gespräche mit den verschiedenen Branchen suchen und sie von den Vorteilen überzeugen, freiwillig auf Ressourceneffizienz zu setzen. Vielleicht helfen auch Standards.

Am 9. Dezember wurden Sie mit 215 Stimmen wiedergewählt. Was bedeutet Ihnen dieses Glanzresultat?
Ich bin auf jeden Fall zunächst einmal dankbar, dass es so herausgekommen ist. Die Parteien wollten sich am Wahltag nicht wehtun. Das ist gut für den Bundesrat. Wir sind ein Gremium, das gemeinsam die Probleme des Landes angehen muss.

Sie gelten als schlagfertige Strahlefrau mit den zufriedensten MitarbeiterInnen – was machen Sie besser als andere Bundesräte?
Sehr viele Bundesratsgeschäfte betreffen das UVEK. Das ist viel Arbeit. Da ich nicht überall Expertin sein kann, bin ich darauf angewiesen, dass mein Team die wichtigsten Dossiers gut vorbereitet – dann diskutieren wir. Ich lege Wert darauf, dass alle mitdenken. Sie müssen mich auf kritische Punkte hinweisen und Lösungen miterarbeiten. Ich will gestalten, nicht nur verwalten.

Vor vier Jahren gab es noch eine weibliche Mehrheit im Bundesrat, heute sind die Frauen nur noch zu zweit. Was wird anders?
Es ist kein Geheimnis, dass wir Frauen uns gut verstanden haben – obwohl wir unterschiedliche Persönlichkeiten und politisch unterschiedlich verankert sind. Es gibt Erfahrungen, die man nur als Frau macht, das verbindet. Jetzt sind wir halt nur noch zwei Frauen, die dann und wann gemeinsam ein Cüpli trinken gehen. An dem wird sich nichts ändern.

Seit fast zehn Jahren sind Sie jetzt Bundesrätin. 2017 könnten Sie noch einmal Bundespräsidentin werden. Was wollen Sie noch erreichen?
Jetzt bin ich für vier Jahre wiedergewählt. Die Energiepolitik liegt mir am Herzen, diese möchte ich weiter vorantreiben. Beim Verkehr steht nach der Gotthardabstimmung mit dem Strassenfonds das nächste Grossprojekt auf dem Programm. Weitere Stichworte sind der Service public, die Digitalisierung, die Europafrage. Sie sehen: Die Arbeit geht mir nicht aus.

(Erschienen im Migros-Magazin, Januar 2016. Das Interview führten Anne-Sophie Keller und Peter Aeschlimann. Bild: Beat Schweizer)

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Get zen or die trying: Eine Woche im Yoga-Retreat

Für Reisende, die Fernweh mit Sinnsuche unter einen Hut bringen möchten, ist ein Yoga-Retreat perfekt. Das Gäste- und Seminarhaus Lykia in Adrasan in der Südtürkei bietet alles für eine Auszeit vom hektischen Alltag.

Dorett, Ingrid, Lisa und Steffi beim Yoga im Lykia (v.r.n.l.)

Nach drei Flugstunden geht das Abenteuer los: In einem Kleinbus rumpeln wir vom Flughafen Antalya direkt Richtung Paradies. Es ist 35 Grad, mit glühenden Gesichtern schauen wir aus dem Fenster. Der Motor surrt; ab und zu knistert ein PET-Wasserfläschchen. Sobald sich das grossstädtische Chaos Antalyas lichtet, erblicken wir das Meer; am Ufer reihen sich Campingplätze an Strandrestaurants. Wir passieren den Touristenort Kemer und fahren weiter dorthin, wo der Massentourismus noch nicht hingefunden hat: nach Adrasan.

Wir, das ist eine Ladung gestresster Grossstädter, die unter der türkischen Sonne Entspannung suchen. Die meisten Gäste kommen aus Deutschland, manche aus Österreich und in dieser Woche nur zwei aus der Schweiz: Michel Keller und ich, mit dem ich zwar den Nachnamen, aber nicht die Familie teile. Zwei Stunden später nimmt der vollbepackte Kleinbus das schmale Natursträsschen hoch zum Gäste- und Seminarhaus Lykia. Zwischen den Granatapfelbäumen, die hier so zahlreich wie Apfelbäume in der Ostschweiz wachsen und auch etwa so aussehen, sind 33 Bungalows versteckt. Mittendrin stehen das Haupthaus, ein grosser Pool mit glasklarem Wasser und eine Terrasse mit Meersicht. Hier kann das ja nicht so schwer sein, «zen» zu werden.

