Heimat

Was ist Heimat? Ein Essay über einen umstrittenen Begriff.

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Heimat ist ein strapazierter Begriff in Zeiten von aggressivem SVP-Wahlkampf und hingenommener Flüchtlingskrise. Heimat in der Schweiz, das sind saubere Strassen, Berge wie aus dem Bilderbuch, klare Seen und funktionierende, politische Strukturen. Heimat, das sind Tell und Heidi.

Heimat, das ist Nationalstolz. Auf ein 20. Jahrhundert ohne Krieg. Auf die Réduits und die beste Armee der Welt. Auf Frankenstärke, Wirtschaftswachstum und tiefe Arbeitslosenquote. Auf Jodelgesang, Sackmesser, Edelweisshemden. Auf das CERN, die ETH, die SBB.

Heimat ist mein schlechtes Gewissen. Weil ich eine dieser Gewinnerinnen bin. Weil ich bis auf das fehlende Y-Chromosom jeden Lottosechser gezogen habe, der ein Mensch auf dieser Welt nur ziehen kann. Als weisses Mädchen in der Schweiz. Gebildet, mit Lehrereltern, heterosexuell, gesund, krankenversichert und emanzipiert. Und der Erkenntnis, nichts davon verdient zu haben.

Heimat ist meine Melancholie. Eine Kindheit im Berner Oberland. Ein Quartier voller Kinder, Katzen, Kreidemalereien und Kirschbäumen. Ein Universum, das bis zum Ende der Strasse ging, weil weiter schon eine Welt anfing, die noch heute eigentlich zu gross ist. Riesige Sandkästen. Kaulquappen in Gonfigläsern. Mutproben auf gefrorenen Weihern. Margritli-Kränze und grüne Grasflecken. Weisse Weihnachten. Weite Horizonte.

Heimat ist mein Heimweh. Unterwegs sein und sich fehl am Platz fühlen. Sich furchtlos der Fremde und den Fremden hingeben und in alldem Geborgenheit suchen. Auf Reisen Leitungswasser trinken, das nach Chlor schmeckt. Von der Kraft des Meeres überwältigt werden und sich nach der Aare sehnen, die nach Steinen riecht. Ein Anruf der Mutter. Wie gehts dir, Tochter?

Es geht mir gut. Weil das meine Heimat ist.

Heimat ist: der Niesen

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1 Kommentar

  1. Und wenn die Eltern tot, die persönlichen Perspektiven nur noch blassrosa, die Wiesen bloss dank zu viel Gülle so grün sind, wenn die Wirtschaft kriselt, wenn SVP gewählt wird – dann ist Heimat der Nachklang von Kindheitsmärchen, Naturduft, Openairs, Bücherlesen, Neugier auf die Welt, nächtlichen Diskussionen, dieser Nachklang in meinem Herzen. Den ich jederzeit hervor holen kann. Den ich in alle Länder trage und dort Menschen treffe, die auch einen in ihren Herzen tragen. Dann lassen wir sie zusammen klingen und sind einander Heimat.

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