Am Strand von Adrasan

Aller Anfang ist schwer

Und dennoch bin ich skeptisch. Vor einigen Jahren habe ich regelmässig Power Yoga gemacht. Seither ist die Bezeichnung «bewegungsresistent» wohl passender für mich. Ganz allein bin ich damit nicht. Michel Keller (42) ist mit seiner Freundin Csilla (42) aus Zürich angereist. Der selbständig erwerbende LKW-Fahrer hat letzten Herbst nach einem Rückenvorfall zum Yoga gefunden. «Das hat mir enorm geholfen. Csilla zeigte mir dann einen Prospekt des ‹Lykia›, und ich war sofort begeistert. Die Ferien mal anders verbringen, ein neues Land entdecken und Ausflüge machen schien mir interessant.» Mir scheint vor allem die Vorstellung von zwei Stunden Yoga pro Tag «interessant». Denn die finden noch vor dem Frühstück statt. Inwiefern mich das frühe Aufstehen entspannen soll, ist mir schleierhaft.

Glücklicherweise sind die Yogastunden diese Woche in zwei Klassen unterteilt. Anfänger und solche, die es etwas gemächlicher mögen, besuchen das Yoga Soft von Nina. Wer es etwas dynamischer mag, ist bei Jana gut aufgehoben. In ihrem Kurs wechseln sich Entspannungs- mit Dehnungssequenzen ab. Bei keinem der Kurse muss man besonders flexibel oder gelenkig sein. «Es geht um Achtsamkeit. Jeder kann Yoga praktizieren», sagt Nina. Positive Auswirkungen gibt es viele: Yoga hilft bei Rückenbeschwerden, stärkt die Muskeln, sorgt für einen ruhigen Schlaf, kurbelt die Verdauung an und verbessert die Konzentration.

So esoterisch, wie ich mir das vorgestellt habe, ist das also gar nicht. Auf die abendlichen Meditationsstunden bin ich gespannt. Bei der Tanzmeditation stehe ich zuerst etwas ratlos im Raum, während meine Co-Yogis mit geschlossenen Augen trance-artig ihren Bewegungen nachgehen. Nach einer halben Stunde steige auch ich ein.

Wasser und Feuer

Die Woche im «Lykia» heisst nicht umsonst «aktive Auszeit». Während der sieben Tage können zahlreiche Ausflüge separat gebucht werden. Besonders beliebt ist der in die antike Stadt Olympos. Ein Besuch in Adrasan empfiehlt sich ebenso: Die Bevölkerung ist aufgeschlossen, gastfreundlich und unabhängig vom ausländischen Tourismus – am Strand trifft man hauptsächlich einheimische Touristen. Die Region hat sich seit Langem dem Naturschutz verschrieben. Lilien, Oleander, Orangen, Maulbeeren, Granatäpfel und Feigen verströmen ihren lieblichen Duft, je nach Saison.

Während der zwei Bootstouren, die wöchentlich stattfinden, geht es die Küste entlang hinaus ins Blaue. Beim ersten Zwischenstopp schwimmt man mit Führer Ilhan in eine Höhle hinein, die am hinteren Ende stockdunkel ist. An einem anderen Stopp können sich die Besucher mit einem mineralhaltigen Schlamm einreiben und danach mit seidiger Haut wieder ins Boot klettern. Zwischendurch serviert der Kapitän Fisch, direkt aus dem Meer.

Mitte der Woche melde ich mich für die Stillewanderung an, bei der es im Dunkeln losgeht. Auf einem schmalen Ziegenpfad marschiert unsere Gruppe an würzig duftenden Sträuchern und steilen Klippen vorbei dem Gipfel entgegen – ich tschumple gähnend hinterher. Der Sonnenaufgang macht jedoch alles wett. So langsam freunde ich mich mit dem Konzept der Aktivferien an.

Am nächsten Tag fahre ich mit einer Gruppe nach Çıralı. Am Rand des Dorfs führt ein steiler Weg hoch zu den ewigen Feuern der Chimära. Seit Jahrtausenden brennen dort auf den Hügeln Gase, die aus Felsrissen austreten. Überlieferungen zufolge sollen die Flammen in der Antike Seefahrern bei der Orientierung geholfen haben. In Zweierreihen und mit je einer Taschenlampe ausgestattet, stolpern wir in der Dunkelheit hinunter zum Meer. Schweissgebadet springen wir im Sternenlicht in die schwarzen Fluten, bevor wir den Tag im Restaurant Ikiz bei gutem Essen und einer Runde Raki beenden.

Die Menschen im «Lykia»

Verantwortlich für die gelungene Kombination aus türkischer Gastfreundschaft und deutscher Organisation ist das Betreiberpaar Nina Meissner (40) und Ismail Güngör (34). Güngör, dessen Mutter aus Adrasan stammt, hat einige Jahre in München gelebt und spricht Deutsch. 2007 eröffnete er das «Lykia» – damals noch als einziger Anbieter von Yogaferien in der Umgebung. «Die Lage hier bietet so viel mehr als Badeurlaub. Ich habe schon einige Jahre Yoga gemacht. Schliesslich wurde das auch der Schwerpunkt des Gäste- und Seminarhauses», sagt er. Heute bieten in der Gegend auch andere Betreiber Yogaferien an. Nina Meissner reiste 2010 als Gast nach Adrasan und verliebte sich nicht nur in den Ort, sondern auch in Ismail. Im Februar 2011 kündigte sie ihren Job und zog aus dem Ruhrgebiet unter die Sonne von Adrasan. Seither leitet das Paar das «Lykia».

Im Haus kümmern sich 15 türkische und zwei deutsche Mitarbeiter elf Monate im Jahr um die Gäste. Das Essen ist reichhaltig, auf Wunsch glutenfrei und vegetarisch. Erst am letzten Abend kommt ein Stück Fleisch auf den Grill. Morgens gibt es vegane Pancakes, würzige Gemüse-Omelettes oder süssen Milchreis aus Ziegenmilch.

Das Fazit nach einer Woche

In Erinnerung bleiben die Yogastunden, in denen man enorm mit sich selber konfrontiert wird. Beim einen oder anderen Gast kommen noch während der Stunden Emotionen hoch – auch bei mir. Natürlich liegt das an der schönen Umgebung. Natürlich liegt das auch an den Gesprächen mit anderen Reisenden. Natürlich liegt das auch an der Pause von der Aussenwelt – Wi-Fi sucht man in den Bungalows vergeblich. Doch ich glaube mittlerweile an die Wirkung von Yoga. Meinem Landsmann Michel gehts ähnlich: «Nach einer Woche sehe ich vieles gelassener und mit anderen Augen. Und ich bin offener geworden. Yoga ist keineswegs bloss ein Frauending. Mann muss das einfach ausprobieren.»

Der Philosoph Ralph Waldo Emerson sagte einst: «Nicht in die Ferne, sondern in die Tiefe sollst du reisen.» Sie wollen beides? Dann ab in die Yogaferien.

(Erschienen im Migros-Magazin, Januar 2016. Bilder: Lea Meienberg)

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Nichtberichterstattung

Es ist Montagabend, der 11. Januar 2016. Für mich Halbzeit im Flüchtlingscamp Preševo. Da ich mittlerweile von einigen Menschen und Medien angefragt wurde, warum ich nichts darüber schreibe, hier der Versuch einer Antwort.

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Es gäbe viel, worüber ich schreiben könnte. Die Würde des Menschen, deren Unantastbarkeit hier bei jeder Begegnung ersichtlich wird. Das Kind, das gestern Nacht gestorben ist. Die guten Momente mit dem Team, die zumindest für mich entscheidend sind. Die Gegend hier in Serbien, deren Rauheit mich fasziniert. Meine bis jetzt unbegründete, vielleicht gesunde, vielleicht auch egoistische Angst vor dem Verlust meiner seelischen Unversehrtheit. Die surreale Zeltlandschaft des UNHCR. Der Christbaum am Eingang.

Grundsätzlich bin ich aber nicht als Journalistin hier sondern als Mensch, der sich als Teil einer Gesellschaft und als Teil sozialer Gefüge versteht, von denen ich einerseits profitiere und denen ich andererseits etwas zurückgeben kann.

Und natürlich geht es auch um Weltschmerz und all die anderen grossen Fragen.

Ein Zwischenfazit? Wir betreiben hier Symptombekämpfung einer nicht funktionierenden internationalen Gesellschaft. Das ist ernüchternd.

Auf der anderen Seite gibt es keinen besseren Ort, um vielleicht auch sich selbst zu beweisen, dass man als einzelner Mensch unglaublich viel bewirken kann. Beispielsweise einem anderen Menschen Aufmerksamkeit schenken. Ihm eine bessere Jacke geben – in der Hoffnung, dass er diesen Winter vielleicht nicht auch noch erfriert.

Und darum bin ich hier.

(Bild Preševo im Morgennebel: Anne-Sophie Keller)

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